Julius Rodenberg
Die Grandidiers
Julius Rodenberg

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Freund und Feind

Glöcklin war, was man eine nüchterne, positive Natur nennt, kein Mann, welcher sich Täuschungen hingab, kein besonders empfindsamer Mann, sondern dem Praktischen zugewandt. Er hatte nicht viel Glück gehabt, aber ihn hatte das Unglück nicht niedergedrückt. Er hatte besessen und verloren, was für andere, die mit weniger Ausdauer oder Zähigkeit begabt sind, den Inhalt des Lebens ausmacht; aber er verzweifelte darum nicht. Ihn schützte die Gesundheit seiner Natur vor dem Übermaß jedes Empfindens. Trauer beschattete seine Seele; doch sein Blick blieb hell für das, was möglich und erreichbar war. Erst an jenem Morgen, als die Schreckensnachricht aus Paris eintraf und man ihm meldete, daß sein Schwiegersohn wegen eines gemeinen Verbrechens verhaftet worden – erst da kam über ihn ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit, darum nicht weniger furchtbar, weil es gleichfalls so klar und so deutlich war! Dennoch verlor er weder den Mut, noch die Kraft zu handeln. Er eilte nach Paris; Alfons war bereits im Gefängnis und Helene befand sich in einem Zustande der Agonie. Welche Tage der bittern Qual und mehr noch der bittern Kränkungen für Glöcklin! Er glaubte nicht an die Unschuld seines Schwiegersohnes; es war kein Zweifel, daß dieser sich an einer öffentlichen, ihm anvertrauten Kasse vergriffen hatte. Doch nicht zu seinem eigenen Vorteil; was er getan hatte, das war geschehen, um einem Freunde, welcher in eine hochverräterische Unternehmung verwickelt gewesen, die Mittel zur Flucht zu gewähren. Dadurch erhielt das Verbrechen eine Art von politischem Hintergrund und die Zeitungen der radikalen Partei deuteten an, daß irgendein dunkler, unaufgeklärter Umstand vorhanden sei, welcher auf eine ganz andere Spur führen und das Verbrechen nach einer ganz anderen Seite hinwälzen werde, als die von der Regierung verfolgte. Doch der im kaiserlichen Frankreich auf der Presse lastende Zwang wußte diese Gerüchte schon im Keime zu erdrücken; andererseits hatte die öffentliche Meinung in Paris sich zu sehr daran gewöhnt, die feindlichen Gewalten einander mit Verdächtigungen begegnen zu sehen, als daß ein Manöver dieser Art besonderen Eindruck auf sie machen sollte. Der lange und traurige Kampf des Imperialismus gegen die 172 mannigfach schattierte Masse, welche Widerstand leistete, hatte in seinen äußersten und leidenschaftlichsten Konsequenzen Herrschende und Beherrschte dahin geführt, jedes Mittel zum Zweck, auch das an sich verwerfliche, für erlaubt zu halten, und drohte, je länger, desto mehr, selbst darüber hinaus das Gefühl für die Wahrheit abzuschwächen und den Begriff des Rechtes zu verwirren. Für den geraden Sinn Glöcklins indessen war ein Diebstahl ein Diebstahl; und seine strenge Rechtlichkeit verbot ihm, aus Händen, die selbst nicht rein waren, ein Zeugnis für die Reinheit seines Schwiegersohnes anzunehmen. Aber dessen bisherige tadellose Führung und die Tatsache, daß er durch sein Verbrechen nicht sich habe bereichern, sondern einem unglücklichen, irregeleiteten Freunde helfen wollen, ließen Glöcklin hoffen, man werde Milderungsgründe für ihn plädieren und infolge derselben eine Strafart erlangen können, welche nicht die Ehre berührt. Darauf war sein ganzes mühevolles Bestreben gerichtet. Er gab den Rest seines Vermögens hin, um den Kassendefekt zu decken; er verkaufte sein Haus in Straßburg, um einen der berühmtesten Verteidiger von Paris zu gewinnen – nichts ward geschont, alles geopfert . . . umsonst; das Urteil ward nach dem Buchstaben des Gesetzes gesprochen, Alfons in der Tracht des Sträflings nach Toulon abgeführt – Helene hatte keinen Mann, George keinen Vater mehr und Glöcklin war ein Bettler. Was nun, was nun? . . . Nun war das Maß des Elends wirklich voll und nirgends mehr ein Ausweg. Konnte Glöcklin in Straßburg in den alten Verhältnissen, selbst wenn er gewollt hätte, weiterleben? Er hatte keine Heimat, er hatte kein Haus, er hatte keine Mittel, er hatte keine Freunde mehr. – Denn wer unter ihnen würde den Mut besitzen, einem Manne mit einem solchen Makel auf seinem Namen öffentlich und ehrlich die Hand zu bieten? . . .

Da war das Unglaubliche geschehen – einer besaß den Mut – einer war ihm treu geblieben – der Freund der Jugend, Grandidier hatte sich seiner erinnert und – da war Glöcklin mit den beiden Töchtern und dem Enkel in Berlin.

Wie aus einem schweren Traume war er erwacht. Es war Glöcklin an jedem Morgen, wenn er aufstand und das Fenster öffnete, als ob er tief aufatmen, die Lungen kräftig und weit ausdehnen solle mit dem Bewußtsein des Geretteten. Man kennt ja diese Luft von Neu-Kölln, welche namentlich, 173 wenn die Tage länger und die Stunden wärmer werden, sich mit den aufsteigenden Dünsten der Fabriken und des Spreewassers erfüllt. Aber, mein Gott, das sind Übel, die der nächste Wind verbessert, und an die begleitenden Umstände der Arbeit erinnert zu werden, hat für den Arbeiter nichts Abschreckendes. Und wenn er den Blick darüber hinausschweifen ließ, wie füllte dann die Betrachtung des Wohlseins um sich her, der Stärke, der Gesundheit des Volkskörpers, der sich ordentlich zu recken und zu strecken schien, der Zufriedenheit mit der bestehenden Ordnung, der Eintracht zwischen Regierung und Regierten auch sein Herz mit einem neuen Gefühle der Sicherheit. Dazu schien das eigene kleine Hauswesen gut zu gedeihen, Helene fügte sich, ward stiller, gab zu, daß George das benachbarte Collège – das französische Gymnasium – besuchen dürfe, und Bärbel schaffte fröhlich, mit Lachen und Gesang und ward der Liebling aller.

Ehe Glöcklin nach Berlin gekommen, ja früher, ehe noch ein Gedanke gewesen, daß es jemals geschehen könnte, hatte zwischen ihm und seinem alten Freunde jener Vorfall gestanden, welcher an sich weder sehr ungewöhnlich, noch irgendwie tadelnswert, sondern genau das war, was man den Lauf der Welt nennt. Allein nachmals, wenn die Reihe der Unglücksfälle beginnt, sucht das Gewissen, welches nicht an einen Zufall glauben mag, nach einem Grund und Zusammenhang, und Selbstanklage verwandelt dann zuweilen in eine Schuld, was doch nur das Hergebrachte und unter den gleichen Umständen sich täglich Wiederholende war. Wie befreit daher fühlte sich der brave Straßburger auch in dieser Hinsicht, als er gleich am ersten Abend aus dem Gespräch mit Grandidier die Gewißheit geschöpft, daß dieser viel milder über die Vergangenheit denke als er selber, ihm aus dem Geschehenen keinen Vorwurf mache und der Toten ein freundliches Andenken widme. Mehr bedurfte Glöcklin nicht, um sich vollkommen zu beruhigen; ihm war, als ob das Unrecht endlich verjährt, vergeben und beseitigt sei; als ob er dem Freunde und der Welt wieder offen und ehrlich ins Gesicht sehen und sagen könne: »Da habt ihr ihn noch einmal, den Matthias Glöcklin! Kommt, wir wollen's noch eine Weile miteinander versuchen. Was er zu tragen hat, das wird er tragen, denn er hat – Gott sei Dank! – noch 174 immer seinen breiten Rücken und seine zwei beiden gesunden Schultern!«

Doch erleichtert in diesem Punkte, machte der Zustand seines Freundes ihm Sorge. Was hatte jene Handbewegung zu bedeuten, mit welcher er ihm wehrte, als er den Namen des Sohnes jüngst erwähnt? So streng, ernst und unwiderruflich war diese Ablehnung gewesen, daß Glöcklin seitdem nicht mehr gewagt, wieder darauf zurückzukommen. Immer, wenn er daran gedacht, sah er das plötzlich erbleichende Gesicht und die blutlosen Lippen. Es war eine Lücke, die man überall im Grandidierschen Hause wahrnahm und doch niemals zu bezeichnen wagte; ein Schatten, der immer neben Herrn Grandidier mit unhörbaren Schritten einherging, den jeder sah und keiner anrufen durfte. Wo hätte Glöcklin sich Aufklärung verschaffen können? Zu der übrigen Familie Grandidier war er bisher in kein rechtes Verhältnis getreten. Die Süchiers, deren freundliches und harmlos heiteres Wesen ihn beim ersten Begegnen angenehm angesprochen hatte, waren sehr bald nach seiner Ankunft abgereist; sie hatten ihre Fabrik in Schlesien und pflegten den Sommer auf einem Landsitz in der Nähe derselben zu verbringen. Der Kanzleirat und seine Frau hatten von vorneherein gegen die Fremden eine reservierte Haltung angenommen, als ob sie irgend welches Mißtrauen in sie setzten und als ob sie ihnen auf keinen Fall willkommen seien. Glöcklin versuchte sich einzureden, daß er sie möglicherweise falsch beurteile; doch er hatte die Empfindung und diese schloß natürlich jede Annäherung aus.

Am meisten fühlte er sich zu Frau Grandidier selbst hingezogen, deren Natur der seinen gewissermaßen verwandt war. Gleich ihm stand sie unter dem Druck eines Familienunglücks, welches sie nicht geschaffen, aber ohne sich zu beklagen oder irgend jemand dafür anzuklagen, wacker und still ertrug. Sie gab keinen Laut von sich, der als ein Vorwurf gegen andere oder als ein Seufzer ihres gepreßten Innern hätte gedeutet werden mögen. Sie wollte Schweres nicht noch schwerer machen und besaß Kraft genug, es durchzuführen. Ihr Gemahl, dem man, wie sehr er sich innerlich auch zu beherrschen wußte, doch in seinem Äußeren nur zu sehr ansah, was er litt, mußte sie für das herzloseste, gleichgültigste Wesen von der Welt halten. Doch auch das nahm sie geduldig 175 hin, weil es doch nun einmal nicht anders sein konnte; sie tat ihre Schuldigkeit wie sonst, regierte ihre Wirtschaft wie sonst und saß wie sonst jeden Nachmittag auf der Erhöhung vor dem Fenster ihres Wohnzimmers, wo sie über den Strickstrumpf hinausschauen konnte auf den schmalen Straßendamm am Wasser, auf das Wasser, die Schiffe, die Brücke und das jenseitige Ufer, wie sie einst, vor Jahren, hinausgeschaut, als Eduard da noch spielte. Nun war Eduard fort, aber sie saß noch immer hier, und hier war es auch, wo sie Glöcklin an einem Nachmittage endlich einmal allein traf, nachdem er bisher stets, so oft er es versucht hatte, den einen oder den anderen bei ihr gefunden, entweder ihre Tochter Kanzleirat, oder einen ihrer heranwachsenden Enkel, oder alle drei, oder Bärbel, oder irgendeine Dame aus der Nachbarschaft. Denn auch darin war Frau Luise Dorothea ihrer Gewohnheit treu geblieben, daß sie in dieser Stunde, wie sonst, ihre Besuche zu empfangen und ihre kleinen Audienzen zu erteilen pflegte.

Es war ein Nachmittag im Sommer, und die Linde vor dem Hause Glöcklins blühte. Ganz Berlin roch nach Rosen und Linden. Überall und auch in dieser Gegend am Wasser gibt es große, schöne, dunkle Gärten, und der Wind, wenn er über sie dahinweht, trägt ihren Duft in die Straßen.

»Guten Abend, Madame,« sagte er, indem er in das Zimmer trat, welches die Leser schon von einer früheren Gelegenheit her kennen. Die Rücken und Sitze der Stühle, die Lehnen der Sessel, die Kissen des Sofas und der Kronleuchter waren weiß überzogen wie damals, nicht die mindeste Veränderung war mit all diesen Dingen vorgegangen.

»Einen schönen guten Abend, Herr Glöcklin,« erwiderte sie; »wie geht's? Wie steht's? Was macht Bärbel?«

Sie fragte immer zuerst nach Bärbel; denn das Mädchen war ihr gar ans Herz gewachsen.

»Vielen Dank,« gab Herr Glöcklin zur Antwort. »Sie hält das Haus gut im Stand, ist von früh bis spät unverdrossen, und immer, wenn sie einen freien Augenblick hat, ist's ihre größte Freude, in die blühende Linde hineinzuschauen. Es sei Glücks genug, sagt sie, solch einen Baum vor der Türe zu haben.«

»Das liebe Kind!« entgegnete Frau Grandidier. »Aber wollen Sie sich nicht setzen, Herr Glöcklin?«

Herr Glöcklin ließ sich in den ihm angewiesenen Sessel nieder.

176 »Madame,« sagte er, »ich bin in einer Sache gekommen, die mir sehr am Herzen liegt. Es ist eine Sache, die nur zwischen uns beiden allein verhandelt werden darf und die Zeit ist knapp bemessen. Lassen Sie uns daher den besten Gebrauch davon machen und mich ohne Umschweif fragen: Was, was ist es mit Ihrem Sohn Eduard?«

Frau Grandidier hatte bis hierher harmlos und unbefangen mit ihrem Gaste geplaudert. Als aber dieser den Namen ihres Sohnes genannt, schien sie plötzlich, von dem bloßen Klange desselben, wie verwandelt. Sie blickte scheu und furchtsam und schüchtern nach allen Seiten, ob niemand sie höre, ob niemand an der Tür sei; dann sah sie Glöcklin an und dann sagte sie zögernd, bei jedem Wort stockend und immer wieder aufs neue besorgend, daß sie belauscht werden könne . . . »Mein – Sohn – Eduard . . . in unserem – Hause – darf – ja – nicht – von ihm – gesprochen werden . . .«

Es war rührend, aus diesen abgebrochenen Sätzen auf einmal den ganzen Schmerz des Mutterherzens zu vernehmen.

Glöcklin ergriff die Hand der Frau Grandidier und drückte sie in stummer Bestätigung. »Was ist es?« forschte er dann teilnahmsvoll weiter; »vertrauen Sie mir's an, erzählen Sie mir's – sagen Sie mir's.«

Abermals blickte sie sich nach der Tür um.

»Da ist nicht viel zu sagen,« erwiderte sie hierauf; »und außerdem will mein Mann nicht, daß davon gesprochen werde.«

»Wir sind jetzt aber allein, Frau Grandidier,« drang Glöcklin mit freundschaftlicher Überredung in sie, »und ich brauche Sie wohl nicht zu versichern, daß ich nicht aus Neugier frage. Ich habe ja wohl schon mancherlei gehört und hätte mehr erfahren können; aber Sie werden es begreiflich finden, daß ich als der treue Freund Ihres Hauses in dieser Sache nicht die andern fragen mag.«

»Die andern!« rief nun Frau Grandidier lebhaft, »was wissen die andern davon! Ach, glauben Sie mir, Herr Glöcklin, ein Mensch wird bald vergessen. Ob er nun stirbt oder fortgeht – er wird vergessen . . .«

»Reden Sie doch nicht so, Frau Grandidier,« verwies ihr mit leicht vorwurfsvollem Tone Glöcklin, »Sie meinen es nicht so – Sie gewiß nicht!«

»Die andern!« wiederholte sie noch einmal, als ob sie 177 nicht über diesen Gedanken fortkommen könne. »Versuchen Sie es doch, fragen Sie die andern. Fragen Sie meine Tochter Kanzleirat. Die wird es Ihnen erklären. Die wird Ihnen sagen: ›Man hat es an diesem Jungen in seiner Kindheit versehen. Man hätte strenger gegen ihn sein sollen.‹ – Du lieber, grundgütiger Gott im Himmel, strenger! Als ob es nicht genug und zuviel über ihn hergegangen wäre, auf Schritt und Tritt, solange ich mich besinnen kann. Glauben Sie nicht, Herr Glöcklin, daß ich etwas gegen meine Tochter Lottchen sagen will. Sie ist eine Mutter, und Mütter denken immer zuerst an ihre Kinder. ›Welch ein Beispiel für meine Kinder!‹ ruft sie; ›welch ein Schimpf für die Familie! Dieser Junge,‹ sagte sie, ›hat niemals einen Funken von Gefühl dafür gehabt, was er seiner Familie schuldig sei‹ – aber, Herr Glöcklin, was hat die Familie für ihn getan, was hat sie getan, um ihm Liebe zu zeigen, wo Liebe mehr geholfen hätte als Strenge, oder Nachsicht und Verzeihung, wo er ihrer bedurft. Mit Härte allein erzieht man keine Kinder. Sind es böse Kinder, so töten Sie das Ehrgefühl, und sind es gute Kinder, so töten Sie das Vertrauen – ach, Herr Glöcklin, und mein Sohn Eduard war ein gutes Kind!«

Frau Grandidier berührte das Auge mit dem Taschentuch, dann fuhr sie fort: »Oder gehen Sie zu meiner Tochter Süchier. Sie kennen Berta ja, Sie haben sie vor ihrer Abreise noch gesehen. Sie ist eine gute, liebevolle Seele und sie hat viel auf den Bruder gehalten. Aber ein Bruder ist doch nur ein Bruder. Zuerst kam sie alle Tage und sprach immer von ihm, und weinte und klagte sich an und rief: ›Wir sind alle schuld daran! Wir hätten etwas tun müssen, um es zu verhindern, wir hätten nicht müßig bleiben dürfen.‹ Dann allmählich beruhigte sie sich und sagte: ›Mutter, es hat so kommen sollen, fügen wir uns in das Unabänderliche;‹ und dann fügte sie sich, und dann lachte sie wieder und fuhr wieder spazieren, und dachte nur an ihre Sommerkleider und nahm Abschied, als ob sie niemals einen Bruder Eduard gehabt . . . Nein, lieber Herr Glöcklin, sprechen Sie mir nicht von den andern. Hier sitze ich. Hier bin ich still. Hier denke ich immer und immer an ihn . . .«

Sie mußte ein leises Schluchzen unterdrücken, bevor sie weiter zu sprechen vermochte. »Oft, wenn der alte Bediente hier durchgeht und mich allein sieht und niemand sonst im 178 Zimmer ist, bleibt er stehen und sagt: ›Madame,‹ sagt er, ›ich habe ihn aufwachsen sehen, und wissen Sie noch, Madame, wenn er manchmal am Wasser spielte und Madame waren ängstlich und schickten mich hinunter und ich mußte ihn heraufholen? . . .‹ Ob ich es weiß! Ich weiß noch alles. Ich kenne jeden Sandhaufen, auf dem er gespielt, und jedes Brückengeländer, auf dem er gesessen, und jedes Schiff, in dem er sich versteckt hat. Und neulich, als ich im Keller zu tun gehabt und bei der Remise vorbeikomme, steht der Kutscher in der Tür und sagt: ›Madame,‹ sagt er, ›es ist doch schade um den jungen Herrn. Er kannte meine Pferde und meine Pferde kannten ihn, und nun ist wieder in dem ganzen großen Haus keine Menschenseele nicht, die 'nen Rappen von 'nem Schimmel unterscheiden kann.‹ – Die Leute hatten ihn alle lieb. Wenn er etwas von ihnen wollte, so sagte er: ›Ich bitte,‹ und wenn sie etwas für ihn getan hatten, so sagte er: ›Ich danke.‹ Kein Stolz und kein Hochmut war in ihm, und es gab keinen besseren Menschen als meinen Sohn Eduard!«

Hier machte sich das lang zurückgehaltene Gefühl endlich Luft; und es ergriff den guten Glöcklin in der Seele, die Mutter um ihren Sohn weinen zu sehen.

»Verzeihen Sie, Madame,« sagte er nach einer Weile, »daß ich durch unser Gespräch Ihren Schmerz wieder geweckt habe.«

»Als ob er jemals schliefe,« versetzte Frau Grandidier, ihre Tränen trocknend; »aber es tut wohl, davon zu sprechen.«

»Und haben Sie seitdem nichts mehr von Ihrem Sohn gehört?« nahm Herr Glöcklin die Unterhaltung wieder auf.

Frau Grandidier ward verlegen.

»Er hat ein- oder zweimal geschrieben in der Zeit, die er fort ist; aber die Briefe sind unerbrochen zurückgegangen, wie sie gekommen sind. Grandidier hat ein für allemal den Befehl gegeben, daß Briefe von Eduard nicht angenommen werden sollen.

»Welch eine Härte,« rief Glöcklin, »nicht einmal die Briefe zu lesen!«

Dieser Beschuldigung gegenüber nahm Frau Grandidier sogleich wieder die Partei ihres Mannes. Weh, wie er ihr getan, konnte sie gleichwohl nicht hören, wenn man etwas gegen ihren Mann sagte. »Sie sind sein alter Freund,« 179 sprach sie, »doch Sie kennen ihn immer noch nicht. Was Sie Härte nennen, ist mehr Härte gegen sich selber als gegen den Sohn.«

»Aber vielleicht hätten die Briefe irgend etwas enthalten, was zur Versöhnung geführt.«

»Versöhnung?« sagte Frau Grandidier mit einem tiefen Seufzer.

»Auf jeden Fall, wer hätte Ihnen verdenken mögen, wenn Sie selbst gegen Grandidiers Willen und hinter seinem Rücken gelesen, was der Sohn zu sagen hatte?«

»Herr Glöcklin!« rief Frau Grandidier, fast beleidigt über eine solche Zumutung. »Sie werden mich nicht für fähig halten, Briefe zu erbrechen, welche nicht an mich gerichtet sind und welche die Adresse meines Mannes tragen! . . . Aber freilich –« und nun ward sie rot, und jetzt sah sie wieder nach der Tür, aber nicht nach der Tür allein, sondern diesmal auch nach den Wänden, den Fenstern und der Decke; und erst als sie sich überzeugt, daß alles sicher, öffnete sie das Schubfach ihres Nähtischchens und in diesem ein kleines verstecktes Kästchen und nahm einen Brief heraus, welchen sie Herrn Glöcklin reichte. »Dieses Schreiben,« sagte sie, »ist an mich adressiert gewesen, deswegen habe ich es erbrochen und behalten.«

Sie kannte den Brief auswendig, jede Zeile, jedes Wort; und jetzt, indem Glöcklin das Blatt entfaltete und las, folgte sie ihm in Gedanken und wußte immer ganz genau, an welcher Stelle er halte. Alle Empfindungen machte sie noch einmal durch, wie an dem Tage, wo sie das Schreiben empfangen: tödlichen Schrecken, als sie die Handschrift Eduards sah – Zweifel, ob sie den Brief annehmen dürfe – Sehnsucht nach dem Sohne, dem jedes Bedenken wich – Seligkeit, daß seine Liebe zur Mutter unverändert sei – Stolz, wo er voll edeln Selbstgefühls von seinen Fortschritten sprach, und eine bange, unbestimmte Ahnung, als ob er nicht alles gesagt, als ob er vielleicht etwas, aus Schonung für sie, verschwiegen habe.

»Er schreibt, wie nur ein tüchtiger Mann unter solchen Umständen schreiben kann,« sagte Glöcklin. »Schwierigkeiten und Kämpfe bleiben für niemand aus; und er in seiner Lage wird auf mehr als jeder andere gefaßt sein müssen. Aber er sagt in seinem Briefe hierüber ein schönes Wort: ›Ich habe 180 schon gesehen, daß auch die Kunst auf einer schweren, ernsten Arbeit beruht, und das macht mich froh.‹ Wer so spricht, Frau Grandidier, auf den können Sie sich verlassen.« Er legte hierauf den Brief wieder zusammen und gab ihn zurück.

»Geliebter Sohn!« rief Frau Grandidier, indem sie den Brief inbrünstig an die Lippen drückte, bevor sie ihn wieder in dem Schubfach und Kästchen verbarg, was sie jedoch nicht tat, ohne sich abermals der Decke, der Fenster, der Wände und der Tür versichert zu haben. Es war übrigens die höchste Zeit, was nämlich die letztere betraf. Sie hatte sich während der Vorsichtsmaßregeln der Frau Grandidier ein ganz klein wenig aufgetan, und durch den Spalt schaute das reizende Köpfchen Bärbels herein.

Der Vater ward etwas unwillig, gestört zu sein, aber Bärbel, mit einem raschen Blick auf das noch nicht völlig geschlossene Schubfach, rief: »Oh, das kennen wir längst; gelt, Mama?« Und mit offenen Armen flog sie auf Frau Grandidier zu, welche sich vorhin die Miene gegeben, als ob Herr Glöcklin der einzige Mensch auf der ganzen Welt sei, welchen sie in ihr Vertrauen eingeweiht und den Brief habe lesen lassen. »Brauchst nicht so ernsthaft dreinzuschauen, Babbe,« sagte sie, den Vater beruhigend; und dann, sich wieder an Frau Grandidier wendend, setzte sie hinzu: »Nun aber auch das Bild!«

Diese machte ein ziemlich betroffenes Gesicht, wie es eine Frau wohl machen kann, die sich verraten sieht. Doch nicht lange, so warf sie dem Mädchen wieder ein gutmütiges Lächeln zu und sagte: »Ja, ja, ich will es nur bekennen, ich habe Bärbel das Bild sehen lassen, und Sie sollen es auch sehen, Herr Glöcklin.«

Hierauf öffnete sie das Tischchen noch einmal, welches die Bestimmung zu haben schien, außer ihren Strick- und Nähutensilien auch ihre Geheimnisse zu bewahren – ein Umstand übrigens, der den meisten ihrer Freunde wohl bekannt war und jenen daher einen großen Teil ihres Reizes nahm. Es war ein merkwürdiger alter Tisch von gelbem Holz mit rot eingelegten Rändern, mit Schlössern, welche alle zusammen nicht schlossen und zu welchen außerdem seit undenklicher Zeit die Schlüssel verloren waren. Frau Grandidier war, wie man sich aus diesen Andeutungen überzeugen wird, keine besondere Frau für Geheimnisse, und diejenigen, die 181 sie hatte, waren von einer äußerst unschuldigen Natur. Sie klappte einen Deckel auf und nahm dann einen Einsatz aus dem Schubfach, welches seiner ganzen Konstruktion nach wahrscheinlich den Anspruch erhob, für sehr mysteriös zu gelten und es in den Augen der Frau Grandidier auch war, obwohl früher ihre Kinder und jetzt bereits ihre Enkel besser darin Bescheid wußten als sie selber. Doch beide Generationen hatten sich bald überzeugt, daß selbst auf der untersten Tiefe dieser versteckten Behälter, unter Garnknäueln und Nadelkissen, keine kostbareren Dinge zu finden seien als alte Schulzeugnisse und Dienstbücher, die mindestens ebenso alt waren, da die Domestiken der Frau Grandidier seit Menschengedenken nicht gewechselt hatten – mit Ausnahme der Köchin, und diese war auch schon seit zehn Jahren im Hause. Auf diese Weise war die Harmlosigkeit von Frau Grandidiers Versteck der beste Schutz desselben. Denn wenn sie nun auch ich weiß nicht was darin verborgen hätte, es würde doch niemand eingefallen sein, gerade hier danach zu suchen. Was freilich nicht hinderte, daß sie selbst mit der äußersten Umständlichkeit und Vorsicht bis zu einem gewissen doppelten Boden vordrang, denselben durch einen – ihrer Meinung nach – nur ihr bekannten Kunstgriff sprengte, ein Papier herausnahm und aus dem Papier eine Photographie, welche sie endlich Herrn Glöcklin reichte.

»Das ist also Eduard Grandidier,« sagte dieser, indem er mit Aufmerksamkeit und Wohlgefallen die schönen Züge des jugendlichen Mannes betrachtete, welchen das Bild darstellte. – »Er ist auf den ersten Blick genau das Ebenbild des Vaters, wie ich ihn damals gekannt habe in Paris. Ja, ja, Madame, er war ein hübscher Mann zu seiner Zeit!«

Frau Grandidier schlug die Augen verschämt nieder. »Er war es,« sagte sie, »ich kann mich dessen noch recht gut erinnern.«

»Es ist die freie Stirn,« fuhr Glöcklin fort, »das Haar leicht über derselben zurückgestrichen, ein Ausdruck der Offenheit im ganzen Gesicht, der jedes Herz gewinnen muß – es ist genau dieselbe Form des Kopfes –«

»Da mögen Sie wohl recht haben, Herr Glöcklin,« fiel nun Frau Grandidier ein, als ob sie auf diesen Passus der Personalbeschreibung ganz ausdrücklich gewartet hätte. »Der Kopf! Der ist es! Es ist der Grandidiersche Kopf, der immer 182 durch, gerade durch sagt; der nicht nachgeben kann; der seinen Willen haben muß, und ob auch alles darüber zugrunde ginge. Sagen Sie mir, mein lieber Herr Glöcklin, wie ist es nur möglich, daß ein und derselbe Mensch zugleich ein so weiches, gutmütiges Herz und einen so harten, störrischen Kopf haben kann?«

Herr Glöcklin schwieg. Vielleicht, daß er die Lösung dieses Rätsels nicht wußte, welches schon manch einen, der ein größerer Psycholog war als er, hoffnungslos beschäftigt. Vielleicht auch nahm er die Frage mehr von der moralischen Seite. Frau Grandidier hatte sie so gestellt, daß es unentschieden blieb, ob sie den Vater oder den Sohn oder beide gemeint habe. Glöcklin beschränkte sich daher, statt aller Antwort noch einmal das Bild scharf anzusehen und dann zu sagen: »Die Ähnlichkeit mit dem Vater läßt sich nicht verkennen. Allein es ist doch auch ein anderes darin . . .«

Mit einer Regung mütterlichen Ehrgeizes war Frau Grandidier den Auseinandersetzungen Glöcklins gefolgt; sie erwartete, nachdem ihr Mann seinen Teil erhalten, daß auch sie nun auf den ihrigen kommen werde. Allein Glöcklin, das Bild unverwandt ansehend, fuhr fort: »Ein Ausdruck von einer ganz anderen Art und Natur, ein Besonderes – und Fremdes – ein Blick . . .«

»Ja, welch ein Blick,« nahm nun Bärbel das Wort, indem sie, auf die Schulter des Vaters gelehnt, mit ihm zusammen das Bild betrachtete; »welch ein Blick!«

»Still doch, Kind,« verwies sie der Vater, »du mußt nicht dreinreden! . . . Ein unentschlossener Blick, wenn ich so sagen darf, ein zögernder und schwankender, und doch wieder ein plötzlich hervorspringender Funken von Energie, die von dem einmal Ergriffenen nicht mehr läßt, und von Tatkraft, die es durchführt . . .«

Frau Grandidier hatte von dem Urteil Glöcklins eine bestimmtere Hindeutung auf die Ähnlichkeit des Sohnes mit ihr erwartet; es tat ihr ordentlich wehe, daß er darüber gar nichts sagte, sondern statt dessen Eigenschaften nannte, von denen sie nur einen höchst unklaren Begriff hatte und sich außerdem vollkommen frei wußte. »Es mag wohl sein,« erwiderte sie, »daß von all dem etwas in ihm war; er ist immer ein wunderlicher Junge gewesen. Als Knabe war er von einer offenen und zutraulichen Gemütsart, tummelte sich 183 den ganzen Tag draußen herum und hatte eine Schar von Kameraden, mit denen er Lärm und dumme Streiche genug machte. Später aber, als der unselige Zwist mit seinem Vater begann, ist er immer stiller geworden, man konnte nichts mehr aus ihm herausbringen, und zuletzt war er ganz stumm. Wollen Sie wohl glauben, daß er stundenlang oben auf unserm Boden saß, zwischen den alten Möbeln und Papieren, die da herumliegen? Heimlich schlich er dort hinauf und verträumte die Zeit, bis mein Mann, als er es endlich merkte, die Tür zuschloß.«

»Ja,« sagte Glöcklin, »man sieht's,« und mit diesen Worten gab er das Porträt der Frau Grandidier zurück. »Es ist ein seltsames Gemisch von Weichheit und Festigkeit, von Freundlichkeit und tiefem Ernst, ein Charakter, für den ich schwer die rechte Bezeichnung finden könnte.«

»Aber ich,« rief Bärbel, die mit immer mehr erglühenden Wangen der Erzählung von Eduards Mutter gelauscht hatte. »Armer Mensch,« fuhr sie mit einem Ton schmerzlich inniger Sympathie fort, »wie viel magst du gelitten haben! Einsam im Elternhaus, einsam in der Welt, unverstanden, mißachtet und verkannt, mit dem Geheimnis in deiner Brust!« Sie hatte, während sie sprach, den schönen Kopf auf die Brust sinken lassen, und es war etwas über sie gekommen, über ihr liebliches Antlitz und ihre feine, knospende Gestalt – etwas Schamhaftes, was dem Kinde fremd und schon der Jungfrau gehörte.

»Was verstehst denn du davon?« ließ sie der Vater einigermaßen befremdet an.

»O Vater,« versetzte sie sanft, fast bittend, »ich hab's ehedem auch nicht gewußt. Aber seit ich das Bild da gesehen, mein' ich, ich müßte etwas davon verstehen. Ich meine seitdem, daß es Menschen gibt, welche etwas Sonntägliches haben, etwas, was die Erde schöner und lustiger macht, und doch zugleich etwas andächtig Feierliches, was auf das Ewige hinzeigt . . . etwas Sehnsuchterweckendes, wie ein sehr schönes Gemälde oder Musikstück oder Gedicht . . . ich bitt' dich, Vater, nun schau dir das Bild an und sag selber –« und hiermit nahm sie das Porträt Eduards noch einmal von dem Tisch, auf welchen es die Mutter gelegt hatte. – »Es ist ein Zug von Traurigkeit darin, der, wenn du lange hineinschaust, sich in ein Lächeln verwandelt, und wenn du das Lächeln 184 festhalten willst, gleich wieder die frühere Traurigkeit annimmt. Es ist ein Ausdruck von Gutmütigkeit und Schwärmerei in dem Blick, als ob dieser so recht seine Freud' hätt' an den Dingen um sich her und doch wieder so weit, weit darüber hinausschweifen müßt' – ich weiß nicht, in welche Ferne . . .«

Sie hatte den Kopf erhoben, und das volle braune Haar mit beiden Händen zurückstreichend, schien sie selber in Träumerei verloren, wie der warme Schein des späten Sommernachmittags sie umfloß. Zugleich verwundert und voll einer wahrhaft mütterlichen Zärtlichkeit hingen die Blicke Frau Grandidiers an Bärbel. »Mädchen,« fragte sie, »woher hast du das? Genau so, wie du sagst, war Eduard!«

»Weiß ich's?« versetzte diese; »vielleicht vom Bilde selbst. Das aber, Vater, was dir fremd war in seinen Augen, das Rätselvolle, für welches du keinen Namen fandest, ich will dir sagen, was es ist. Es ist Licht vom Himmel – es ist die Seele des Künstlers!«

»Um Gottes willen,« rief Frau Grandidier, »sprich das Wort nicht so laut aus.«

Die Tür hatte sich abermals geöffnet, und der alte Diener war eingetreten. Eben fand Frau Luise Dorothea noch Zeit, das Bild zu verbergen und den gelben Nähtisch zu schließen, der in all seinen dreißig Jahren nicht so unschuldig ausgesehen wie heute, wiewohl er in all der langen Zeit niemals mehr Grund zum Gegenteil gehabt hätte.

Der Diener meldete den Professor Bestvater, und Frau Grandidier ließ ihn bitten, einzutreten. Aber Herr Glöcklin erhob sich.

»Sie werden doch nicht gehen?« fragte Frau Grandidier.

»Doch,« gab dieser zur Antwort. »Ich will noch einmal in die Fabrik hinüber, und außerdem – dieser Professor ist nicht mein Mann.«

»Ach,« sagte die gutmütige Frau, »man gewöhnt sich an alles. Er ist so 'ne Art von Hausmöbel, und die schafft man schwer ab.« Dabei warf sie einen mitleidigen Blick auf den gelben Nähtisch, als ob sie ihm zu verstehen geben wolle: Du brauchst dich auch nicht zu fürchten.

»Doch ist ein Unterschied,« erwiderte Herr Glöcklin, der in gewissen Dingen, wo es sich um ein Urteil handelte, auch hartnäckig sein konnte. »Alte Möbel können nur Schaden leiden; solche Menschen können aber auch Schaden stiften.«

185 Die letzteren Worte waren mehr für sich als für Frau Grandidier gesprochen, welche ganz in Anspruch genommen war, den einen Herrn zu verabschieden und den anderen zu empfangen.

Der Professor ward jetzt nur noch selten in dem Hause gesehen, dessen gastliche Zusammenkünfte und festliche Abende er früher so sehr geziert hatte. Jener erste Mißerfolg, welcher durch die Dazwischenkunft des Obersten veranlaßt worden, war nicht spurlos vorübergegangen. Er hatte ihn in der Meinung dieses Kreises, in welchem er so lange unbestritten gegolten, sehr herabgesetzt. Denn der Makel der Lächerlichkeit ist schwer zu verwischen. Außerdem fehlte die Gelegenheit dazu. Seit Eduards Fortgange war es stille bei den Grandidiers geworden und mit dem Einzug der Straßburger ein Element hinzugekommen, welches noch weniger nach dem Sinne des Professors sein mochte. Sie erinnerten ihn durch ihr bloßes Dasein beständig an den verhängnisvollen Abend, an welchem sein Stern zu bleichen begann; sie mahnten ihn durch ihre Gegenwart, daß – sichtbar oder unsichtbar – der Feind in der Nähe. Sie waren ihm unbehaglich, diese Leute, die nach seiner Meinung etwas an sich trugen, was die gesellige Freude verscheuchte; deren Biederkeit ihm nur eine Maske zu sein schien, hinter welcher die Berechnung sich verbarg. »Sie sind Duckmäuser,« pflegte er zu sagen, »alles an ihnen ist geziert und gemacht, selbst die Sprache. Ich traue dieser schwäbelnden Gemütlichkeit nicht.«

Aber auch mit dem Professor war eine Veränderung vorgegangen. Das edle Selbstvertrauen, welches den Mann auszeichnete, der die Gesellschaft so lange beherrscht, die Sicherheit des Erfolges waren von ihm gewichen. Immer, wenn er das Glas ergreifen und seinen Trinkspruch ausbringen wollte, fiel jene unglückselige Stunde ihm ein. Er fühlte die Hand des Schicksals über sich. Er war ja freilich nicht auf das Grandidiersche Haus allein angewiesen. Eine neue Gesellschaftsklasse war damals in der Bildung begriffen, die großen Luxus trieb und zur Begründung ihrer Ansprüche für notwendig hielt, überall auf den ersten Plätzen gesehen zu werden. Alles, was Geld vermochte, war oder kam in ihren Besitz. Sie beschützten die Kunst. Sie waren in den ersten Vorstellungen. Sie drängten sich in die teuren Konzerte. In diesen Salons war der Professor bald eine heimische Figur geworden. Denn 186 er war ein toleranter Mann. Allein was half es ihm? Sie hätten ihm helfen können, wenn sie gewollt; doch an Freundschaftsbeweise von einem solchen Umfang, als notwendig gewesen, um ihn zu »retten«, waren diese Männer noch nicht gewöhnt. Kleinere Darlehen zu geben waren sie allenfalls bereit; und Professor Bestvater hatte sich in aller Stille und Verschwiegenheit bereit gezeigt, sie zu nehmen. Doch selbst damit konnte man im Verlauf eines Jahres nur einmal, höchstens zweimal kommen; und alles zusammen – was bedeuteten diese Kleinigkeiten? Sie hielten um keine Stunde das Nahen jenes Tages auf, jenes schrecklichen Tages, an welchem der Wechsel fällig ward, dessen Existenz, wie er glaubte, ein Geheimnis war zwischen ihm und ihr! Was waren ihm fortan diese strahlenden Säle, diese blumengeschmückten Tafeln? Wenn das fröhliche Fest vorüber, mußte er zurück in die Gefangenschaft, in das Hinterhaus, in die Hinterstube, dorthin in die Rosmarinstraße, wo sie wachte, bis er zurückkehrte. Er beneidete die Obdachlosen, die unter freiem Himmel übernachteten. Er dachte an Flucht. Aber wohin? Es gab in der ganzen Welt keinen nur halb so angenehmen Platz wie Berlin. An Selbstmord. Ihm schauderte. Denn er liebte das Leben und konnte sich nicht entschließen, den Kelch fortzuschleudern, solange noch ein Tropfen darin. Aber viel Bitterkeit war damit gemischt. Die neuen Schönheiten, die ihn mit hochfrisierten Toupets, mit Perlen im Ohr, mit Brillanten an Hals, Brust und Handgelenken umgaben –jede von ihnen mehr als das Doppelte von dem wert, was ihn hätte glücklich machen können – verscheuchten das Bild derjenigen nicht, die immer drohender vor ihm stand, und das Gefühl seiner Schuld vergällte ihm vollends jeden Genuß. Mit irgendeiner moralischen Schuld würde dieser weltkundige Mann sich vielleicht im stillen abgefunden haben, aber die seine war eine höchst materielle, und sie gab ihn ganz in die Hände des unerbittlichen Fräuleins, aus denen nur noch ein Wunder ihn erlösen konnte. – Das war es, was sein Gemüt niederdrückte, seinen Gesprächen einen Anflug von Schwermut und selbst seinen Tischreden eine melancholische Färbung verlieh.

In seiner äußersten Not und Bedrängnis dachte er an Grandidier. Es war in Anbetracht des Umstandes, daß der alte Herr das Geld festhielt, eine Hoffnung, nicht besser als 187 ein Strohhalm. Aber der Mensch, wenn er in Verzweiflung ist, greift nach einem solchen.

Es kam ihm ganz gelegen, zuerst mit Frau Grandidier zu sprechen, denn er kannte ihr weiches Herz; obwohl es ihm sehr ungelegen kam, sie in Gesellschaft des fremden Mädchens zu finden, das ihm – er wußte nicht warum – in innerster Seele zuwider war; eine Empfindung, die das fremde Mädchen durchaus erwiderte.

Der Professor nahm Platz und räusperte sich. Er konnte doch nicht in Gegenwart dieses Mädchens, in welcher er die Verbündete seines Feindes sah, den zarten Gegenstand berühren. Doch so viele Zeichen der Ungeduld er gab und so unruhig er auf seinem Stuhle hin und her rückte, sie machte keine Miene zu gehen. Er mußte sich daher wohl oder übel entschließen, der Sache näherzutreten. »Vorsicht, Bestvater!« rief er sich in Gedanken zu; »hier muß man vorsichtig zu Werke gehen und einen kleinen Umweg nicht scheuen.«

»Herr Grandidier nicht zu Hause?« fragte er dann, obwohl über diese Tatsache kein Zweifel war. Der alte Knüppel hatte ihn schon unten damit bekannt gemacht.

»Nein,« versetzte die gutmütige Frau Grandidier, die – wie sie früher bemerkt – gleich nachsichtig gegen alte Möbel und alte Bekannte war. »Weiß Gott, er ist oft jetzt ganze Tage nicht zu Haus.«

»Das kennt man, das kennt man,« sagte der Professor mit einem tiefen Seufzer des Verständnisses. »Ach, Frau Grandidier, wenn das Gemüt nicht in Ruhe ist! . . . Keine Nachrichten vom Herrn Sohn?«

»Keine,« gab Frau Grandidier zurück, nachdem sie sich durch einen Blick auf ihren Nähtisch dieses ihres stummen Vertrauten versichert hatte.

Das »fremde Mädchen« saß immer noch unbeweglich, und der Umweg, welchen der Professor zu machen hatte, ward immer größer. Denn der Blick Bärbels ruhte auf ihm, und dieser Blick verdroß ihn über die Maßen. Er erinnerte ihn in gewisser Weise an den Blick des Obersten und an den Abend, mit welchem das Unheil begann. Aber »Courage, Bestvater,« rief er seiner zagenden Seele zu, »du wirst dich nicht zum zweiten Male aus der Fassung bringen lassen –und nun gar von einem Mädchen!« – Er fuhr daher fort: »Sie wissen es, wie lieb ich den Jungen gehabt habe – Sie wissen es, Frau Grandidier.«

188 Bärbel zuckte zusammen auf ihrem Sitz. Sie gönnte es diesem widerwärtigen Menschen nicht, daß er Eduard liebgehabt habe, und sie glaubte es auch nicht. Sie ballte die kleinen zierlichen Hände und warf dem Professor aufs neue einen Blick zu, der ihm nichts Gutes bedeuten sollte. Gott weiß, welcher schadenfrohe Dämon ihn regierte, als er, sich vor die Stirn schlagend, plötzlich ausrief: »Ich hab's, Frau Grandidier, ich hab's!« Ahnte er vielleicht, was in dem Herzen des Mädchens vorging?

Frau Grandidier sah ihn groß an.

»Ach, wenn ich bedenke,« sagte er, »was für ein Haus dieses früher gewesen und was es jetzt ist! Welch ein Glanz war auf demselben! Es war ein offenes, glückliches, zufriedenes, geselliges Haus, in welchem heitere Menschen ein und aus gingen, bis zu dem Augenblicke, wo der falsche Freund es betrat . . . Bitte, Frau Grandidier, unterbrechen Sie mich nicht! – Sie sehen, der alte Hausfreund ist noch einmal gekommen, um zu warnen und zu raten. Unaufhörlich ist die Sache mir durch den Kopf gegangen; denn hier ist keine Zeit mehr zu verlieren. Hier muß etwas getan werden.«

»Da ist nichts mehr zu tun, Herr Bestvater,« erwiderte die Angeredete traurig.

»Doch,« versetzte der Professor. »Wenn man's nur auf die rechte Weise versucht. Aber ich hab's, Frau Grandidier, ich hab's! Der Junge muß heiraten!«

Ganz entsetzt fuhr Frau Grandidier zurück.

»Damit ist jetzt nichts mehr auszurichten. Daran hätten Sie früher denken sollen,« sagte sie.

»Hab' ich nicht daran gedacht?« erwiderte der Professor; »kein Mensch in dem ganzen Hause hat so viel daran gedacht wie ich. Fragen Sie nur Ihre Tochter, die Frau Kanzleirat, die wird's mir bestätigen, die war immer auf meiner Seite.«

»Der Junge hat aber nicht gewollt!« verteidigte sich Frau Grandidier.

»Das eben war's!« fuhr der Professor fort. »Damals hat er nicht gewollt. Wer weiß, ob er jetzt nicht wollen wird.«

»Sie scherzen oder Sie kennen meinen Eduard schlecht,« sagte Frau Grandidier, fast entrüstet über die Wendung, welche das Gespräch genommen. »Und außerdem, was wäre damit gewonnen?«

»Was damit gewonnen wäre?« rief der Professor, 189 »alles! – Die Aussöhnung, der Friede, das Glück und neue Emporblühen des Hauses; und dann wird sich's auch zeigen, wer der aufrichtige Freund dieses Hauses gewesen, derjenige, der dem Sohne geholfen hat, daraus zu entfliehen, oder derjenige, der alles aufgeboten, um ihn wieder zurückzubringen.«

»Das ist alles recht gut,« erwiderte Frau Grandidier; »aber ich glaube, daß weder der Vater noch der Sohn darauf eingehen werden.«

»So!« sagte der Professor, »das wollen wir doch sehen! Lassen Sie nur erst einmal die rechte kommen, Frau Grandidier, die rechte!«

Mit tiefem Erröten war Bärbel diesem Gespräche gefolgt. Länger konnte sie's nicht ertragen. »Pfui!« rief sie aus, »was sind das für Sachen!« Dann aber, sich rasch besinnend, trat sie auf Madame Grandidier zu, sagte, daß sie nicht länger bleiben könne, da man sie zu Haus erwarte, umarmte die gute Frau leidenschaftlich, riß sich dann plötzlich los, gönnte dem Professor keinen Blick und ging.

»Das muß ich sagen,« sprach der Professor, dem Mädchen nachblickend, »das nenn' ich gute Manieren! So mag es wohl in Straßburg Mode sein und unter den Leuten im Elsaß; aber es paßt sich doch nicht für Berlin.«

»Sagen Sie mir nichts auf das Mädchen!« rief Frau Grandidier mit der größten Entschiedenheit. »Es ist ein seltsames Mädchen, aber auch ein aufrichtiges, und ich hab's von Herzen lieb darum. Und wissen Sie was, Herr Bestvater? Warten Sie mit Ihrer Angelegenheit, bis mein Mann heimkehrt – er wird gewiß nicht lange mehr ausbleiben, ich erwarte ihn zum Abendessen. Der arme Mann!« fügte sie mit einem Ausdruck aufrichtigen Mitleids hinzu; »er hat so wenig auf der Welt! Und da laß ich ihm nun an jedem Abend eine große Schüssel voll Oderkrebse kochen; denn die hat er immer für sein Leben gern gegessen, und etwas muß der Mensch doch haben!«

»Oderkrebse?« wiederholte der Professor in einem Tone der Resignation, als ob es ihn einen gewaltigen Entschluß koste, auf Oderkrebse einzugehen. Dann aber, nachdem er mit sich einig geworden, sagte er: »Nun, es soll mir nicht darauf ankommen, ich werde bleiben.«

Unterdessen ging Bärbel, das kleine Herz voll Zorn und Weh, dem väterlichen Hause zu. Die linden Lüfte kühlten 190 ihre heißen Wangen. Sie stampfte mit dem Füßchen auf den Boden. »Das ist ja ein ganz abscheulicher Mensch,« rief sie, »ein wahrer Unhold!« Dann ward es allmählich ruhiger in ihr. Die Sommerabendwärme hing noch an den Häusern; sie schimmerten rötlich, und hier und dort in weitem Umkreise leuchteten die Fenster. Als sie an der Fischerbrücke vorbeikam, strahlte die ganze Glut der untergehenden Sonne ihr ins Gesicht und blendete sie förmlich. Sie rieb sich die Augen, und als sie wieder aufblickte, ragten links die Türme der Stadt in das golden bestrahlte Firmament und rechts von ihr, schon in traulichem Schatten, stand die Linde, die ihr so lieb war. »Gott sei's gedankt, daß ich wieder zu Haus bin – daß ich wieder ein Haus und eine Heimat hab' –« und sie stieg die Treppe empor und in das Kämmerlein, wo eben der kleine George zu Bett gebracht worden war. Er streckte ihr die Arme entgegen; sie aber rief ihm zu: »Du, bleib' hübsch ruhig, ich setz' mich zu dir!« Und sie setzte sich an sein Bett, und er, im Einschlafen, reckte sich plötzlich wieder in die Höhe und sagte: »Du, Bärbel, wo mag jetzt mein Vater sein?«

»Sei ruhig, Bub'!« rief sie und begann ein Lied zu singen, welches sie einmal an einem Abend, als die Sonne wunderschön über den Vogesen niederging, in Bischheim von einer Mutter mit zwei Kindern hatte singen hören und das also begann

»Im Garten wächst ein Blümelein,
Das heißt Vergißnichtmein!«

 


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