Julius Rodenberg
Die Grandidiers
Julius Rodenberg

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Herrn Grandidiers Villa

So verging ein Jahr, während dessen Verlauf Herr Grandidier kaum inne ward, wie weit er sich von seinen bisherigen Gewohnheiten und seiner früheren Auffassung des Lebens entfernt hatte. Er hatte sich das Leben in einer anderen Gestalt, als er es unter Arbeit und Mühe fast ein halbes Jahrhundert geführt, nicht vorstellen, er hatte sich nicht denken können, daß in diesem Punkte von Selbstbestimmung oder freier Wahl zu reden erlaubt, ja nur möglich sei.

Das Geschäft war nach seiner Meinung etwas gewesen, was dem Menschen angeboren wird wie sein Stand, sein Name und seine Religion. Die Neigung hat damit nichts zu schaffen. Es war ein Gesetz, dem man gehorchen, eine Pflicht, in die man sich finden muß. Es war eine Notwendigkeit, so gut wie irgendeine andere, gegen welche sich aufzulehnen ihm als Torheit oder Verirrung galt. Wahrscheinlich war dies auch noch seine Meinung, und wenn nicht, so war Herr Grandidier gerade der rechte Mann, um es einzugestehen. Denn darin war er immer noch unverändert. Allein das hinderte nicht, daß sein Widerwille gegen die frühere Tätigkeit sich immer mehr steigerte, bis er ganz unüberwindlich 202 geworden war. Er gab seinem Unglück schuld oder schob es auf seine zunehmenden Jahre. Noch immer war er nicht so weit, sich selbst verantwortlich zu machen; er suchte den Grund außer sich. Er war der brave, der willensstarke Mann, der immer nur konsequent nach seiner Überzeugung gehandelt; das Unrecht der anderen war es, welches ihm sein Leben verbittert hatte. »Ich muß Zerstreuung haben!« rief er aus; »so wäre es nicht länger mehr gegangen.« Er vermied es, seine Leute bei der Arbeit zu sehen. Er wollte vom Geschäft nichts hören, wenn Glöcklin zuweilen davon zu sprechen anfing. Es ging so weit, daß ihm zuletzt der Geruch der Fabrik unangenehm wurde. »Dahinein bringen mich keine zehn Pferde mehr,« sagte er; »aber nur Geduld, Luise Dorothea, wenn wir erst draußen sind, wird alles anders werden.«

Frau Luise Dorothea zur Geduld ermahnen! – sie, die geduldigste aller Frauen, die jahrelang dort auf ihrem Eckplatz am Fenster gesessen, in Freuden einst, und in stillem Leid jetzt – die sich aber doch nichts Besseres wünschte, da es nun einmal so geschehen, als immerfort hier sitzen zu dürfen, und der es schier unfaßbar dünkt, daß man das alte Leben gegen ein neues vertauschen solle! Sie hatte wohl ein Auge, wenn auch kein rechtes Verständnis für das seltsame Treiben ihres Mannes; sie schwieg, aber sie dachte genug. »So, genau so – nur etwas sanfter und bescheidener – sprach Eduard, und deshalb hat er ihn verstoßen! Nun ist er selber nicht besser. Aber – Gott verzeih mir's! – womit wir gesündigt haben, damit werden wir gestraft.« Sie wünschte gewiß ihrem Mann nichts Böses; aber der Gedanke an den Sohn drängte sich unwillkürlich auf, und wenn sie auch das eigentliche Motiv nicht begriff, damals so wenig wie heut, so bemerkte sie doch die Ähnlichkeit und den Zusammenhang.

Indessen war das neue Haus fertig geworden, dessen Bau während eines ganzen Jahres Herrn Grandidier so sehr beschäftigt, daß er an nichts anderes gedacht, von nichts anderem gesprochen und für nichts anderes Sinn gehabt hatte; als ob Häuser zu bauen der wahre Zweck und die eigentliche Aufgabe seines Lebens sei, die er jetzt erst richtig erkannt habe. Es hatte übrigens auch nicht wenig Mühe gemacht. Schon die Erwerbung des Platzes war eine Hauptaffäre gewesen. Außer einer Wachsbleiche, die sich daselbst befunden, besaßen auch die Bewohner der benachbarten 203 Dorfschaft Gerechtsame an demselben. Das alles mußte nun erst abgelöst, Verhandlungen mit Ratspersonen und Notaren mußten gepflogen, Eingaben gemacht und überhaupt viel Umsicht und Klugheit angewandt werden. Denn diese weisen Väter, sobald sie nur einmal merken, daß man es auf ein Grundstück abgesehen hat, gehen mit ihren Forderungen gleich in die Höhe. Das Bambusrohr, das mit dem goldenen Knopfe, welches Herr Grandidier ehemals so hoch geschätzt hatte, sah man nicht mehr. Aber der braune Rock, der sonst nur bei wichtigen Angelegenheiten zum Vorschein kam, der war jetzt in Permanenz. Denn Herrn Grandidiers ganzes Leben bestand jetzt nur noch aus wichtigen Angelegenheiten – aus solchen, wir bedauern es zu sagen, die ihm früher für einen Mann seines Standes, Inhaber der Firma Grandidier, als sehr unnütz, sehr zeitraubend, ja sehr töricht vorgekommen sein würden. Aber so ist der Mensch; und Herr Grandidier schreckte nicht vor Schwierigkeiten zurück, wenn er seinen Kopf einmal auf etwas gesetzt hatte, wiewohl er sehr bald innewerden sollte, daß Häuser zu träumen billiger ist, als Häuser zu bauen. Er ein Haus bauen, rein zum Vergnügen – eine Villa in romantischer Lage! – Zuweilen, wenn er sich recht darauf besann, kam ihm die Sache so komisch vor, daß er selbst darüber lachen mußte. Doch auch das überwand er, und zuletzt nahm er sie höchst ernsthaft, wie sie genommen werden mußte. Er ward mit Leib und Seele Architekt. Ganze Haufen von Büchern, Abbildungen und Beschreibungen schleppte er zusammen und studierte sie, bis er das Ding so gut verstand wie sein Baumeister. Diesem freilich ward angst und bange, wenn Herr Grandidier kam, um ihm eine neue Idee mitzuteilen, wobei er von Gotik und Renaissance, von Grundbau und Oberlicht sprach, von Simsen und Säulen, als ob er Zeit seines Lebens nichts anderes getan hätte, als Risse zu machen und Baupläne zu entwerfen. »Wissen Sie was, Herr Grandidier,« sagte der Baumeister in Verzweiflung, »wenn wir das Haus so bauen, wie Sie wollen, so wird kein Zimmer darin sein, in welchem Sie stehen, kein Fenster, durch welches Sie sehen, und keine Treppe, auf der Sie gehen können. Überlassen Sie das doch mir!« Herr Grandidier war zwar weit davon entfernt, widerlegt worden zu sein. Er sagte zu Haus ganz laut, daß der Baumeister ein störrischer Mensch sei, der sich seiner besseren Einsicht verschließe; und 204 wenn der Kontrakt nicht gewesen, wer weiß, was geschehen wäre. Doch im folgenden Frühling, als die Arbeiten begannen, und den ganzen Sommer hindurch brachte er tagelang bei dem Neubau zu; und wenn er abends heimkehrte, war sein Kopf noch so voll von Rohziegeln, Schwellen und anderem Baumaterial, daß er sogar des Nachts davon träumte.

Jetzt stand das Haus unter Dach, und es war Zeit, an die innere Einrichtung noch vor dem Winter zu denken, wenn man es, wie beabsichtigt, im nächsten Frühjahr beziehen wollte. Deshalb, und um das in seinem Äußeren vollendete Wunderwerk zu zeigen, fuhr er eines Nachmittags mit seiner Frau, Glöcklin und Bärbel hinaus. Seine Kinder, wiewohl sie gegen die neuerwachte Passion des Vaters nichts einzuwenden vermochten, besaßen ihm doch nicht genug Enthusiasmus dafür.

Es war ein Nachmittag im Herbste und der Himmel von einem leichten Grau bedeckt, wie wenn die Sonne müde sei zu scheinen. Eine höchst erquickliche Kühle wehte draußen, als man die letzten Häuser der Stadt hinter sich gelassen. In den hohen Bäumen rauschte der Wind, ihre Wipfel wogten leise hinüber und herüber, als ob sie sich dort oben in der Luft gar wundersame Geheimnisse zuzuflüstern hätten. Dann war es wieder auf Augenblicke so still, daß man hören konnte, wenn ein gelbes Blatt langsam und schlummertrunken zur Erde niedertaumelte. Durch die Wiesen, als man sie erreicht hatte, vernahm man das Rinnen eines kleinen Baches, Tropfen auf Tropfen, und über das braune Stoppelfeld schwärmte ein Flug Krähen, krächzend und mit den Flügeln schlagend, im Vorgefühl der nahenden Zeit, wo diese Flur ihnen allein angehören würde. Mit eintöniger Bewegung rollte der Wagen auf der gutgepflegten Chaussee dahin, der einzige auf der Straße, die, weil es mehrere Tage lang vorher geregnet hatte, ganz frei von Staub war. Einigemal nahte man sich dem Wasser, dann verschwand es wieder und man sah nur noch die Stangen und Segeltücher der Schiffe zwischen dem Ufergebüsch und Häusern und Windmühlen dahinziehen unter dem melancholischen Nachmittagshimmel; und nun nahm der Kiefernwald den Wagen auf in sein tieferes Dunkel und seinen Duft. Wie von einem fernen, unsichtbaren Licht berührt, standen die schlanken Stämme; doch düster darüber breiteten sie die mächtigen Kronen aus, 205 Jeden Strahl wirklichen Lichtes von sich abweisend und den ganzen Wald und die Straße, die hindurchführte, und den Wagen und die Personen, die darin saßen, in eine feierliche Dämmerung hüllend. Wie die Säulen in einem Kirchenschiff reihte sich Kiefer an Kiefer, weite, gewölbte Durchblicke bildend, ohne Licht und anderen Schatten als ihren eigenen – mit einem steten, gleichmäßigen, dumpfen Brausen in den Wipfeln, welches dem Schall einer Orgel oder eines Chorales, von vielen unirdischen Stimmen gesungen, gleichkam. Bärbels Aug' und Ohr hing unverwandt an den Bäumen, bis diese sich an einer Biegung des Weges plötzlich öffneten und einen weiten Blick auf das Wasser der Spree freigaben, welche, hier eine ihrer seeartigen Erweiterungen bildend, auf ihrer stillen, breiten, glanzlosen Oberfläche die graue Luft und die herbstlich gefärbten Ufer widerspiegelte. Das hohe Schilf, bis tief in den Fluß hinein, ward von Wasser und Wind leise bewegt, und hier kam man an einem einsamen Gehöft vorbei, welches mit seinen Scheunen und Stallungen und Wirtschaftsgebäuden gar friedsam dalag. Aus einem Schornstein stieg Rauch in die stille Luft, und um die hölzernen Gitter eines Vorbaus hing wilder Wein nieder, dessen Blätter, von dem heißen Sommer gefärbt, der nun vergangen, in reichem Purpur schimmerten. Es war ein überraschendes Licht mitten in diesem gleichmäßigen Grau von Himmel und Wasser und Erde, und rings um das kleine, weltentlegene Anwesen ein Ausdruck von Ergebenheit und Behagen zugleich, als ob man es jetzt, nach so manchem heißen Tag, wohl verdient habe, der Ruhe, des Herbstes und der Ernte froh zu werden, und den kommenden Stürmen gemächlich entgegensehen dürfe. Da reckte sich's auf einmal von einem der alten Dächer aus einem Reisighaufen empor und stand eine Weile scharf abgezeichnet in seinen eckigen Umrissen gegen den Himmel.

»Ein Storch! Ein Storch!« rief Bärbel, mit der Hand hinüberdeutend. Nicht lange, so erschien auch das Weibchen und ein Junges, und alle drei standen hoch aufgerichtet und jedes nach einer anderen Richtung ausspähend über dem niederen Dach, auf dem sie genistet. Jetzt schlug das Männchen mit den Flügeln und erhob sich zuerst mit kurzem, unbeholfenem Fluge, das Weibchen und das Junge folgten, und jetzt schwebten alle drei dahin, je höher sie kamen, desto leichter 206 und freier von dem Luftmeer getragen. Jetzt zogen sie vorüber, und jetzt hinter dem fernen Walde waren sie verschwunden. So lange sie sichtbar blieben, folgte Bärbel ihnen mit dem Blick, und noch lange, nachdem sie dem Gesichtskreis entflogen, mit der Seele. Als sie sich endlich den übrigen wieder zukehrte, standen in ihren Augen Tränen, die sie nur mit Mühe zurückhielt.

Der Vater bemerkte dies sogleich und fragte: »Was hast du, Mädchen?«

»Ach, Vater,« erwiderte sie – und nun stürzten die Tränen unaufhaltsam nieder – »es sind die ersten Störche, die ich hier gesehen hab', und sie haben mich an Straßburg erinnert . . .« Immer heftiger begann Bärbel zu schluchzen, und dazwischen sprach sie wieder: »Wie ich sie da hab' stehen sehen in ihrem Nest – ach, wie so vielmal, so tausendmal daheim und in den Dörfern . . . da hat mir's das Herz zusammengeschnürt und ich hab' das Heimweh 'kriegt, und wie ich sie da hab' steigen sehen, da hat mich eine Sehnsucht erfaßt, daß ich mit ihnen fliegen möcht' – mit ihnen . . . mit ihnen . . .« Unwillkürlich breitete sie die Arme aus, noch einmal in die Richtung blickend, in der die Wandervögel verschwunden waren.

»Sie müssen wissen,« sagte Glöcklin, die feuchten Wangen des Mädchens, wie um sie zu beruhigen, streichelnd, und wie um sie zu entschuldigen, sich an Madame Grandidier wendend, »Sie müssen wissen, daß es bei uns in Straßburg ganz besonders viel Störche gibt und daß man sie daselbst ganz besonders in Ehren hält.«

»Dann ist es eine gute Stadt,« erwiderte Frau Grandidier, »und die Störche wissen das.«

»Ja freilich,« bestätigte Bärbel unter Tränen, die sie immer noch vergeblich zu trocknen suchte. Dann wandte sie sich wieder an ihren Vater – es war ein Aussprechen innerster Gedanken, ein Festhalten von Bildern, die rasch an ihr, eins nach dem anderen, vorüberzogen. »Denkt dir's noch, Vater, daß wir als an Nachmittagen, wie heut, hinausgegangen sind nach der Ruppertsau und dort gesessen sind im Hof bei der Frau Wirtin aus Bischheim – und wie wir dann heimgewandert sind am Kanal, der weit hinaus glänzte von der Abendsonne, und durch die Kontades in der Dämmerung unter den alten Bäumen, die der Herbstwind geschüttelt . . . 207 Und dann, denkt dir's noch, wie wir als einmal am Abend in der Weißenturmvorstadt am Staden entlang gingen zu den Gerberhäusern, wo das Wasser der Ill so dunkel fließt, oder zu den gedeckten Brücken, wo die alten Häuser mit Erkern und Giebeln stehen und ein Rauschen ist, wenn die Schleusen aufgezogen sind, wie von fernen Wasserfällen, und die Mühlräder sich drehen und der Mond im Aufgehen schräg hereinleuchtet durch die spitzen Dächer? Und wie wir auf einmal gegenüber von der alten Metzig in das volle Licht herauskamen und über den Platz ein wunderschöner Männergesang erschallte – ein Ständchen war's, einer Braut gebracht, und sie, in einem weißen Kleide, sah aus dem erleuchteten zweiten Stockwerk, aus dem offenen Fenster herab, und der Bräutigam stand neben ihr . . . Kannst du dich auf das alles noch recht wohl besinnen, Vater? Oder wenn wir an einem Sonntagnachmittag nach Kehl hinausspazierten in der Allee von Platanen und Akazien und Linden, die jedesmal, wenn sie blühten, einen so wonnigen Duft verbreiteten und im Sommer den köstlichen Schatten gaben – zwischen Gärten, voll von Rosen und Jasmin, und durch Wiesen, auf denen die . . . die . . . Ja, ich kann den deutschen Namen nicht finden, die Gretel-in-der-Heck standen . . . und wir dann an den Rhein kamen, an den herrlichen Strom, der hier so breit ist, daß man kaum hinüberschauen kann, und du zu uns sagtest: »Kinder, das ist der deutsche Rhein, und alles, was dahinter liegt, ist Deutschland . . . und wie wir dann über die Brücke nach Kehl kamen und nun in Deutschland waren und ich mir immer gedacht hab': Ei, welch ein lustiges Land muß dies Deutschland sein! Denn Haus bei Haus war ein Wirtshaus, ein Restaurant, ein Café, eine Brauerei, ein Laden mit Porzellan, mit Zigarren, mit Bildern – überall wurde Musik gemacht und gekegelt und gewürfelt und getanzt – und weißt noch, Vater, wie du dir dort die kleinen roten Büchlein gekauft hast, die bei uns in Straßburg verboten waren? . . .«

Während sie so plauderte, hatte sich ihr Blick allmählich aufgeheitert; denn das Trübe hatte nicht lange Platz auf dem Grunde dieser reinen, frohen Seele.

»Und nun,« mischte sich Herr Grandidier ins Gespräch, der bisher Bärbel schweigend zugehört, »nun findest du wohl, daß es bei uns in Deutschland und besonders in Berlin doch nicht so lustig ist, als du dir vorgestellt hast?«

208 »Oh, Herr Grandidier,« versetzte sie eifrig, »wie mögen Sie nur so etwas von mir denken? Aber vorhin, als ich die Störch' hab' auffliegen sehen, da war mir, als ob ich ihnen darin gleiche, daß ich auch zwei Heimaten habe wie sie, zwischen denen ich immer hin und her wandern müßt' – die eine hier, die andere weit, weit, weit da drüben . . .«

»Aber ihr Nest, liebes Kind,« sagte Herr Grandidier, »haben sie hier, bei uns, und bei uns soll auch dein Nest sein, denn bei uns bist du zu Haus . . . und sieh nur hin, dort steht's!«

Eben war der Wagen aus dem Walde heraus völlig ins Freie gekommen, und da sah man, auf einer Lichtung am Wasser und von einer kräftig grünen, sorgsam gepflegten Anpflanzung umgeben, das neue Haus.

Es war im einfachen, aber geschmackvollen Villenstil aufgeführt, und ein Glück, daß der Baumeister und nicht der Bauherr Recht behalten.

Eines nur hatte der letztere dem ersteren – allerdings unter heftigen Kämpfen! – abgerungen, eines, worauf Herr Grandidier unter keinen Umständen verzichten zu wollen erklärte: nämlich einen Turm! Denn der Berliner Bürger, wenn er sich ein Sommerhaus baut, kann sich ein solches nicht ohne Turm denken. Und einen Turm bekam Herr Grandidier, aber der Baumeister wußte es so einzurichten, daß er nicht allzu hoch war und die Harmonie des Ganzen nicht störte. Die Villa war einstöckig, aber geräumig genug und machte schon von außen den Eindruck der Wohnlichkeit. Der erste, der sich auf Befragen Herrn Grandidiers äußerte, war der Kutscher. Sein Urteil beschränkte sich zwar nur auf die Stallungen, allein er fand sie gut, und das war für den Bauherrn schon eine große Beruhigung in bezug auf das übrige. Man stieg nun aus, und Herr Grandidier machte den Führer. Ihre Front kehrte die Villa natürlich nach dem Wasser; ein Blumenparterre mit Rasen und Kieswegen dazwischen leitete zu demselben hinab. Wer sah es diesem farbenbunten, duftigen Gartengrund an, daß an seiner Stelle bis vor kurzem noch dürre Sandhügel gewesen? Es steckte viel Geld und Arbeit darin; aber nun lag er wie ein kleines Paradies zwischen dem Wasser und dem Walde und belohnte durch seinen freundlichen Anblick reichlich die Mühe, die man darauf verwandt hatte. Hohe, helle Fenster blinkten zu beiden Seiten der säulengetragenen Veranda; 209 der Balkon war von wehenden Ranken umsponnen, mit den farbigen Büscheln der Fuchsia dazwischen, und Oleanderbäume, welche die roten Blüten eben geöffnet, standen in großen grünen Kübeln auf den Treppenstufen. Die Villa hatte nichts Auffälliges, dagegen etwas sehr Einladendes; sie paßte mit ihrer Prunklosigkeit durchaus in den Charakter der Landschaft. Zwei mächtige alte Linden faßten ihre bescheidene, aber stilvolle Fassade in einen lebendigen Rahmen, und als man eintrat, ward man durch eine angenehme, gleichmäßig sanfte Helligkeit erfreut, welche das Treppenhaus durchströmte – die Villa hatte Oberlicht.

»So,« sagte Herr Grandidier, nachdem man alles besichtigt und, was viel sagen will, noch über das Maß seiner Erwartung hinaus bewundert hatte, »das war der Traum meiner Jugend; darauf, daß wir alle, die hier versammelt sind, und meine beiden Töchter und deren Männer und meine kleinen Enkel der Erfüllung noch recht lange froh bleiben mögen, darauf wollen wir jetzt anstoßen. Schnellpfeffer, den Korb!«

Schnellpfeffer brachte den Korb, ohne welchen eine Berliner Landpartie nicht wohl denkbar ist, und in demselben war ein solcher Vorrat von guten Dingen, von Speisen und Flaschen und Gläsern, daß man der mangelnden Bequemlichkeit von Tischen und Stühlen kaum gewahr ward. Schnellpfeffer brachte die Wagenkissen, und so, wie bei einer richtigen Landpartie, lagerte man sich draußen im Freien – aber auf eigenem Grund und Boden. Und wie die Linden, die er hierher verpflanzt, über ihm rauschten und der stille Fluß vorüberzog, und mit dem Flusse, still wie er, das Erinnern seiner Jugend, da rief Herr Grandidier: »Ich hab's erreicht –« und laut klangen die Gläser zusammen, und dann ging er zu Bärbel und sagte: »Daß es auch dir ein gutes Nest werde,« und zuletzt gab er Schnellpfeffer eine ganze Flasche Wein, gegen welche dieser durchaus nichts einzuwenden hatte und ruhig zwischen seinen Pferden sitzend in der vorgeschriebenen Zeit austrank. »Et soll mir man bloß wundern,« murmelte er zwischen einem Glas und dem anderen, »ob er denn gar nich daran denkt, daß er noch eenen Sohn hat! . . .«

Aber Herr Grandidier, der an alle gedacht, dachte nicht daran; und als man das Mahl beendet hatte und alles wieder in Ordnung gebracht worden war, gegen Abend, gab er das Zeichen zum Aufbruch und zur Heimfahrt. 210

 


 << zurück weiter >>