Julius Rodenberg
Die Grandidiers
Julius Rodenberg

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Die Begegnung

»Mein Herr!

Der Anblick Ihres Gemäldes hat so plötzlich und erschütternd auf mich gewirkt, daß ich Sie sehen und mit Ihnen darüber sprechen muß. Aber lassen Sie mich ehrlich sein. Es ist nicht die Bewunderung für Ihr Werk, aus welcher ich diesen Anspruch ableite, sondern der Gegenstand, welchen es darstellt; obwohl niemand von allen, die Ihr Werk bewundern, wissen kann, wie ich es weiß, mit welcher Kunst es die Wirklichkeit und Wahrheit des Lebens nachahmt. So wird der Schmerz, welchen Sie aufgeregt, und die Hoffnung, welche Sie geweckt, zu einer neuen Huldigung für Ihren Genius! O mein Herr! erwarten Sie keine Kunstschwärmerin; eine durch das Schicksal gebeugte Frau naht Ihnen, um aus Ihren Händen die Gewißheit zu empfangen, welche nur Sie geben können . . .«

»Was ist das?« sagte Eduard, indem er den Brief, nachdem er ihn so weit gelesen, auf einen Tisch niederlegte, über den Inhalt desselben eine Weile nachdenkend.

Der Wintermorgen erfüllte mit seinem ersten Schimmer das kleine Maleratelier, in welchem er schon bei der Arbeit gewesen, als das Schreiben kam. Es war dieselbe Werkstatt, in der er seine frühen, schüchternen Versuche gemacht; das alte Quartier seines ehemaligen Meisters Stork, welches dieser verlassen, seitdem er zum ordentlichen Zeichenlehrer an einer entfernter gelegenen Stadtschule befördert worden. Froh der Unterkunft, die so manch trauliches Erinnern für ihn barg, hatte Eduard, als er von Paris zurückgekehrt war, diese bescheidene Wohnung im Hause Samuel Fränkels bezogen, damals nicht ahnend, wie bald sein Los sich zum Besseren wenden und Ruhm und Reichtümer zusammen kommen sollten. Denn, wiewohl ihm von Paris aus schon ein gewisser, zunächst freilich auf die Künstlerkreise Berlins beschränkter Ruf vorangegangen, so verstieg er in seinen Wünschen sich doch nicht höher, als daß er sein Bild verkaufen und der Erlös hinreichen möge, die Summe zurückzuerstatten, die er dem Obersten schuldete. Dieser in seiner polternden Manier wollte zwar davon nichts hören, aber Eduard drückte die Schuld, sie sollte vor allem abgetragen werden, und da wäre denn allerdings nach seiner bescheidenen Rechnung nicht viel 291 übriggeblieben. Er war daher ganz dankbar dafür, in der alten Heimstätte sich ansiedeln zu dürfen; aber das Glück fand ihn auch hier. Sein Werk hatte ihn mit einem Schlage zum gefeierten und von der Mode gesuchten Maler gemacht; kaum ausgestellt, war es für eine nicht unbeträchtliche Summe von einem tonangebenden Kenner angekauft worden, und neue Schaffenslust wuchs mit den Erfolgen; die Bestellungen kamen von allen Seiten. Eduards Staffeleien bedeckten sich mit Bildern, an denen er mit Lust arbeitete von früh bis spät.

Herr Samuel Fränkel begriff gar nicht, wie ein so großer Mann in dieser Straße und in diesem Hause wohnen könne. Nicht die begeisterten Lobeserhebungen des Obersten, auch nicht die Betrachtung der Gemälde, welche Samuel noch dazu früher als irgendein anderer in Berlin sehen konnte, hatten ihm diese hohe Meinung von seinem Mietsmann gegeben; er gewann sie vielmehr selbständig aus folgenden beiden Tatsachen: daß – erstens – Eduard sogleich nach dem Verkauf seines Bildes ihm, noch dazu mit den landesüblichen Zinsen, die Summe zurückstellte, welche er jenem einst am Tage seiner Flucht nach Paris vorgestreckt; und daß – zweitens – nicht lange nachher in der »Vossischen Zeitung« stand, der König, die Königin und die königlichen Prinzen alle miteinander hätten sich das Bild angesehen und jede dieser hohen Persönlichkeiten dem Künstler besonders ihre Anerkennung ausgesprochen. Einer der Prinzen hatte ihn sogar besucht, und Männer, die Samuel Fränkel sonst nur aus ehrerbietiger Entfernung geschaut, waren gleichfalls erschienen. »Alle Ehre der Welt kommt jetzt über unser Haus,« hatte er zu seiner Frau gesagt, in Verwunderung über diesen Glanz. »Alle Lakaien und alle Bedienten! Hast du gesehen, Hannchen, was für Livreen sie tragen? Ich versteh' mich zwar nicht auf solche Sachen, aber ein Bild, das so viel Geld einbringt, muß ein großes Bild sein, und ein Mann, bei dem die Prinzen und Barone aus und ein gehen, muß ein großer Mann sein – wenn er sich nur wieder mit seinem Vater vertragen wollte! Aber der liebe Gott wird helfen.«

Eduard hatte sich in der harten Schule, durch die er gegangen, mehr an die Entbehrungen als an den Luxus des Lebens gewöhnt. Aber er hätte kein Künstler sein müssen, wenn das Bedürfnis nach einer schönen Form und Erscheinung der Umgebung nicht in ihm erwacht wäre, sobald er sich in 292 der Lage fand, es zu befriedigen. Auch war er es der Stellung schuldig, die er sehr bald einnahm, die Besuche, die täglich kamen, etwas besser zu empfangen als in den nackten vier Wänden der ehedem Storkschen Wohnung. Der gute Stork! Seine großen Augen glänzten vor wirklichem Vergnügen, als er sah, wie Maurer, Tischler und Tapezierer in den Zimmern tätig waren und Stück nach Stück hineinkam, bis er sie ganz und gar nicht mehr wiederkannte.

Ein weißer Marmorkamin, welcher den Raum angenehm erwärmte, nahm eine der Ecken ein; schwere Bronzeleuchter standen darauf und eine merkwürdige alte Uhr, welche nicht nur die Stunden mit einem leise nachzitternden Klange schlug, sondern auch den Gang des Mondes versinnbildlichte und das Datum zeigte. Ein dunkelgrüner Teppich bedeckte den Boden dieses und des anstoßenden Zimmers, aus welchem die Türen ausgehoben und durch eine halb zur Seite geschobene Portiere von braunem Stoff ersetzt worden waren. Sessel und Causeusen und kleine Tische, mit Büchern und Mappen belastet, waren überall verteilt, fremdartige Gegenstände, Kostüme, Waffen und Jagdbeuten ausländischer Zonen schmückten die Wände, und durch die gegen Norden gerichteten Fenster fiel das Licht herein, günstig für den Maler.

In der Fülle der Kraft und der Sicherheit des Könnens zu schaffen – welch eine Seligkeit! Und sie war sein. Er würde der glücklichste der Sterblichen gewesen sein, wenn nicht immer wieder ein schmerzliches Zucken seines Herzens ihn daran erinnert hätte, daß die Götter also der Sterblichen Schicksal bestimmen; denn wie unser Vater Homeros sagt: »Allein sie selber sind sorglos.« Doch die Bitterkeit des ersten Empfindens hatte sich allmählich abgeschwächt. Wenn er der dunklen, demütigenden Stunde, der letzten im Vaterhause, gedachte, so dachte er auch an sie, von der die sanfte Helligkeit ausgegangen war – an Bärbel.

Ahnte er bereits den Zusammenhang zwischen dem holden Mädchenbilde, welches einst der Traum des Knaben gewesen, und der lieblichen Erscheinung, die so plötzlich vor ihm dagestanden, die neben ihm gekniet, deren warmen Atem er gefühlt, deren herzensgutes Wort er gehört hatte? Sie war ihm unerreichbar, heute wie damals – als er auf dem Bodenkämmerchen saß und den Schein der Abendsonne langsam an den Bretterwänden hinschwinden sah. Die harte Hand 293 des Vaters, welche ihm den Weg zu dem Bilde verschlossen, hatte sich abermals gegen ihn erhoben und wies ihn nun auch von Bärbel zurück. Aber wie er damals in seinem Schmerz, in seiner Wehrlosigkeit, gleichsam noch stammelnd, die Kunst um Hilfe bat, so war sie heute bei ihm in all ihrer Schönheit, um ihn zu trösten, wenn nicht vergessen zu machen. Sie hatte Bärbels Gestalt und trug Bärbels Züge. Bärbel war ihm immer gegenwärtig in diesen Räumen, welche für ihn erfüllt waren mit den ersten Offenbarungen seiner schüchternen Kunst und seiner schüchternen Liebe. Vielleicht war es das, was ihm diese Stätte so traut machte, daß er sie gegen eine andere nicht vertauschen wollte, selbst als kein äußerer Umstand ihn zwang, sie länger zu bewohnen.

Hier, an einem Morgen wie dieser, den Tag und das Tagewerk zu beginnen, war für ihn eine Wonne, der keine andere gleichkam; und hier, vor einem angefangenen Bilde, im braunen Samtrock und mit den kurzen Pfeifchen, das ihm noch von Paris her wert war, hatte er jenen Brief erhalten.

Er nahm ihn wieder auf.

»Ich mache von dem Recht der Unglücklichen Gebrauch, welche ungerufen kommen, und bitte Sie, mir Einlaß nicht zu versagen, wenn ich morgen, Montag früh, an Ihre Tür klopfe.«

Unterzeichnet war der Brief: »Eine Französin im Exil.«

»Seltsam! seltsam! Welch ein ergreifendes Zusammentreffen!« murmelte Eduard und trat sinnend vor eines der auf den Staffeleien befindlichen Bilder, welches am weitesten fortgeschritten war und ihn am meisten zu fesseln schien.

Es stellte den vordern Teil eines Schiffes da, welches sich dem Hafen naht. Man sah kein Land, aber man ahnte, daß es nicht mehr ferne sei. Von Sonne schillerte das Meer, und ein Atem von Frische, Leben und fröhlicher Bewegung wehte darüber. Das Bild war außerordentlich lebhaft und drastisch, so daß der Beschauer fast meinen konnte, das Schiff käme mitten aus dem schäumenden Wasser grad auf ihn zu. Am Bugspriet, welchen die kräftige Welle hoch emporhob, stand ein Mann, noch jugendlich, aber mit den Spuren des Grames im Antlitz, auf welchem jetzt, selbst in der Freude des Wiedersehens, noch ein schmerzlicher Zug hervortrat. »Dort ist Land!« schien sein Auge mit wehmütigem Strahl zu sagen; noch einmal aufjauchzen wollte seine Seele, doch 294 ihre Schwingen waren gebrochen. Es gibt Leiden, welche sich niemals mehr ganz überwinden lassen; das größte vielleicht von allen, zu fühlen, daß die Erlösung zu spät gekommen ist. Doch die Liebe, die nicht zweifelt, verzweifelt auch nicht. Neben ihm, in der Tat ihn stützend, stand die schönste Frauenfigur – zierlich in den Umrissen und dennoch von großer Kraft und Spannung – Kinderunschuld im Gesicht und das Feuer einer heldenhaften Seele im Auge – das braune Haar flatternd im Winde, den Oberkörper vorgebeugt, den Arm erhoben und die Rechte weit ausgestreckt, dem Lande zu, die holden Lippen halb geöffnet, als wollte sie dem armen Heimkehrenden an ihrer Seite sagen: »Das ist die Heimat!«

»Eine Französin im Exil!« wiederholte Eduard und sein Auge ruhte mitleidsvoll auf der Gestalt des Mannes vor ihm. »Es ist dein eigen Schicksal, du mein armer Verbannter!«

Dann aber schweifte sein Auge zu dem lieben Anblick des Mädchens, welches seinen Zauber über das ganze Bild zu verbreiten schien. Mit einer Art von ehrerbietiger Scheu betrachtete er sein Werk. War dieses Mädchen die Schwester, war sie die Braut des Heimkehrenden? Man hatte nur den Eindruck, daß sie seine standhafte Gefährtin sei, jubelnd im Gefühle der Sicherheit, und nicht ahnend, was jener traurige Zug um den Mund des teuren Mannes bedeute. Sie trug die malerische Tracht der Provenzalin, von jener südlichen Küste, der man jetzt sich näherte, und vom Maste des Schiffes herab wehte die französische Flagge.

Die Glocke von Eduards Wohnung ward gezogen, und ehe dieser sich noch aus der Stimmung aufgerafft, in welche der Brief und der eigentümliche Zusammenhang desselben mit dem Gegenstande seines Bildes ihn versetzt, öffnete sich die Tür, und zwei Damen, beide verschleiert, traten herein.

»Ihre Briefstellerin!« sagte die eine derselben, welche voranschritt, und höher gewachsen und etwas älter zu sein schien als die andere, welche zögernd sich im Hintergrunde hielt.

Eduard fand nicht Zeit, ihr zu sagen, daß sie willkommen sei, denn kaum hatte sie das Bild erblickt, so schlug sie mit beiden Händen den Schleier zurück und blieb in Anschauen versunken vor demselben stehen.

»Oh!« rief sie aus, als sei sie der Gegenwart gänzlich 295 entrückt, »wenn jenes die Schwalben des Verbannten waren, so ist dies seine Heimkehr ins Vaterland –

  France adorée!
  Douce contrée!
Puissent tes fils te revoir ainsi tous!
«

»Ist es nicht,« fuhr sie fort, »als hörte man aus dem Munde des Mädchens diese Worte:

  Enfin j'arrive,
  Et sur la rive
Je rends, au ciel, je rends grâce à genoux...
«

Aber plötzlich, indem sie das bleiche Gesicht des Mannes erblickte, hielt sie wieder inne.

»Nein,« rief sie, »nein . . .

Dieux! qu'un exilé doit souffrir!
Moi, désormais, je puis mourir -
  Salut à ma patrie!...
«

Dann ergriff sie die Hand Eduards. »O mein Herr,« sagte sie gesenkten Hauptes, »wie tief haben Sie in meiner Seele gelesen!«

Sie sank in einen Sessel und bedeckte schluchzend das Gesicht mit den Händen. Eduard war ratlos. »Madame!« sagte er.

»Verzeihung!« erwiderte sie, mühsam nach Fassung ringend. »Ich dachte, daß ich stark genug sein würde, und nun übermannt es mich schon hier an der Schwelle . . . Haben Sie Nachsicht . . .

Indessen war auch die Jüngere der beiden Damen herzugeeilt und neigte sich sorglich liebevoll zu der Leidenden nieder.

»Schwester!« redete sie zu ihr, »liebe Helene . . .«

»Laß mich, Kind, es wird mir sogleich besser sein,« erwiderte diese mit abwehrender Bewegung, als ob sie ungestört zu sein wünsche.

Langsam erhob sich die andere, ihr Schleier hatte sich etwas zurückgeschoben, und jetzt erst sah Eduard, wer sie sei.

»Bärbel!« rief er, »Bärbel . . .«

Er rang nach einem Wort, doch er fand kein anderes als ihren lieben Namen.

In Purpur erglühend wie eine Rose, stand sie vor ihm.

»Ich bin nicht aus meinem eigenen freien Antrieb gekommen,« sagte sie leise, kaum hörbar.

296 »Aber Sie sind gekommen, Bärbel – Sie sind gekommen!« Und er ergriff ihre Hände, die sich durch den Handschuh noch heiß anfühlten. Ihr ganzer Körper bebte. Er zog sie zu sich heran; sie widerstrebte kaum. Sie hatte nicht die Kraft, nicht die Besinnung, zu widerstreben. Vollends streifte er ihren Schleier zurück und sah nun in das liebliche, von Rot überströmte, von Tränen befeuchtete Antlitz. Er drückte dieses Antlitz an seine Brust. Sie litt es noch immer. Sie war wie im Traum, in einer vollständigen Befangenheit der Sinne. Er hob ihr Gesicht empor und blickte, selber hingerissen von Schritt zu Schritt, in ihre tiefen, dunklen Augen. Ihre Lippen bewegten sich und leise flüsterte sie, bewußtlos der Seele Geheimnis verratend: »Eduard, wie lieb' ich dich!« Seine Lippen begegneten den ihren, sie erwiderte seinen Kuß, und fest, um sich nie mehr zu lassen, umschlangen sich die beiden . . .

»Jetzt weißt du alles,« sagte sie, sich von ihm losmachend.

»Aber du nicht, geliebtes Mädchen!« und er führte sie zu dem Gemälde, welches sie zuvor, von Eindrücken aller Art bestürmt, nicht gesehen, kaum bemerkt hatte. »Erkennst du dich?« fragte er, auf die weibliche Figur im Vordergrunde deutend.

Sie schlug die Augen nieder.

»Oh, tausendmal hab' ich dein gedacht, hier an dieser Stelle,« fuhr er fort, »schon damals, als ich, noch ringend mit mir und meinem Beruf und dich gleichsam erst vorausahnend, deinen lieben Kopf mit den ersten, unsicheren Strichen zeichnete. Ein anderer Kopf war es und doch derselbe – ja, liebes Mädchen, du sollst es nun erfahren, daß ich dein Bild in meinem Herzen trug, lange bevor ich dich mit meinen Augen gesehen. Einst, vor Jahren, als ich noch in meiner Eltern Hause war, fand ich ein kleines Frauenbildnis . . .«

Bärbel stutzte. Dann fragte sie rasch: »Es lag in einem Kästchen von rotem Samt?«

»Du kennst es?« entgegnete Eduard.

»Ob ich es kenne?« rief Bärbel und über sie kam es wie Glanz der Verklärung. »Es ist das Bild meiner Mutter – o Mutter, Mutter, die du vom Himmel auf uns herniederschaust, ich fühle dein Walten, und jetzt wird mir alles klar!«

»Und als du nun zuerst vor mir standest, an jenem fürchterlichen Abend, und in der Finsternis, die mich bald umgab, 297 noch einmal erschienst wie ein Bote des Lichts . . . oh, wer schildert meine Seligkeit und meine Qual . . .«

»Und dein Vater selber war es, der mir das blasse, teure Bildnis brachte, so daß es nun in unserer Stube hängt, wo ich es allfort sehen kann. Die Toten, die wir liebten und die uns liebten, sind nicht ganz tot, Eduard; und sie, die uns zueinander geführt, wird auch die Schützerin unserer Liebe sein.«

»Und du glaubst, daß es möglich sei?«

»Wenn ich's nicht glaubte, wie möcht' ich hier so vor dir stehen?«

»Engel meines Lebens! Mutiges Herz! Und du schreckst nicht zurück vor all dem Unsagbaren, das zwischen uns steht?«

»Wenn ich's täte, wäre dieser Augenblick nicht ein sündig Spiel, und ach, Eduard! – wie könnt' ich ihn dann überleben? Er hat mich nicht überrascht, und ich bereue ihn nicht. Ich habe gemeint, daß es so kommen müßte, noch bevor ich die Geschichte jenes Bildes kannte; und nun ich sie kenne, bin ich ganz ruhig. Soll ich dir sagen, was ich in der ersten Nacht geträumt hab', in jener Nacht, vor nun bald zwei Jahren, als ich von Straßburg kam? Dein Vater sagte mir damals: ›Du, Bärbel, paß wohl auf und merk dir gut, was dir träumt; denn solch ein Traum geht in Erfüllung.‹ Er hat mich alsdann manchmal danach gefragt, aber ich hab' mich geschämt und es ihm nicht gesagt. Dir aber will ich's sagen. Ich habe meine Mutter gesehen, so schön und so lieb und so deutlich wie einst in meinen Kinderjahren. Und sie hat zwei Gestalten dahergeführt, zwei junge Männer; den einen davon, den an ihrer rechten Hand, kannt' ich wohl – denn das Unglück, das er über sich und uns gebracht, hat ihn ja tief in mein Gedächtnis eingeprägt – den anderen, der an ihrer linken Hand ging, hab' ich damals nicht gleich erkannt – aber gleich am anderen Tag, als deine Mutter mir zuerst dein Bild zeigte, wußt' ich, daß du's warst. Und ich hörte in meinem Traume die Mutter sprechen: ›O Bärbel, liebes Kind! Wenn die Getrennten wieder beisammen wären, wie ruhig wollt' ich dann schlafen in meinem Grabe!‹ – Dieses Wort hab' ich nie mehr vergessen – und ich glaube, daß es sich erfüllen wird, seitdem ich gestern dein Gemälde gesehen habe . . .«

»Mein Gemälde? Wie kommt das eine zum anderen?«

298 Bärbel wollte antworten. Doch sie unterbrach sich. »Still, still!« rief sie erschrocken, »du siehst, Helene bemerkt uns . . .«

Es bedurfte nicht der flehenden Gebärde Bärbels, um ihn zur Wahrung des süßen Geheimnisses zu bestimmen, welches sie, mit ihrer eigenen Ehre zugleich, ihm kindlich anvertraut hatte.

Helene war aus ihrem ohnmachtähnlichen Zustand erwacht und teilnahmsvoll näherte sich ihr Eduard.

»Sie haben sich erholt?« fragte er mit weicher Stimme.

»Vollkommen,« gab sie zur Antwort; »so vollkommen, daß ich kaum begreife, wie mir vorhin entgehen konnte, was mir jetzt auf einmal so deutlich wird. Bärbel,« und dabei faßte sie die Schwester fest und fragend ins Auge, »welche Ähnlichkeit mit jener Figur!«

Bärbel ward verlegen.

»Sind Ihnen dergleichen Ähnlichkeiten noch niemals vorgekommen, Madame?« suchte Eduard ihre Aufmerksamkeit abzulenken.

»Ähnlichkeiten – ja, freilich! Und wenn's mehr wäre, Bärbel? . . . Aber nein, nein – ich vermag nicht zu scherzen, jetzt, so dicht vor der Entscheidung. Denn der Gefangene, den ich gestern auf Ihrem Bilde gesehen . . . das war nicht Ähnlichkeit mehr, das war er selber . . . Oh, sagen Sie mir, sagen Sie mir, was Sie von ihm wissen . . . Sie haben ihn gesehen, Sie haben ihn gesprochen – es kann kein anderer sein als er!«

Eduard schaute sie betroffen an. »Wie, Madame!« sagte er, »Sie hätten eine Ahnung von dieser rätselhaften Existenz, die meiner Erinnerung sich so tief eingegraben und – wenn ich die Wahrheit sagen soll – auch meinem Herzen!«

»Reden Sie, mein Herr, o reden Sie – wo haben Sie ihn gesehen – wo trafen Sie ihn . . .«

»In Algerien war's, in diesem Lande, wo alles noch wild, phantastisch und abenteuerlich ist, über unsere europäischen Begriffe hinaus. Und abenteuerlich, wild und phantastisch, und leider nur ein Bruchstück ist die Geschichte, die ich Ihnen zu erzählen habe. Aber sie stimmt, obgleich sie wie aus dem Zusammenhange gerissen und voll von Unerklärlichkeiten ist, zu dem Lande, welches gemacht scheint, um Vergessenheit zu suchen, über Verlorenes zu trauern und sich selber zuletzt 299 zu verlieren. Oh, wie berauscht seine Sonne und wie fühlt Ihre Seele sich angeweht von einem Schauer, indem Sie, sich weiter, immer weiter von den Menschen entfernend, jenem großen Gebiete nahen, durch welches der Mensch nur wie ein Schatten flieht. Und dennoch – welch eine Majestät in dieser Einsamkeit, welch eine Musik in diesem Schweigen! Hier, auf der Grenze des Lebens, ringen die Religionen und die Rassen miteinander – und ein bunter Haufen von Abenteurern beutet die willkommene Gelegenheit aus. Hier ist der Franzose, hier der Spanier, der Italiener, der Malteser, der Levantiner. Hier ist der Verbannte des Juniaufstands und des Staatsstreichs; aber hier ist auch der Auswurf von allen Küsten des Mittelländischen Meeres, verzweifelte Charaktere darunter, mit dem Gesetz ihrer Heimat auf den Fersen, immer auf der Flucht, um ihr schuldiges Haupt zu verbergen . . . Aber was red' ich doch von diesen Dingen, die so wenig mit meiner Erzählung zu tun haben?«

»Um Gottes willen,« rief Helene, »fahren Sie fort! Ich beschwöre Sie, fahren Sie fort!«

Und Eduard erzählte weiter: »Ich hatte mich aus der Hauptstadt des Landes in das Innere gewandt, war von einer Militärstation zur anderen gezogen und durch das Territorium der arabischen Stämme gewandert bis fast an den Rand der Wüste, wo nur noch die braunen Gesichter und die weißen Mäntel der Kabylen um mich waren. Hier, nicht weit von einer der letzten Ansiedlungen, ward ich räuberisch überfallen, aber da die Sache keine schlimmeren Folgen für mich gehabt als den Verlust meiner ohnehin nicht beträchtlichen Barschaft, so hätte ich sie gerne auf sich beruhen lassen, um nur in meinen Reiseplänen nicht unterbrochen zu werden und den nächsten Marktflecken zu gewinnen, in welchem ich hoffen durfte, in den Besitz neuer Mittel zu gelangen. Allein Furcht vor dem französischen Namen, wenn nicht Gerechtigkeitsliebe, führte dazu, daß der Vorfall vor Gericht gebracht wurde. Das Stammesoberhaupt, ein überaus schöner und würdiger Mann, bestand darauf, daß der Räuber nach den Vorschriften des Koran gestraft werde, und gutwillig oder nicht sah ich mich eines Tages gezwungen, in die »Mahakma«, das Haus des Gerichtes, zu treten und vor dem Kadi Zeugnis abzulegen gegen den Verbrecher. Ein Mann diente mir zum Dolmetsch, welcher, wiewohl er in muselmännischer Tracht 300 ging und das Kopftuch des Stammes trug, doch auf den ersten Blick, noch bevor er gesprochen, den Europäer, den Franzosen verriet. Die Form seines Gesichtes war so fein und der Ausdruck desselben so edel, daß er in dieser fremdartigen Versammlung sogleich einen anziehenden, einen heimatlichen Eindruck auf mich machte. Denn hier, wo der Europäer einer ganz anders beschaffenen, finstern, ja feindlichen Art des Daseins gegenübersteht, schwindet jeder Unterschied der Nationen, und nur das Gefühl bleibt übrig, einer gemeinsamen, höheren Bildung und Lebensgewohnheit anzugehören. Außerdem reiste ich unter dem Schutze der französischen Fahne, und was ich dem französischen Genius schulde, war damals unvergessen in mir und wird es ewig sein. Dieser Mann redete mich mitten unter den halbbarbarischen Wüstensöhnen in einem so reinen Französisch an, wie ich es nur in den gebildetsten Kreisen von Paris jemals gehört. Er fragte mich nach meinem Namen. Ich sagte: Grandidier, Eduard Grandidier. Da ward das bleiche Gesicht des Mannes noch bleicher – ein seltsames Zucken begann um seinen Mund zu spielen und seine tiefdunklen Augen sahen mich an, ich weiß nicht, ob mit einem Ausdruck des Schreckens oder der Freude. ›Grandidier?‹ wiederholte er, und das Wort bebte auf seinen Lippen, als ob es sich nur schwer und mühsam denselben entringe. ›So lautet mein Name,‹ gab ich zurück. – ›Aus Paris?‹ forschte er weiter, unruhig, unsicher und mit den Zeichen steigender Bewegung. – Ich sagte, was an dieser Stelle zu sagen war, über meine Person und meinen Reisezweck; er schien sich zu fassen und erstattete, in der Sprache des Landes, dem Kadi Bericht über meine Angaben.«

Keinen Blick hatte Helene von dem Erzähler verwandt. »Und was sprach er weiter – o mein Herr, verhehlen Sie mir nichts. An jedem Worte von ihm hängt mein Leben. Was bemerkte er über diesen Namen, der ihn so heftig erregte, so heftig erregen mußte?«

»Der Fall ward entschieden, das Urteil gesprochen. Die Versammlung zerstreute sich. Am Tore der Mahakma draußen erwartete mich der Fremdling. Er bot mir die Hand, und ich erwiderte den Druck derselben. Er konnte lange nicht sprechen, er kämpfte mit sich selber. »Grandidier,« sagte er endlich, »ich hatte einst einen Freund, der so hieß . . .«

301 »Nein, nein!« unterbrach Helene, »es darf nicht sein! Er war es selber . . .«

»›Er war ein Unglücklicher,‹ fuhr jener fort, ›ein vom Schicksal Verfolgter – ein ungerecht Verfolgter, dem ich sehr nahe gestanden . . . ein Mann, der gezwungen war, als ein Geächteter und Ausgestoßener seine Heimat zu verlassen, das Haus seiner Väter – ein Weib, das er anbetete, und ein einziges Kind dem Elend, der Verzweiflung, der Schande preiszugeben – ein Sträfling, zum Bagno verdammt, und dennoch, glauben Sie mir, oh glauben Sie mir's, mit einem reinen, schuldlosen Gewissen . . . Haben Sie niemals von einem solchen Manne gehört?‹ . . . Eine Erinnerung stieg in mir auf, ich hatte von einem solchen Manne reden hören, und zwar an dem letzten Abend, den ich selber in meinem elterlichen Hause zugebracht.«

»Und hatten Sie noch immer keine Ahnung, wer vor Ihnen stand?« rief Helene fast zürnend.

»Keine!« erwiderte Eduard mit dem Ton vollkommener Hoffnungslosigkeit. »So verhängnisvoll war jener Abend für mein eigen Geschick und so vieles geschah seitdem,« setzte er mit bewegter Stimme hinzu, »was einen tiefen Riß in mein eigenes Leben gemacht, daß nur ein vages Erinnern in mir auftauchte bei dieser Begegnung. Was ich wußte, das sagte ich ihm; auch daß für die Familie seines Freundes von Berlin aus gesorgt werden würde, so viel ich gehört habe. Da leuchtete sein Auge auf – dann aber brach er kurz ab. – Ob er selber nichts mehr von seinem Freunde vernommen habe? fragte ich ihn. – ›Nein,‹ erwiderte er, ›niemals – er wird tot sein, es wäre das beste für ihn.‹ Mehr habe ich von ihm nicht erfahren können. Er kam nicht mehr auf seinen Freund zurück; ja, schien zu bereuen, soviel von ihm gesprochen zu haben. Dagegen ließ er sich's nun angelegen sein, mich über seine Vergangenheit zu unterrichten. Er sei allerdings Franzose, habe lang in den französischen Kolonien gelebt, sei von Kanada nach Algerien gekommen, habe zuerst in den Städten sein Glück versucht, sei mehrmals niedergebrochen, und hierhin, dorthin in diesem Lande verschlagen worden, bis er zuletzt hier Wurzel gefaßt, wo er unter dem Namen Ben Sadun lebte. Ich merkte wohl, daß er nur die halbe Wahrheit sagte. Doch war es unnütz, in ihn zu dringen. Unverholene Bitterkeit gegen die Menschen 302 sprach aus ihm, und Furcht vor ihnen oder Haß gegen sie hatte ihn wohl auch hierher geführt, in die Nachbarschaft der Wüste und festgehalten unter einer gleichgestimmten Bevölkerung. Und dennoch erschloß sich ein reines Gemüt und ein warmes Herz, wenn man vertrauter mit ihm wurde. Das aber schien er vermeiden zu wollen, wie wenn ein Fluch ihn überall forttreibe, wo Glück oder Freundschaft ihm aufs neue lächelte. Lang über die Zelt, die ich mir vorgesetzt, war ich in dem Dorfe geblieben, wo der Verkehr mit Ben Sadun mich fesselte mit immer wachsendem Reiz. Eines Morgens tritt er in mein Zelt. – ›Eduard,‹ sagt er, ›wir müssen scheiden. Ich habe zuviel von Europa, zuviel von Frankreich gehört, um es länger ertragen zu können. Nicht weit von hier, in der nächsten Militärstation, wirbt man Truppen an zu einem Streifzug gegen einen aufständischen Kabylenstamm, und ich habe Handgeld genommen. Lebe wohl!‹ – ›Und sonst nichts?‹ frag' ich beklommen. – ›Sonst nichts,‹ gibt er zur Antwort . . . ›Nichts!‹ . . . ›Und werden wir uns niemals wiedersehen?‹ ruf' ich, ihm nacheilend . . . An der Zelttüre bleibt er noch einmal stehen, mit seinen traurigen Augen mich fast zärtlich anblickend. ›Wer weiß es?‹ sagt er. Dann fällt die Zeltgardine über ihm zusammen und er ist fort.« Eduard schwieg.

»Und das ist das Ende Ihrer Erzählung?« fragte beklommen Helene.

»Es ist das Ende. Für mich aber floß das Schicksal Ben Saduns mit dem seines Freundes unbewußt zusammen und verfolgte mich und ließ mir keine Ruhe, bis ich dem, was eine quälende Vorstellung für mich geworden, einen Ausdruck gegeben in jenem Bilde, welches Sie kennen . . . Oh, wenn ich damals hätte ahnen können, was ich jetzt weiß!« . . . Und er ergriff die Hände Helenens und drückte sie fest und innig an sein Herz.

»Ich verstehe Sie, lieber Eduard,« sagte sie gerührt, »und danke Ihnen! Welche Hoffnung aber bleibt mir?«

Ihr letzter Blick fiel auf das Gemälde, welches sie bei ihrem Eintritt so stürmisch begrüßt hatte. »Wenn es zur Wahrheit würde!« murmelte sie, die Worte Bérangers wiederholend:

  »France adorée!
  Douce contrée!
Puissent tes fils te revoir ainsi tous!...«

303 Dann entfernte sie sich langsam. Bärbel blieb noch eine Weile zurück.

»Geliebte!« sagte Eduard, auf das Bild deutend, »fürchte nicht, daß es jemals dem Blicke der Welt ausgesetzt werden könnte. Für mich allein hab' ich es gemalt, als ich noch nicht wußte, daß ich es auch für dich malen dürfe. Nun aber ist es dein!«

 


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