Julius Rodenberg
Die Grandidiers
Julius Rodenberg

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Herr Grandidier versöhnt sich mit dem Oberst, und dieser dankt ab

Wie ganz anders sah Berlin im September 1870 aus, als es in den bewegten Juliwochen ausgesehen hatte! Es war still geworden in Berlin. Herr Grandidier sah viele Frauen in Schwarz, mehr als jemals zuvor in seinem Leben; er sah die ersten Verwundeten, er sah die ersten Kriegsgefangenen. Er sah auf den Dächern der Häuser hohe Stangen, die jetzt kahl in den Himmel ragten; aber wie oft in den letzten sechs Wochen hatten die Fahnen des Sieges daran gerauscht! Herr Grandidier indes schritt rasch seines Weges dahin, Straße nach Straße, bis er vor dem kleinen Hause in der Krausenstraße der Kirche gegenüber stand. Da machte er Halt.

Das Haus hatte sich für jemand, der es früher gekannt, auffallend verändert. Es sah viel freundlicher aus. Irgendein ehemaliger Besucher würde auch umsonst die verrostete Klingel gesucht haben; sie hatte sich in einen blanken Metallknopf verwandelt. Doch bevor Herr Grandidier diesen entdeckt oder sich desselben bedient hatte, ließ sich von oben eine Stimme vernehmen, welche sich nicht verändert, was sonst auch mit dem Hause vorgegangen sein mochte.

»Wer da?« rief es mit dem Tone einer Feldwache herab, und als Herr Grandidier hinaufblickte, sah er den Obersten, wie er hemdärmelig im Fenster lag und sich von der warmen Septembersonne bescheinen ließ. Er hatte die Spitze einer langen Pfeife im Mund und blies die Rauchwolken vor sich hin. Aber trotz dieser friedlichen und friedeverheißenden Beschäftigung blieb die Stimme des Obersten dieselbe, als er fortfuhr: »Wir befinden uns im Kriege, und bevor Sie eintreten, muß ich wissen, wie Sie kommen, ob als Freund oder als Feind.«

»Als Freund,« erwiderte Herr Grandidier, »und ich hoffe, als solcher darf ich hier eintreten.«

Der Oberst selbst öffnete ihm die Türe. »Ich bin es nicht, der jemals seine alten Freunde verleugnet hat; und selbst diejenigen, die mich verleugnet, sollen mir willkommen sein, wenn sie sich eines Besseren besonnen haben.« Mit diesen Worten reichte er Herrn Grandidier die Hand und 381 führte ihn alsdann die hölzerne Treppe hinan, die noch so schmal, wie sie immer gewesen, aber mit einem anständigen Teppich bedeckt war.

»Haben Sie Dank,« sagte Herr Grandidier gerührt, »daß Sie mich so gut aufgenommen. Ich hatte kein Recht, in Ihnen noch einen Freund zu erwarten!«

»Mein lieber Herr Grandidier,« versetzte der Oberst, »Sie haben nur einen einzigen Feind gehabt, und der waren Sie selber; wenn Sie mit dem fertig geworden sind, so wird sich das übrige schon finden.«

»In der Tat, ich habe diesen Weg zu Ihnen als den ersten Schritt auf dem Wege zu meinem Sohne betrachtet . . .«

»Ich weiß,« unterbrach ihn der Oberst, »Eduard ist verwundet worden. Wenn es diese Nachricht war, die Sie zu mir geführt hat, so darf ich Sie wohl beglückwünschen, denn seine Verwundung ist nicht lebensgefährlich.«

»Gott sei Dank, nein,« erwiderte Herr Grandidier; »aber doch ängstigt mich eine Vorstellung.«

»Und was denn weiter? Man kann auch mit einem gelähmten Arme glücklich leben, ein hübsches Weib freien, gute Kinder erziehen und noch obendrein stolz sein, dem Vaterlande ein Opfer gebracht zu haben.«

»So wissen auch Sie nicht mehr?«

»Nicht mehr, als was die Zeitung darüber gebracht hat.« Er reichte Herrn Grandidier das Blatt, in welchem der nächtliche Kampf auf dem St. Helenenkirchhof vor Straßburg geschildert, die Toten genannt und unter den Verwundeten Eduard Grandidier rühmlich hervorgehoben worden war.

Der Vater schwieg. Dann, nach einer Pause, begann er: »Ich möchte zu meinem Sohn und bin gekommen, Sie um Rat zu fragen. Sie sind schon mehrfach auf dem Kriegsschauplatz gewesen und können mir vielleicht sagen, wie ich am schnellsten dorthin gelange.«

»Bravo!« rief der Oberst, »das nenn' ich eine Fügung. Der Berliner Hilfsverein sendet einen Transport an die Belagerungstruppen vor Straßburg, bei welchen ja so manches Berliner Kind steht. Ihre beiden Herren Schwiegersöhne haben sich ganz besonders verdient gemacht um das Zustandekommen dieser Sendung. Der eine, der Herr Kanzleirat, ist in Erfrischungsmitteln und warmen Kleidungsstücken ganz aufgegangen, er lebt nur noch in den Magazinen; und Ihr 382 anderer Schwiegersohn, Herr Süchier, hat uns eine ganze Last wollener Decken seines eigenen Fabrikats zur Verfügung gestellt, und ich zweifle nicht, daß aus diesen Gründen der Vorstand des Vereins gern bereit sein wird, Ihnen die Mitfahrt zu bewilligen. Machen Sie sich darum nur reisefertig, in wenigen Tagen wird der Zug von hier abgehen und wenn Sie wollen, so tun wir gleich die einleitenden Schritte.«

»Ich nehme, was Sie mir bieten, dankbar an, obwohl ich mir sagen muß, daß ich es nicht um Sie verdient habe . . .«

»Stille doch, stille davon,« fiel ihm der Oberst in die Rede. »Lassen Sie das Vergangene vergangen, vergessen und begraben sein. Nichts mehr steht zwischen heut und jenem Nachmittage, wo Sie mich so freundlich und vertrauensvoll empfingen. Sie sind wieder der alte Grandidier.«

»Und Sie wieder der alte Oberst,« sagte Herr Grandidier, in welchem plötzlich das Bild jenes Nachmittags aufdämmerte: der Oberst, der Major, der Leutnant und der Korporal.

Der Oberst aber sagte: »Nein! Mit meinen militärischen Ehren hat es nun ein Ende. Der Haushalt ist aufgelöst. Mein Bursch ist zum Train einberufen worden, mein Pferd zieht den Marketenderkarren, mit welchem die Brandtschen Eheleute der Armee folgen, mein Hündlein ist mir – ich weiß nicht mit welchem Schelme – davongelaufen und ich, Herr Grandidier, ich bin wieder ein Mensch wie jeder andere.« Er sagte das mit einem leisen Anfluge mehr von Wehmut als Ironie, wie wenn er dennoch die Tage bedaure, welche ihn in seiner Herrlichkeit gesehen hatten. »Aber,« fuhr er fort, »ich bin nicht allein degradiert; ein anderer, welchem es schwerer geworden, teilt mein Schicksal, und Furcht und Dankbarkeit sind die Gefühle, die hier abwechselnd über mich wachen.«

»Ich habe Sie nicht vollkommen verstanden,« sagte Herr Grandidier. »Sie müssen mich entschuldigen; ich habe solange wie ein Einsiedler außerhalb der Welt gelebt.«

»So wissen Sie nicht, daß Sie sich hier unter dem Dache des Herrn Bestvater befinden?«

»Bestvater!« wiederholte Herr Grandidier, und die Erinnerung an die trübste Zeit seines Lebens ging wie ein Schatten an ihm vorüber.

»Wir haben ihn verheiratet,« sagte der Referendarius a. D., welcher nun auch ein Oberst a. D. war. »Aber es hat 383 Mühe gekostet,« fügte er hinzu. »Denken Sie sich, daß er beim Ausbruch des Krieges gleichfalls mobil machte und um ein kleines uns wirklich in aller Heimlichkeit und Stille ausgerückt wäre. Besser in den Krieg, mag er sich wohl gedacht haben, als in die Ehe. Aber ich habe ihn auf dem Anhalter Bahnhof gerade noch zur rechten Zeit erwischt, als er eben in einen nach dem Kriegsschauplatz abgehenden Militärzug einsteigen wollte. Was er dort beabsichtigte, mag Gott wissen. Aber er hatte hohe Wasserstiefel an und machte ein sehr betrübtes Gesicht. Das einzige, was ihm von seiner verunglückten Expedition verblieben, sind die hohen Wasserstiefel, die er unausgesetzt trägt, bei Regenwetter und Sonnenschein, in und außer dem Hause, bei Tag und ich glaube auch bei Nacht. Denn der Mensch muß etwas haben, woran sein Selbstgefühl sich halten kann; und er hat die hohen Stiefel.«

Die beiden Männer stiegen die Treppe hinunter, Herr Grandidier immer in einer Angst, daß der weiland Professor in den hohen Wasserstiefeln ihm begegnen könne. Doch die Gefahr ging glücklich vorüber, und unbehindert kamen sie vor das Haus. Der kleine Laden, in welchem sonst der junge Meister Messing gehämmert und gesungen, war nun mit Hauben, Bändern und Blumen geschmückt; und darüber saß ein Schild mit der Inschrift in Goldbuchstaben: »Aurelia Bestvater, geb. Huncks, Putz und Modewarenhandlung.«

Nicht weit davon, näher an der Haustüre, befand sich ein zweites Schild, bescheidener und kleiner, mit der Inschrift: »Wilhelm Bestvater, Mustermaler.«

»Das ist mein Werk!« sagte mit einer Miene des Triumphes Fritz Scharf, welchen wir auf seinen ausdrücklichen Wunsch und Befehl künftig nie mehr den Obersten nennen werden. »Da sitzt er nun in seinen Wasserstiefeln, malt Muster und schneidet Modelle aus. Aurelia ist auf dem besten Wege, ihn zu einem nützlichen Mitgliede der menschlichen Gesellschaft zu machen. Die Hand Aureliens und mehr noch ihr Pantoffel ruht schwer auf ihm, wie geschrieben steht: ›Über Edom strecke ich meinen Schuh aus.‹ Der Schuh Aureliens aber hat ihn demütig und klein und mager gemacht, so daß er ausrufet mit Hiob: ›Herr, meine Gestalt ist dunkel worden!‹«

»Ich bewundere Ihre Bibelfestigkeit und Ihren Humor,« sagte Herr Grandidier.

384 »Ja, ja, diese beiden, der Humor und die Bibel, haben mir schon über manchen bösen Tag hinweggeholfen. Aber ich hoffe, gute Tage werden wiederkommen. Tage der Eintracht für mein Volk, Tage der Befriedigung und Aussöhnung für jeden einzelnen, der sich in Unmut oder Zweifel abgewandt hatte. Die Begeisterung, welche jetzt alle durchdringt, kann nicht ewig dauern; aber wir haben doch einmal gefühlt, wie einem zumute ist, wenn der einzelne vollkommen aufgeht im ganzen.«

Herr Grandidier drückte die Hand des wiedergewonnenen Freundes. »Mir ist, als ob ich jetzt schon vor meinem Sohne stände,« sagte er. »Dem furchtbaren Ernst der Entscheidung gegenüber schwindet jede Spur von Selbstüberhebung, von falschem Stolz, von Dünkel und eitlem Schein; und möge Gott in Zukunft jeden einzelnen und uns alle vor der Wiederkehr dieser schlimmen Fehler behüten. Denn ich habe gesehen, welches Unheil sie anrichten und wie schwer es ist, sich von ihnen zu befreien.«

Sie waren mittlerweile zu einem großen öffentlichen Gebäude in der Lindenstraße gelangt, über dessen Eingangstür, zwischen preußischen und deutschen Fahnen, eine große weiße mit dem roten Kreuz herabhing. In diesem Hause war der Sitz des Zentralkomitees, und es dauerte nicht lange, so hatte Herr Grandidier die Erlaubnis, sich dem in wenigen Tagen nach dem Elsaß abgehenden Transport anschließen zu dürfen.

Indem sie wieder heraustraten, blieb Herr Grandidier stehen. »Wissen Sie,« redete er seinen Begleiter an, »welcher Gedanke mir eben schwer aufs Herz fällt? Daß das Glück, ja schon der mindeste Strahl des Glückes selbstsüchtig macht! So sehr, daß ich des Mannes vergessen konnte, der alles Leid treulich mit mir geteilt hat und nun unglücklicher ist als ich selber. Sie kennen das Schicksal Glöcklins?«

»Nur zu gut,« versetzte Fritz Scharf, »ich sah ihn wenige Tage nach dem Verschwinden seiner Tochter. Ich gab mir damals alle Mühe, den Weg, welchen sie genommen, oder den Aufenthalt, welchen sie gewählt haben möchte, zu erforschen; aber es war vergeblich. Nach den Äußerungen, welche man von ihr zuletzt vernommen, muß sie sich nach Frankreich gewendet haben. Sie muß mitten in den ausbrechenden Krieg geraten sein und wer weiß, ob das blutige 385 Getümmel desselben sie nebst dem Knaben nicht längst schon verschlungen hat. Nichts, was auch nur entfernt auf sie hätte hindeuten können, habe ich während meiner wiederholten Besuche auf dem Kriegsschauplatz in Erfahrung bringen können. Und wie trägt es Glöcklin?«

»Er ist still und spricht nicht davon; denn, mein lieber Herr Scharf, was ein Vater fühlt, der sein Kind verloren hat, wer könnte das auch aussprechen?« Er schwieg eine Weile, dann fuhr er fort: »Aber kommen Sie; wir sind hier nicht mehr weit von meiner Fabrik, und ich bin sicher, daß wir ihn dort treffen werden.«

Zum erstenmal wieder betrat jetzt Herr Grandidier seine Fabrik. Sie arbeitete augenblicklich nur mit halber Kraft; aber dennoch schlug ihm das Herz höher, als er die ehemalige Stätte seiner Tätigkeit wiedersah.

Er kam sich jünger und kräftiger vor, eine Art langentbehrten Heimatgefühls bemächtigte sich seiner; die alten Ideale lebten neu auf, die Tage, wo der Glanz der Firma »George Grandidier« ihm über alles gegangen war. Als sie die Türe des Zimmers erreicht, in welchem Glöcklin sein Bureau hatte, blieb er stehen. »Der ist auch wie ein Soldat,« sagte er, »mit wundem Herzen hält er aus auf seinem Posten und tut seine Pflicht.«

 


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