Julius Rodenberg
Die Grandidiers
Julius Rodenberg

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Der Oberst und seine Mannschaften treten an

Scheinbar war alles beim alten geblieben, und doch hatte sich vieles verändert. Jeder tat sein Tagewerk und niemand hatte Freude daran. Herr Grandidier nicht, Frau Grandidier nicht, Eduard Grandidier nicht. Der alte Knüppel, der Bediente, der früher Hausknecht gewesen war, ein Inventarstück des Hauses seit jenen Zeiten, wo alles noch klein und bescheiden darin herging, sah oft mit stiller Wehmut die Jacke an, welche er neuerdings mit der Livree vertauscht hatte. Er haßte die Livree, er befand sich immer in einem heimlichen oder offenen Streit mit derselben, namentlich mit den Ärmeln, die ihm zu lang oder zu kurz waren. »Se paßt enmal nich für mich und ick passe nich für ihr,« pflegte er zu sagen, wenn der ehemalige Rollkutscher Schnellpfeffer, der sich rascher in seinen Mantelkragen (für den Sommer) und Pelz (für den Winter) gefunden, sich lustig über ihn machte. »Du kannst et mir nu jloben oder nich, Schnellpfeffer, wir sin enmal nich voreenander jemacht.«

»Na,« sagte Schnellpfeffer, der jetzt das beste Leben im ganzen Hause führte, weil niemand spazieren fuhr und jeder Respekt vor ihm hatte, »du wirst dir wohl daran jewöhnen müssen.« Und dabei blies er dicke Dampfwolken aus seiner kurzen Pfeife, auf deren Porzellankopf, von einer zweiten, aber gemalten Tabakswolke umgeben, zwei Hände fest ineinander ruhten, mit der Umschrift: »Freunde in der Not gehn zehne auf ein Lot.« Von der Wahrheit dieses Sinnspruchs tief durchdrungen, hatte sich Schnellpfeffer vorläufig das Teil erwählt, welches treue Freundschaft noch nie verraten – er war sich selbst der beste Freund, pflegte sich, ließ sich pflegen von Friederike, der Köchin – denn gegen 50 Freundinnen war er nicht halb so mißtrauisch als gegen Freunde –, ging den ganzen Tag müßig, mit Ausnahme der Stunden, wo er in roter Weste und Waschledernen vor dem Stalle stand, besagtes Pfeifchen rauchte und, wenn es zu Ende war, aufs neue stopfte, indem er dazu sang: »Was frag' ich viel nach Geld und Gut, wenn ich zufrieden bin!« Er war die eigentliche Standesperson des Hauses Grandidier, der wahre »Gentleman« desselben, und Herr Grandidier behandelte ihn demgemäß mit einer gewissen Deferenz, einer Art von Schüchternheit oder Vorsicht, um ihn ja nicht böse zu machen und sich keine Blöße zu geben. Denn von den Pferden verstand er nicht viel, obgleich sie die Gegenstände seines Stolzes waren. »Du wirst dir wohl daran jewöhnen müssen,« sagte daher Schnellpfeffer, indem er im Gefühl seiner Würde mächtig dampfte. »Der Mensch kann sich an allens jewöhnen,« setzte er hinzu, sich behaglich hintüber an den Pfosten der Stalltür streckend, als ob es ihm die größte Mühe gekostet habe, sich an das Nichtstun, die kurzen Pfeifen und übrigen Annehmlichkeiten seines Berufs zu gewöhnen.

»Wie Jott et will,« erwiderte Knüppel, indem er rasch in seine Livree fuhr, an der er bis jetzt gebürstet hatte. »Na ja, na ja,« rief er; von oben wurde nämlich geschellt, sehr laut und heftig, noch lauter und heftiger als gewöhnlich. Denn vor Knüppel hatte Herr Grandidier gar keinen Respekt.

Die Ursache des Lärmens war folgende.

Es war über die Fischerbrücke ein Reiter gekommen. Der Anblick eines Reiters hat im allgemeinen nichts Alarmierendes, obwohl er in der Gegend von Neu-Kölln am Wasser auch nicht gerade etwas Alltägliches ist. Denn was dieser Teil von Berlin auch sonst sein mag, anziehend für die fashionable Welt ist er gerade nicht. Aber fashionable war auch der Reiter nicht. Sein Pferd war ein hochbeiniger, magerer, hagerer Klepper, von einem so harten Tritt, daß die Planken der Brücke ordentlich hohl davon widerklangen. Er mochte wohl ursprünglich von brauner Farbe gewesen sein, aber er schien sich den Tagen zu nahen, von denen Menschen und Tiere sagen: »Sie gefallen mir nicht,« und sein Haar, namentlich die Büschel über den Augen, hatten daher einen Schimmer von Grau. Dabei hatte das Roß etwas Steifes in seiner Gangart, was entweder von seinem früheren Beruf oder von seinem Alter, oder von beidem zusammen herrührte. Es war nämlich ein 51 ausrangiertes Militärpferd. Aber hochbetagt wie es war, so war ihm doch, nachdem es dem Vaterlande rühmlich gedient, keine frohe Ruhezeit beschieden. Es schien nicht im Überfluß zu schwelgen. Seine Knochen standen überall heraus, man konnte seine Rippen zählen, es zitterte beständig über den ganzen Körper und spitzte bei dem geringsten, manchmal auch bei gar keinem Anlaß die Ohren.

Aber merkwürdig wie das Roß auch sein mochte, der Reiter war noch viel merkwürdiger. Er trug einen Hut von so schäbigem Ansehen und so altmodischer Fasson, daß Herr Grandidier, der am Fenster stand, sich unwillkürlich davon angezogen fühlte und dem Reiter mit den Blicken folgte, indem dieser langsam über die Brücke daher kam. Er war in seiner Art so steif wie das Roß, das er ritt, und sein Oberkörper rührte sich nicht; aber bei jedem Schritt, den sein edles Tier langsam und bedächtig machte, nickte er langsam und bedächtig mit dem Kopfe, wobei der Hut, der ihm, außer allen seinen anderen Eigenschaften, auch zu eng war, gleichfalls nickte. In geringer Entfernung hinter ihm her ging ein Mann, der seinem ganzen Äußeren nach notwendig zu dem Roß und Reiter gehören mußte: denn er schritt daher mit derselben Grandezza wie das erstere und trug einen Hut, nur noch um einen Grad schäbiger und altmodischer wie der andere. An seiner Seite lief ein Hündchen, ein graues, halbverhungertes, zottiges Tier, welches den Aufzug beschloß, in jeder Hinsicht der dreie würdig, deren Nachtrab es bildete. So bewegten sie sich vorwärts; aber wer beschreibt das Erstaunen des Herrn Grandidier, als sie direkt auf sein Haus zuhielten und, als sie dasselbe erreicht, alle Vier in den gemessenen Entfernungen, in welchen sie gekommen waren, still standen!

Ein Haufen von Gaffern hatte sich bereits um sie versammelt, was übrigens den Reiter nicht im mindesten genierte. Nachdem er sein Roß angehalten hatte, sah er zuerst nach der Nummer des Hauses, dann griff er mit einer pathetischen Handbewegung in die Brusttasche, zog ein Blatt Papier heraus, las, was darauf stand, und rief hierauf mit lauter Stimme: »Wohnt hier Herr Grandidier – Herr George Grandidier zu Neu-Kölln am Wasser in Berlin?«

»Um Gottes willen,« sagte Herr Grandidier, der am offenen Fenster stand – denn die Luft war milde, es war an einem Nachmittag im Vorfrühling; »wir bekommen 52 Besuch!« Und da war's, daß er die Schelle so mächtig rührte, welche Knüppel in seiner Unterhaltung mit Schnellpfeffer unterbrochen hatte. Doch ehe dieser noch erschienen, war der Reiter schon von seinem Roß herabgestiegen – wobei er Arme und Beine stets in einem rechten Winkel voneinander hielt – hatte den Zügel in einem Ring befestigt, der an der Haustüre hing, und war dann steif und aufrecht in den Flur getreten, wo Knüppel in der Livree stand, um sich nach seinem Begehr zu erkundigen.

»Melden Sie den Oberst,« rief er diesem, als er ihn fragend ansah, mit einem barschen Kommandoton zu.

»Welchen Oberst?« forschte Knüppel ordnungsmäßig weiter.

»Was geht Ihn das an?« fuhr der kurz angebundene Gast ihn an. »Elende Bedientenseele,« knurrte er und versuchte dabei, den alten Knüppel zur Seite zu schieben.

Aber dieser stand seinen Mann, und es wäre nicht abzusehen gewesen, was daraus geworden, wenn nicht zum Glück Herr Grandidier selber oben an der Treppe zum Vorschein gekommen.

Mit klirrenden Sporen, die Reitpeitsche in der Hand und den engen Hut auf dem vorderen Teil seines Kopfes, setzte der seltsame Besucher seinen Weg fort, stolperte die teppichbelegten Stufen hinan, an Herrn Grandidier vorbei und trat dann in das Wohnzimmer, dessen Türe noch offen stand. Hier angekommen, begab er sich sogleich ans Fenster, öffnete dasselbe und blickte, ohne sich um Herrn Grandidier weiter zu bekümmern, nach der Straße hinab, wo der müßige Haufen das Pferd, den Mann und den Hund noch umringte.

»Major!« rief er hinunter.

»Hier, Herr Oberst, zu Befehl,« versetzte der Mann, der außer dem alten Hut noch einen alten Reitfrack trug, demjenigen seines Herrn ähnlich, nur um eine Generation älter.

»Halte mir den Leutnant fest und paß auf, daß der Korporal nicht wegläuft,« fuhr der Oberst fort.

»Zu Befehl!« rief der Major im Reitfrack, worauf der Oberst das Fenster wieder schloß.

»Mon Dieu!« dachte Herr Grandidier, der inzwischen wieder ins Zimmer getreten war – »da rückt mir ja ein ganzes Bataillon ins Haus – Oberst, Major, Leutnant und Korporal!«

53 Aber einstweilen hatte er nur das Vergnügen, sich dem Oberst allein gegenüber zu sehen. Dieser, nachdem er in die Mitte der Stube zurückgekehrt war, nahm seinen Hut ab, legte die Reitpeitsche auf einen Stuhl und zog die Handschuhe aus, welche – was auch sonst die Beschaffenheit seiner Toilette sein mochte – vom feinsten Pariser Glacé waren. Denn auf seine Hand, seine Handschuhe und reine Wäsche hielt der Oberst.

»Herr Grandidier?« fragte er, indem er eine Art von militärischen Honneurs machte, aber mit einer Miene, als ob er hier Herr im Hause sei und nicht jener.

Herr Grandidier erwiderte mit einer stummen Verbeugung und fand erst jetzt Gelegenheit, seinen seltsamen Gast sich näher anzusehen. Er war ein Mann in den mittleren Jahren mit einem struppigen Schnurrbart, einer roten Nase, den Kopf nach hinten, die Brust nach vorne und stets auftretend, als ob er nach einer für andere Menschen unhörbaren Blechmusik marschiere. Er trug einen olivengrünen Reitfrack mit absonderlich kurzen Schößen, eine Weste von braunem Plüsch, Vatermörder von ungewöhnlicher Höhe und eine schwarze Krawatte von ungewöhnlicher Breite, hinten zugeknöpft, und zwar so, daß man den kleinen weißen Knopf immer sah. Sein Linnen, Manschetten und Vorderhemd, standen in einem auffallenden Gegensatz zu dem übrigen Anzug: sie waren nämlich von der besten Qualität und untadeliger Frische, wie wenn sie zugleich einen Gegensatz zwischen dem äußeren und inneren Menschen, zum Vorteil des letzteren, andeuten wollten. Aber sie waren so steif gestärkt, daß er darin ging wie in einem Panzer; und alles zusammen saß so prall an ihm, daß es eine Kunst sein mußte, sich darin zu bewegen, selbst mit den gemessenen Bewegungen, die diesem seltsamen Gast eigentümlich waren.

»Also,« sagte Herr Grandidier nach einer Pause, »mit wem habe ich die Ehre?«

»Ich bin der Oberst,« antwortete der Gefragte.

»A. D.?« erkundigte sich Herr Grandidier weiter.

Der Oberst besann sich einen Augenblick. Dann sagte er: »Wie Sie wollen! Ich bin im Dienst und ich bin auch nicht im Dienst. Ich bin nicht oder nicht mehr im Dienst, wenn Sie das Wort in seiner engen und partikularistischen Bedeutung fassen. Wenn Sie jedoch an den großen Heerbann der 54 Menschheit denken, so bin ich allerdings im Dienst; immer bereit, auf meinem Posten zu sein, und wenn es sein muß, sogar mit Feuer und mit Schwert. Denn ich bin keiner von euren Blauen, sondern sozusagen ein Roter!«

»Um Gottes willen!« rief Herr Grandidier und wich betroffen einen Schritt zurück; und auch der Leser wird keinen kleinen Schreck bekommen haben vor dem fürchterlichen Menschen. Doch dem war nicht so schlimm.

Der Oberst hieß eigentlich Fritz Scharf und seinem Stande nach war er ein preußischer Referendarius außer Dienst; doch er hatte sich mit dem Staate frühe schon überworfen und der Staat, um die Wahrheit zu sagen, hatte sich mit Resignation darein gefunden. Er war ein Mann von starker Einbildungskraft, der die großen Worte liebte; sonst aber ohne Falsch und Arg, einer von denen, die an irgendeiner Stelle ihres Lebens einmal Schiffbruch gelitten und nun Mühe haben, wieder in das rechte Fahrwasser zu kommen. Er gehörte zu jener seltenen Klasse von Menschen, die, wenn sie selber Unglück gehabt, daraus das Bedürfnis ableiten, andere glücklich zu machen. Er beschränkte sich damit nicht auf den ausgedehnten und immer mehr sich ausdehnenden Kreis seiner Freunde, sondern er umfaßte zuletzt die ganze Welt. Immer war er unterwegs, um unterdrückte Völkerschaften zu suchen, denen er zu ihrem Recht und ihrer Freiheit verhalf; und sein Ohr war so empfindlich geworden, daß er den »Schmerzensschrei« jeder noch so entfernten Nation ganz deutlich vernahm.

Nicht als ob er darum der eigenen Heimat seine Dienste verweigert haben würde; doch diese wußte sie so wenig zu schätzen! So wenig, daß – als er nach den Exzessen des Jahres 1848 ins Ausland flüchtete – nicht das mindeste seiner alsbaldigen straffreien Rückkehr im Wege stand. Sein patriotisches Herz fand keine Befriedigung daheim; und ein kleiner Krieg mit Schutzleuten, denen er gelegentlich den Gehorsam, oder mit Kasseboten, denen er die Steuern verweigerte, war alles, was er für das Vaterland tun konnte.

Doch Geduld! – auch seine Zeit sollte kommen.

Inzwischen aber wird der geneigte Leser sich überzeugt haben, daß er vor dieser Armee nicht besonders zu zittern brauche, weder vor dem Korporal, noch vor dem Leutnant, noch vor dem Major, noch vor dem Obersten, Roter wie er war!

55 Herr Grandidier jedoch, welcher obige Parenthese nicht gelesen, gab sich so bald nicht zufrieden.

»Von welchem Regiment?« begann er aufs neue, nachdem er sich einigermaßen wieder gesammelt hatte. Denn er dachte: ob rot oder blau, ob Feuer oder Schwert – ein Oberst muß doch ein Regiment haben, wahrscheinlich von der Artillerie.

Da kam er indessen schön an! »Regiment!« rief der Oberst, »ich erkenne kein Regiment an, außer dem einen und einzigen Willen des souveränen Volkes. Das ist mein Regiment!«

»Wer hat Sie denn zum Obersten gemacht?« fragte Herr Grandidier.

»Ich selbst!« sagte der Oberst und schlug sich auf die männliche Brust.

Da hatte er die volle Wahrheit gesprochen; sein Patent rührte von keinem anderen her.

»Ich will es Ihnen sagen,« fuhr er fort, als er den verwunderten Blick des Herrn Grandidier bemerkte. »Mein militärischer Anstand datiert noch aus der Zeit, wo das souveräne Volk in Waffen ging. Ich bin nämlich bei der Bürgergarde gewesen; ich bilde mir nichts darauf ein, aber –« und dabei hob er seinen Arm, »ich wußte mit dem Säbel umzugehen! Ich war freilich erst Leutnant; aber wer weiß, zu welchen Chargen ich noch emporgestiegen wäre, wenn nicht die elende Reaktion uns die Waffen aus den Händen genommen, die Bürgerwehr aufgelöst und alles zum Teufel gejagt hätte! Da stieg der Groll in meiner Seele und der Zorn in meiner Brust; ›ihr werdet mich nicht hindern,‹ rief ich, ›ihr nicht;‹ und obwohl ich, der Gewalt weichend, meinen Bürgerwehrsäbel abliefern mußte, so war ich doch gewillt, meinen Bürgerwehrtitel zu behalten. Ja, noch mehr: der ganzen bewaffneten Konterrevolution zum Trotz erhöhte ich ihn, indem ich mich selber zum Obersten beförderte; und solange noch ein einziger Windbeutel und Schwindler in Berlin herumläuft, der sich selber zum Doktor oder gar Professor gemacht . . .«

»Sie meinen doch nicht etwa . . .?« fiel ihm Herr Grandidier ins Wort. Er dachte nämlich an den Professor Bestvater.

»Ich meine nichts anderes, als was ich sage,« sprach der 56 Oberst gelassen weiter. »Solange noch ein Windbeutel und Schwindler in Berlin herumläuft, der sich selbst zum Doktor oder gar Professor gemacht hat, solange will ich den sehen, der mir meinen Titel bestreitet! Keiner meiner Freunde, der mich anders nennt; und meine Feinde, die zugleich die Feinde der Freiheit und der Menschenwürde sind, sollen zittern vor diesem Namen, wie vor einem Vorwurfe, der Feigheit und der Scheinheiligkeit gemacht!«

»Mein Herr!« unterbrach ihn der andere; »Sie werden persönlich!«

»Ganz und gar nicht!« entgegnete der Oberst; »ich bin bei der Sache, ich bleibe bei der Sache – ach!« setzte er mit einem Seufzer hinzu, indem er wehmütig an seiner eigenen Person hinuntersah, »und das ist alles, was von der Berliner Bürgerwehr übriggeblieben –ich und meine drei Mann! Aber es reicht hin; wie das wandelnde Gewissen gehen wir beständig vor ihnen herum, und nicht eher werde ich abrüsten oder meinen militärischen Haushalt auflösen, als an dem Tage, wo das Schwert, welches einst gegen das Volk gekehrt ward, sich für das Volk erhebt. An jenem Tage werde ich den Korporal pensionieren, den Leutnant und Major zur Disposition stellen, und mich selber als Fritz Scharf, Referendarius außer Dienst, in das Privatleben zurückziehen. Bis dahin aber bin ich der Oberst. Und nun, Herr Grandidier, mit Ihrer Erlaubnis zur Veranlassung meines Besuchs.«

Diese zu erfahren, hätte Herr Grandidier schon längst gewünscht; aber das war so leicht nicht. Denn der Oberst war ein Mann, der für alles Zeit und für alles Interesse hatte. Nichts gab es auf der Welt, was seine Neugier nicht gereizt, und nichts daheim, was ihn abgehalten hätte, sie zu befriedigen, weder Weib, noch Kind, noch Geschäft, noch Sorgen – so daß er eigentlich immer auf der Reise war, ohne doch jemals ans Ziel zu gelangen.

»Ich komme von Paris,« begann er, nachdem er sich in einen der Samtsessel niedergelassen hatte, welchen Herr Grandidier ihm angeboten. »Wissen Sie,« fuhr er fort, »ich bin gern in Paris. Ich habe viele Freunde dort, obwohl die besten meiner Pariser Freunde gegenwärtig nicht in Paris sind. Meine Freunde Ledru Rollin und Louis Blanc zum Beispiel sind in London. Mein Freund Viktor Hugo lebt auf 57 Guernsey. Mein Freund Rochefort hält sich in Brüssel auf. Aber sie werden wiederkommen, ich versichere Sie, sie werden bald wiederkommen. Louis wird gehen – Louis wird sogar laufen. Aber sie werden wiederkommen.«

»Louis?« unterbrach ihn Herr Grandidier unwillig. »Ich verstehe Sie nicht.«

»Ach, Sie scherzen,« fuhr der Oberst gelassen fort, »Louis mit dem Schnurrbart. Sie lesen doch den Kladderadatsch!«

»Wenn Sie vielleicht Louis Napoleon meinen, den Kaiser der Franzosen . . .«

»Louis meine ich,« beharrte der Oberst bei seiner Aussage. »Ich erkenne keinen Kaiser der Franzosen an. Für mich gibt es keinen Kaiser der Franzosen. Für mich gibt es nur einen Louis. Aber sein Schuldbuch ist voll. Wir halten schon auf der letzten Seite.«

Herrn Grandidier fing das Gespräch an sehr unangenehm zu werden.

»Was geht Sie der Kaiser der Franzosen an?« rief er. »Oder was geht er mich an?«

»Das werden Sie sogleich erfahren, mein Herr,« versetzte der Oberst mit einer Art von triumphierender Zuversicht, die wenig dazu beitrug, das Thema der Unterhaltung oder diese selbst für den Fabrikanten von Neu-Kölln am Wasser behaglicher zu machen. »Uns alle geht er an – Sie – mich – aber beruhigen Sie sich, Herr Grandidier,« und dabei klopfte er vertraulich den neben ihm Sitzenden auf die Schulter, »beruhigen Sie sich, der Tag der Abrechnung naht. Nur noch ein Steinchen braucht gelockert zu werden – ich drücke mich bildlich aus, Herr Grandidier – nur noch ein Steinchen, und sein Thron stürzt ein und alles steht in Feuer und in Flammen . . .«

Das war in der Tat eine erfreuliche Aussicht für einen Fabrikanten.

»Ich bitte, unterbrechen Sie mich nicht, Herr Grandidier – in Feuer und in Flammen,« wiederholte der Oberst, als ob es ihm sehr darauf ankomme, über die Richtigkeit dieser Behauptung auch nicht den leisesten Zweifel mehr bestehen zu lassen. »Der Boden ist unterminiert – überall schon, bald da, bald dort züngeln die Gluten empor, die Vorboten des ungeheuren Brandes, der in nicht ferner Zeit diese faule Gesellschaft ausräuchern und ausbrennen wird . . .«

58 Dem guten Herrn Grandidier schauderte.

»Sie haben doch von der letzten Verschwörung gelesen?« fragte der Oberst, indem er die feinen Pariser Handschuhe, die bisher auf seinen Knien gelegen, mit großer Umständlichkeit in seine linke Brusttasche steckte. »Die Leute von meiner Partei hatten eine neue Sorte von kleinen Granaten erfunden – Handgranaten, nicht größer als die Murmeln, mit denen die Kinder hier auf der Straße spielen – warten Sie,« und dabei griff er mit derselben Umständlichkeit in die rechte Brusttasche.

»Bleiben Sie mir mit Ihren Granaten vom Leibe!« schrie Herr Grandidier und machte Miene, sich zu erheben.

Der Oberst schlug sich vor den Kopf.

»Ich habe sie vergessen,« sagte er; »wahrhaftig, ich habe sie zu Hause liegen lassen. Nun, gleichviel, es sind ausgezeichnete Granaten, die ganz gewiß ihre Wirkung nicht verfehlt hätten, wenn sie nur nicht, leider! vorher konfisziert worden wären. Zu früh! Herr Grandidier – zu früh! Das ist das Wort, an dem schon manche gute Verschwörung gescheitert ist. Das Komplott ward entdeckt, Haussuchungen wurden gehalten, Verhaftungen vorgenommen, Gerüchte von Verrat schwirrten in der Luft, das Haupt der Verschwörung, ein Mann, der von meiner Partei mit Recht hochgeschätzt wurde, nahm sich das Leben – und – Herr Grandidier, fassen Sie sich . . .«

»Ich will nichts mehr hören,« fuhr Herr Grandidier auf, indem ihm der Zorn ins Gesicht stieg. »Was hab' ich mit Ihren Granaten, Verrätern und Verhaftungen zu tun?«

Aber der tapfere Oberst ließ sich nicht einschüchtern.

»So weit war alles gut,« erzählte er weiter; »aber Louis verlangte ein Opfer und er fand es. Sein Opfer war ein junger, hoffnungsvoller Mann, ein Mann, der eine liebenswürdige Gattin und einen reizenden Knaben hatte – ein sehr glücklicher Mann bis dahin, der nur allerdings die unverzeihliche Torheit begangen, mit Louis so weit zu paktieren, um ein Amt von ihm anzunehmen. Er war Beamter an einer öffentlichen Kasse. Nun, auf eine bis jetzt noch nicht aufgeklärte Weise hing der besagte junge Mann mit der Verschwörung zusammen oder doch wenigstens mit den Verschworenen, und zugleich mit jenem Komplott ward ein Kassendefekt entdeckt – der junge Mann hatte sich an den 59 öffentlichen Geldern vergriffen. Aber wie kann man jemand strafen, der sich zu guten Zwecken an Louis' Vermögen vergreift, solange der große Schuldige ungestraft ist, der sich zu schlechten Zwecken an Frankreichs Vermögen vergriffen hat? Das ist die Frage! Doch das Gericht war anderer Meinung – es verurteilte den jungen Mann zur Zwangsarbeit im Bagno von Toulon.«

Da jedoch brauste Herr Grandidier auf. »Mein Herr!« rief er, »in dem Hause der Grandidiers darf von Zwangsarbeit und Bagno nicht einmal gesprochen werden!«

»Und doch heißt der junge Mann, von dessen Schicksal ich Sie unterhalten habe, Grandidier – Alfons Grandidier . . .«

Herr Grandidier wechselte die Farbe. Sein Gesicht ward ganz bleich. Er erhob sich aus seinem Sessel und nach einer Pause, nachdem er mehrmals angesetzt, als ob das Wort ihm versage, sprach er endlich ganz leise: »Habe ich geträumt, oder haben Sie den Namen wirklich genannt? Em Grandidier verurteilt – zum Bagno . . .«

»Und in diesem Augenblick auf dem Wege nach Toulon,« bestätigte der Oberst mit derselben Seelenruhe, mit welcher er vorhin von den Granaten gesprochen hatte.

Herr Grandidier ging ein paarmal durchs Zimmer auf und ab. Dann blieb er stehen, dann ging er wieder, dann blieb er wieder stehen und ergriff zuletzt die Hand des Obersten. »Ich danke Ihnen, mein Herr,« sagte er, »mein Herr . . . wie heißen Sie doch eigentlich? – Nun, gleichviel . . . Sie sind mir bisher fremd gewesen, gänzlich fremd; aber Sie haben mir einen Dienst erwiesen, und dafür danke ich Ihnen. Sie haben sich in meinem Interesse bemüht . . .«

»Nicht der Rede wert,« erwiderte der Oberst, der Gott dankte, wenn er sich in irgendeiner Angelegenheit nützlich machen konnte, welche – wie Verschwörungen und dergleichen – auf das Wohl der Menschheit abzielten.

»Sie haben mir Nachrichten gebracht,« fuhr Herr Grandidier fort, sinnend, in Nachdenken vertieft, und dabei immer wie in einem Selbstgespräch im Zimmer auf und ab schreitend, »keine guten Nachrichten – aber immerhin Nachrichten. Ich hätte gewünscht, daß es bessere Nachrichten gewesen wären . . . Denn es ist nicht angenehm, zu erfahren, daß irgend jemand aus der Familie in das Bagno gekommen ist . . . Alfons Grandidier, sagten Sie nicht so?«

60 »Alfons Grandidier,« versetzte der Oberst, der, immer abwechselnd, bald in die rechte Brusttasche fuhr, um zu prüfen, ob die Handschuhe in Ordnung seien, und bald in die linke, um zu sehen, ob die Granaten sich doch vielleicht nicht noch fänden.

»Freilich,« sagte Herr Grandidier und blieb in der Mitte des Zimmers stehen, »Familie – was heißt Familie! Was liegt alles dazwischen – zweihundert Jahre – Paris und Berlin, Deutschland und Frankreich – katholisch und reformiert. – Bah, das nenn' ich keine Familie mehr . . . Aber Alfons – Alfons Grandidier, wie der Unglückliche, dem damals das Kind geraubt worden – wie der Bruder des ersten Grandidier, der in jenen Tagen nach Berlin gekommen und von Söhnen, Töchtern, Enkeln und Urenkeln umgeben friedlich schlummert in der Ecke des französischen Kirchhofs vor dem Oranienburger Tor . . . Zur Zwangsarbeit! Das ist schrecklich – einen Sohn so zu verlieren ist schrecklicher noch, als ihn in den Händen der Mönche seinen Glauben abschwören zu sehen . . .« Dann wieder vor den Oberst hintretend, drückte er ihm abermals die Hand und sagte: »Wirklich, Sie haben mir, wenn auch in einer traurigen Sache, doch einen großen Dienst erwiesen.«

»Es ist gern geschehen,« erwiderte der Oberst mit einem Ausdruck von Zufriedenheit, wie wenn er sich nie etwas Besseres wünsche, als die Familien untereinander mit den gegenseitigen Unglücksfällen und Schicksalsschlägen bekannt zu machen.

»Und die Eltern . . .« sagte Herr Grandidier nach einer Pause – denn er hatte offenbar noch etwas auf dem Herzen, was, wie es schien, ihm ebenso schwer ward auszusprechen als zu verschweigen . . . »Das heißt,« setzte er dann sogleich hinzu, als er sah, daß der Oberst den Mund öffnen wollte. Er wünschte von ihm irgend etwas zu wissen und fürchtete es zu hören . . . »Sie sind in Paris gewesen,« begann er endlich aufs neue, »Sie kennen die Verhältnisse . . . sagen Sie . . . steht das kleine Haus noch?«

»Welches kleine Haus?« fragte der Oberst.

»Das Haus der Grandidiers . . . in der Cité, dem Palais de Justice gegenüber, nicht weit von der Notre-Dame, das alte kleine Haus . . .

»Geben Sie sich weiter keine Mühe,« sagte der Oberst, dem Gedächtnis des Herrn Grandidier zu Hilfe kommend, 61 »in der Cité gibt es keine kleinen alten Häuser mehr, da gibt es nur noch große neue Häuser . . . und überhaupt gibt es keine Cité mehr . . .«

»Und die kleine alte Rue du Marché Neuf?« fragte Herr Grandidier mit einer Anstrengung, als ob es nun endlich doch heraus müsse.

»Die hab' ich gut genug gekannt,« erwiderte der Oberst, und dann sich an Herrn Grandidier wendend: »Aber sagen Sie mir einmal, mein guter Mann, aus welcher vorsintflutlichen Zeit rechnen Sie denn eigentlich? Von welchem Paris sprechen Sie? Wann sind Sie zuletzt dort gewesen?«

»Vor acht- bis neunundzwanzig Jahren,« versetzte Herr Grandidier – und mit einem Ausdruck von Wehmut im Gesicht trat er ans Fenster.

Da gab der Oberst einen Ton von sich, wie von einem kurzen, trockenen Lachen. »Acht- bis neunundzwanzig Jahre!« sagte er. »Das ist lange her. Seitdem ist das alte kleine Haus samt der alten kleinen Straße verschwunden.«

»Und was an seiner Stelle?« fragte Herr Grandidier in Gedanken.

»Eine Kaserne und ein Boulevard. Seitdem sind alle kleinen Häuser und Straßen in Paris verschwunden. Die kann Louis nicht gebrauchen. Ganz Paris hat sich in einen Boulevard und eine Kaserne verwandelt.«

Und der Oberst war bereit, sich in eine politische Digression zu verlieren.

Aber Herr Grandidier unterbrach ihn. »Das alles lebte noch in meiner Erinnerung, wie ich es zuletzt gesehen,« sagte er, vom Oberst abgewandt; denn er stand noch immer am Fenster, und sein Auge schweifte hinab zu dem Wasser und den Gebäuden am Ufer – »und ich sagte mir oft: Es ist wie in Paris; dort das alte Kölln ist die Cité, und dort, wo die Spree sich teilt, das sind die beiden Arme der Seine, und das sind die Brücken, der Pont au Change, der Pont Saint-Michel . . . Sagen Sie selbst, ist die Ähnlichkeit nicht wunderbar? Und zu denken, daß das alles nicht mehr ist . . . daß es keine Rue du Marché Neuf mehr gibt . . . und daß das Haus der Grandidiers nicht mehr steht . . .«

»Nun,« rief der Oberst, der so wenig Mitleid mit Menschen wie mit Häusern hatte, »das Unglück läßt sich tragen. Es war gewiß ein altes, baufälliges Wesen . . .

62 »Aber Sie wissen nicht,« fiel Herr Grandidier warm ein, »Sie können nicht wissen . . . oh, wie viele glückliche Stunden hab' ich in dem Hause verlebt! . . . Ja, wohl ist es lange her, aber ich werde es niemals vergessen – der Unglückliche, von dem Sie sprechen, konnte damals noch nicht geboren sein.«

»Kaum,« versetzte der Oberst; »er ist erst fünf- oder sechsundzwanzig Jahre alt.«

»Nicht viel älter als mein eigner Sohn,« sagte Herr Grandidier und begann abermals in der Stube hin und her zu gehen. »Ah, das Unglück, das Unglück! Aber die Eltern? Ich habe Sie schon einmal nach den Eltern gefragt!«

»Bedaure,« gab der Oberst zur Antwort, mit den Achseln zuckend, »die Eltern sind tot!«

»Ach, mein braver Charles-Louis, und ach, meine brave Marie-Françoise – ihr seid früh gestorben. Aber besser gestorben als eine solche Schande überleben . . . Und die sonstigen Verwandten . . .« fuhr Herr Grandidier zögernd fort, »hatte der junge Mann sonst noch Verwandte?«

»Seine junge Frau, seinen kleinen Sohn und seinen Schwiegervater – einen gewissen Glöcklin . . .«

Dieser Name schien Herrn Grandidier besonders zu bewegen. Mit großer Heftigkeit ergriff er den Arm des Obersten. »Glöcklin, sagen Sie – Matthias Glöcklin . . .«

»Erlauben Sie,« sagte der Oberst, »Matthieu Glöcklin, der Mann ist ein Elsässer.«

»Eben deswegen,« versetzte Herr Grandidier. »Wir nannten ihn dazumal Matthias.«

»Ja,« gab der Oberst zurück, »das wird wohl auch zur Zeit der Rue du Marché Neuf gewesen sein. Aber das war vor acht-, neunundzwanzig Jahren, wie Sie sagen, und seitdem sind die Elsässer gute Franzosen geworden. Der Mann heißt Matthieu, Matthieu Glöcklin.«

»Einerlei,« sagte Herr Grandidier; »aber er ist es.«

»Kein Zweifel,« versetzte der Oberst, »wenn Sie den Glöcklin meinen, den ich meine. Dieser ist aus Straßburg gebürtig . . .«

»Aus Straßburg gebürtig,« wiederholte Herr Grandidier immer rascher, immer bewegter, »ein Hutmacher, wie ich –«

»Wie Sie!« bestätigte der Oberst.

»Ein Fabrikant . . .«

»Nur leider ohne Fabrik,« schaltete der Oberst ein.

63 Aber ohne darauf zu achten, fuhr Herr Grandidier fort: »Mit mir damals zu gleicher Zeit in Paris . . .«

»Zu gleicher Zeit,« bejahte der Oberst, »und nicht lange darauf vermählt mit einer Grandidier – der einzigen Schwester von Alfons' Vater . . .«

Herr Grandidier bedeckte sein Gesicht mit den Händen, als ob er eine aufsteigende Erinnerung verbergen wolle.

»Er ist es!« rief er dann noch einmal mit einem tiefen Seufzer.

»Und seine Tochter Helene hat sich dann später mit ihrem Cousin, jenem Alfons, vermählt – Helene Glöcklin mit Alfons Grandidier – Sie sehen, die Verwandtschaft ist doppelt.«

Herr Grandidier erwiderte nichts darauf. Die Hände fest ineinander gepreßt, rief er: »O mein Matthias! Mein alter, guter Matthias! Mein Jugendfreund!«

»Davon hat mir Monsieur Matthieu Glöcklin nichts gesagt; im Gegenteil . . .«

»Sprach er von mir?« unterbrach ihn nun Herr Grandidier freudig, indem sein ganzes Gesicht ordentlich strahlte. »Gedachte er meiner? Erinnerte er sich noch . . .«

»Er tat es freilich; aber er meinte, daß Sie seiner wohl längst vergessen hätten, oder wenn nicht, doch nichts von ihm wissen wollten . . .«

»Wie wäre das möglich!« wehrte Herr Grandidier mit Entschiedenheit ab.

»Es stünde etwas zwischen ihnen beiden . . .«

Herr Grandidier blickte nieder.

»Längst vergessen – ein Schatten, mit der Jugend gekommen, mit der Jugend gegangen . . .«

»Sie seien reich und er sei arm . . .«

»Arm!« rief Herr Grandidier mit den Zeichen der aufrichtigsten Teilnahme.

»Es geht ihm miserabel . . .«

»Um Gottes willen! Und ich habe nichts davon gewußt . . .«

»Es ging ihm auch gut genug, bis Louis kam. Er hatte sein hübsches Haus in Straßburg in der kleinen Straße, die von der Rue du Dôme nach dem Temple Neuf führt . . .«

»Mon Dieu! Mon Dieu!« rief Herr Grandidier, »wie das alles klingt! Zu meiner Zeit, als ich auf der Wanderschaft in Straßburg war, sprach man von der neuen Kirche, dem protestantischen Gymnasium und der Münstergasse . . .«

64 »Ja, das hat sich aber gewaltig geändert seitdem,« belehrte ihn der Oberst; »man spricht jetzt nur noch Französisch in Straßburg – und um es mit einem Wort zu sagen: Monsieur Matthieu Glöcklin lebte glücklich und zufrieden mit seinem Weib, seinen Kindern und seinen Hüten, bis Louis kam. Mit dem kam das Unglück. Sie müssen wissen, daß man im Elsaß, in Straßburg besonders, gut republikanisch gesinnt ist, das sind meine Leute, die auf Louis niemals »oui« gereimt, sondern immer tapfer »non« gesagt haben, und das tat auch Monsieur Matthieu Glöcklin. Bei dem Plebiszit, das nach dem Staatsstreich die zehnjährige Präsidentschaft bestätigte; bei dem Plebiszit, das ein Jahr später den Präsidenten zum Kaiser machte; bei den Gemeindewahlen, bei den Generalrats- und Kammerwahlen – immer hat der brave Mann mit »Nein« gestimmt. Aber Louis und sein Präfekt haben sich dafür gerächt; auf jede nur mögliche Weise ward Glöcklin bedrängt und gedrückt, kein Gutgesinnter durfte mehr einen Hut bei ihm kaufen, und Sie wissen, die Schlechtgesinnten haben nicht viel Bedürfnisse in dieser Hinsicht –«

Wehmütig blickte Herr Grandidier auf den schäbigen Hut des Obersten, den dieser zwischen seinen Knien hielt.

»Genug und gut,« fuhr der Oberst fort, »mit jeder folgenden Wahl oder Abstimmung ward die Kundschaft des Monsieur Matthieu Glöcklin kleiner, und als in der letzten Session die Straßburger einen Deputierten in die Kammer schickten, einen braven Unbestechlichen, aber für Louis ein Dorn im Auge, da blieb sie fast ganz aus, und Monsieur Matthieu hätte seinen Laden ebensowohl schließen können wie seine Fabrik. Und auch noch in anderer Weise suchte das Schicksal ihn heim; denn Sie wissen ja: wer hat, dem wird gegeben, und wer nicht hat, dem wird noch genommen obendrein. In dieser schweren Zeit war es, daß er noch einen anderen Verlust zu tragen hatte – seine Frau starb.«

Das Wort mußte Herrn Grandidier tief erschüttern. »Tot!« sprach er leise, mit einer bebenden Stimme – »Rose Grandidier . . . das heißt . . . wie sagten Sie doch? Seine Frau . . . Rose Glöcklin tot?«

»Haben Sie sie gekannt?« fragte der Oberst überrascht.

»Gekannt?« brachte Herr Grandidier mühsam hervor. »Nein . . . gekannt . . . Oh, Rose Grandidier tot!«

»Nun – hören Sie,« sagte der Oberst, »Ihre 65 Bekanntschaften müssen aber alle sehr alt sein . . . soviel ich weiß, sind es wenigstens schon fünf, sechs Jahre, daß Madame Glöcklin gestorben ist.«

»Fünf, sechs Jahre!« wiederholte Herr Grandidier fast mechanisch, »und ich habe nichts davon gewußt . . .«

»Genug und gut,« fuhr der Oberst fort, obgleich das, was er sagte, weder im allgemeinen gut, noch für Herrn Grandidier, der immer mehr zu hören wünschte, genug war, »das Unglück, das seinen Schwiegersohn betroffen, gab dem armen Manne den letzten Stoß. Er eilte nach Paris, er ließ es sich alles kosten, um den Schwiegersohn zu retten, aber umsonst. Der Prozeß und was damit zusammenhängt, verschlang den letzten Rest von Glöcklins Vermögen, und so traf ich ihn dort in Paris – arm, hilflos, verlassen, ruiniert . . . einen Bettler . . .«

»Und da geschah's, daß er sich meiner erinnerte?« drängte Herr Grandidier.

»Da nannte er Ihren Namen!«

»Der gute Matthias! Gott segne ihn dafür!«

»Ah, rief ich da,« berichtete der Oberst weiter, »Herr George Grandidier in Berlin, mein Freund George Grandidier . . .«

Mitten in seinem Kummer, mitten in all den widerstrebenden Gefühlen, die seine Brust bewegten, blickte doch Herr Grandidier den seltsamen Mann an, von dessen Existenz er bis zu diesem Nachmittag niemals etwas geahnt, geschweige denn, daß er ihn jemals gesehen, gekannt oder gesprochen hätte.

Doch der Oberst ließ sich davon nicht abhalten, fortzufahren: »Mein Freund George Grandidier – ah, mit dem werde ich reden, sobald ich wieder in Berlin bin. Er ist zwar nur ein Bourgeois, ein zahmer Gewerbetreibender . . .«

Ärger über das, was er eben gehört, kämpfte in Herrn Grandidier mit Sympathie für den wunderlichen Mann, der sein Herz so rasch gewonnen, weil er mit Dingen und Personen in Verbindung stand, die seinem Herzen sehr teuer waren.

Doch den Obersten focht das eine so wenig an als das andere. »Ein zahmer Gewerbetreibender,« fuhr er fort, »aber trotzdem ein Mann, mit dem sich reden läßt. Er wird seinen alten Freund in der Not nicht verlassen . . .«

»Nein,« rief nun derjenige, den der Oberst einen zahmen Gewerbetreibenden genannt, »das wird er nicht, bei Gott, 66 das wird er nicht, so wahr er Grandidier heißt! Hier meine Hand!« Und er schüttelte die dargebotene Rechte des Obersten kräftig. »Und wenn ich auch bisher nicht die Ehre hatte, Ihr Freund zu sein, von diesem Augenblicke an bin ich es, denn der Mann, der mir die Gelegenheit gibt, ein gutes Werk zu tun und einen dunkeln Fleck aus der Vergangenheit auszulöschen, der ist mein Freund!«

 


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