Julius Rodenberg
Die Grandidiers
Julius Rodenberg

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Drittes Buch

O Schwalben meines Heimatlandes!

Es war an einem hellen und klaren Wintermorgen, im Januar des Jahres 1870, und die Frühsonne strengte sich vergeblich an, durch die ganz mit Eis bedeckten Fensterscheiben eines gewissen Zimmers in einem gewissen Hause zu Neu-Kölln am Wasser zu dringen. In demselben saß der kleine Monsieur George Grandidier mit einem großen Pariser Zeitungsblatte und las seiner Mama vor, welche, genau zuhörend, ihn oft verbesserte und manches Wort drei- oder viermal aussprechen ließ, während Bärbel beschäftigt war, dem Kanarienvogel Futter und Wasser zu geben und sonst auf jede Weise zu zeigen, wie lieb sie ihn habe. Doch das beneidenswerte Geschöpf benahm sich bei dieser Gelegenheit, wie viel vernünftigere Wesen sich oft schon in ähnlichen Fällen benommen haben; weit weniger gerührt durch die Zärtlichkeit des schönen Mädchens als gereizt oder geärgert oder eifersüchtig gemacht durch die helle Stimme des Knaben – dem er überhaupt wegen dieser Eigenschaft abhold war – fing er an, aus allen Kräften zu schmettern und machte solch einen Lärm, daß man bald, wie man zu sagen pflegt, sein eigenes Wort nicht mehr hören konnte.

»Du! du! Kanästjele,« sagte Bärbel, die mit ihrem Vogel, einem Straßburger Kind, wie sie selber, gern in der alten heimatlichen Mundart redete, die dieser auch am besten verstand, obwohl er sich die Miene vom Gegenteil gab. »Du Maiselokker, wenn du nun nicht gleich schweigst!« Denn sie wußte wohl, was hernach geschah! Doch anstatt den wohlgemeinten Rat seiner Freundin zu befolgen, biß er ihr zornig in den Finger; und der kleine George, welchen – um die Wahrheit zu sagen – der Kanarienvogel weit mehr interessierte als die Verhandlungen des gesetzgebenden Körpers im Palais Bourbon, geriet über diese Bosheit in ein solches Entzücken, daß er plötzlich, mitten in einer Rede des Herrn Thiers, laut aufzulachen begann.

276 Seine Mutter aber war nicht in der Laune zu scherzen. Für sie war die Lektüre der Zeitung eine sehr ernste Sache. Seit dem Tage, wo sie die Nachricht von der Flucht und Rettung ihres Gatten erhalten, war sie gleichsam wieder für das Leben geweckt worden; und nicht nur für die begrenzten eigenen Interessen, sondern auch für die der Welt. Der Vater hatte mit Bereitwilligkeit ihrem Wunsche nachgegeben, eine Pariser Zeitung für sie zu halten, und diese las sie nun an jedem Morgen regelmäßig – vielleicht mit der geheimen Hoffnung, eine Spur des Verlorenen darin zu finden. Aber ihr Eifer verringerte sich nicht, weil diese Hoffnung von Tag zu Tag getäuscht wurde; sie rief sich Geduld zu, sie suchte sich zu beruhigen – ihr Vertrauen war unerschütterlich wie ihre Liebe. Jedesmal am Sonntage ließ sie sich die Zeitung von George vorlesen; teils um den Knaben allmählich mit den französischen Verhältnissen bekannt zu machen, welche für sie selber die größte Wichtigkeit besaßen, teils um ihm den Akzent und alle Feinheiten der »Sprache der Pariser« zu bewahren, welche bei Kindern im Auslande und unter einer fremden Umgebung leicht verloren gehen. Sie litt daher in dieser Stunde des Unterrichts nicht gern eine Störung und rief der Schwester zu: »Ich bitte dich, schaff uns Ruhe.«

»Da hast du's nun,« sagte Bärbel, indem sie sich an den Vogel wandte, welcher, plötzlich verstummend, sie mit seinen kleinen runden Augen ansah, als ob sie an dem ganzen Unheil einzig und allein schuld sei. Dann verhüllte sie das Bauer mit einem Tuche, welches der Bösewicht schon von früheren Gelegenheiten her kannte; scheu zog er sich in den äußersten Winkel zurück, konnte jedoch der Versuchung nicht widerstehen, als Bärbels feine Hand sich an dem Drahtgitter zeigte, gegen dieselbe noch einmal mit dem Schnabel vorzugehen, was das Mädchen ihm auch durchaus nicht übel nahm. Im Gegenteil, sie wußte es so einzurichten, daß eine Art von Lücke blieb, durch welche so viel Tageslicht eindrang, als sich für einen Sträfling von seiner Beschaffenheit nur irgend schickte. Doch selbst dieser Beweis von Liebe rührte sein Herz nicht im mindesten; und als sie verstohlen hindurchblickte, sah sie, wie er beleidigt, schmollend und mit emporgesträubten Federn ihr den Rücken kehrte, womit er ihr höchstwahrscheinlich andeuten wollte, daß es jetzt unwiderruflich zwischen ihnen aus und vorbei sei.

277 Indessen hatte George die Rede des großen französischen Staatsmannes da wieder aufgenommen, wo er sie zuvor gelassen, und Bärbel war zu den Blumen gegangen, die sie regelmäßig an jedem Morgen pflegte, wenn der Vogel besorgt worden war. Ihr Herz hing an diesen stillen Mitbewohnerinnen ihres Zimmers, welches sie schmückten, erleuchteten und mitten im Winter mit einer sanften Vorahnung des Frühlings erfüllten. Sie hatten, jede von ihnen, ein individuelles Leben für sie, welches sie zugleich erfreute und rührte, sei es durch den Gedanken, daß es in all seiner Schönheit von ihrer Sorgfalt abhänge, sei es durch die Vorstellungen, welche sie mit dem Duft und der Gestalt der einzelnen Gewächse verband. Da war namentlich eine Palme, deren prachtvoll nach oben strebende Gliederung ihr stets den Eindruck des Feierlichen und Erhabenen gemacht hatte. Sie nahm, von kleineren Töpfen umgeben, in denen eben der Krokus und die Hyazinthe sich zu regen begannen, einen stark vergoldeten Blumentisch ein, welchen Bärbel im vergangenen Sommer an ihrem Geburtstage zusammen mit der schönen Tropenpflanze von Herrn Grandidier zum Geschenk empfangen. Seitdem hatte sie manchmal in den Nächten, wenn sie von dem Lager des Kranken heimkehrte, vor diesem Baum gestanden, und es hatte sie oft zu Tränen bewegt, ihn zu sehen, wenn er, vom Mondlicht umflossen, seine mächtig ausgebreiteten Arme gen Himmel emporstreckte und mit inbrünstigem Verlangen, stumm und geisterhaft und von heiliger Sehnsucht erfüllt nach der fernen Heimat.

Jetzt in der Frühe, wo die goldene Klarheit des Wintermorgens durch die stark beeisten Scheiben drang, war es, als ob die grünen Palmenblätter sich schützend und segnend auf das Haupt des Mädchens legten, welches fast demütig in seiner Liebe zu dem edeln Baume war. Er hatte etwas Symbolisches für sie angenommen, was in ihrer Empfindung auf eine geheimnisvolle, nur ihr verständliche Weise mit dem Leben des Mannes zusammenhing, an welchen sie sich mit kindlicher Innigkeit geschmiegt. Wochenlang war sie nicht von seiner Seite gewichen; auf den Kranken, selbst als sein Bewußtsein sich noch nicht wieder geklärt, hatte schon ihre Nähe beruhigend gewirkt, und als es um ihn zu dämmern und leise Licht zu werden begonnen, hatte sein Blick zuerst sie gesucht und mit einem dankbaren, schmerzlichen Lächeln 278 ihr gesagt, daß er auch in der Dunkelheit ihr Walten empfunden habe. Man konnte jetzt beobachten, wie das Leben, welches schon weit hinaus geebbt war, bis fast an die Grenzen der Ewigkeit, langsam noch einmal zurückflutete; und wiewohl bei dem wiederkehrenden Vermögen, zu denken und zu sprechen, die Schonung von allen störenden Einflüssen der Außenwelt nur noch vermehrt werden mußte, so war doch die Sorge um seine Erhaltung gewichen. Mit Lust widmete sich Bärbel wieder den liebgewordenen häuslichen Gewohnheiten, welche lange hinter der schweren Pflicht hatten zurückstehen müssen; aufs neue war ihr alles geschenkt, die Welt und das Leben, beides hell und hoffnungsreich wie dieser Morgen – wohl ein Wintermorgen, aber doch mit der Verheißung von etwas unaussprechlich Schönem und Gutem, mit der Erwartung, welche niemals mehr beseligt, als wenn sie still in sich verschwiegen ist, und dem Gefühl von Kraft und Gesundheit, welches den Augenblick nicht stürmisch überschreitet, sondern ihn ruhig hinnimmt und dankbar genießt. So traulich war der knisternde Ton des Feuers im Ofen, so gemessen in all seiner Emsigkeit war der Pendelschlag der Uhr an der Wand, so süß und wonnevoll stieg der Geruch der erblühenden Hyazinthen zu ihr auf, so mild und ernst senkten die Blätter der Palme sich auf sie herab, und so leise fing nun auch unter seiner Hülle der Vogel wieder an zu singen wie von einer fernen Zukunft, zwitschernd und singend wie in einem Traume – und sie selber war wie im Traume – bis auf einmal ein Wort gesprochen und ein Name genannt ward, der sie daraus erweckte.

Es war der kleine Zeitungsleser, welcher, nachdem er die große Rede zu Ende gebracht, einen Kunstbericht begonnen hatte, der aus Berlin datiert war. »Das Bild eines jungen Malers,« hieß es, »erregt hier gegenwärtig großes Aufsehen. Es ist das erste Werk desselben, welches hier ausgestellt, und er selber ist geborener Berliner, wiewohl hervorgegangen aus der Pariser Schule. Man erinnert sich in der dortigen Künstlerwelt des jungen und bescheidenen Mannes, wie er zu uns kam, mit nichts ausgerüstet als den dürftigsten Vorkenntnissen einer höchst unvollkommenen Technik, aber getrieben von einer unwiderstehlichen Liebe zur Kunst und mit einem feinen intuitiven Verständnis für den Glanz und den Schmelz der Farbe, welche den Stolz und das Geheimnis 279 der französischen Malerei ausmacht. Wir haben hier nicht zu berichten, mit welchen Schwierigkeiten er zu kämpfen hatte, mit welchen Widerwärtigkeiten und Bedrängnissen, als er in unserer französischen Hauptstadt ein Fremder war, ohne Freund, ohne Verbindung und Empfehlung, und die Arbeit eines Schülers tat in dem Alter, wo die bevorzugteren Genossen schon in der vollen Sicherheit des Erfolges schaffen. Der Mut des Opfers und der Selbstverleugnung ist eines von den Merkmalen der Liebe, der Überzeugung und des Berufes; für nichts anderes in der Welt würde der Mensch so viel und so freudig leiden, an nichts anderem mit so zäher Ausdauer hängen, unermutigt dennoch weiterhoffend, zurückgestoßen immer wiederkehrend, und in der scheinbaren Erniedrigung die volle Würde freier Selbstbestimmung wahrend.

Um diese Zeit bemerkte man zuerst in der Pariser Gesellschaft kleine Malereien auf Elfenbein, Miniaturen von einer ungemeinen Zartheit und Lieblichkeit, in der Gestalt von Fächern, die man in einer gewissen Handlung der Boulevards kaufte – reizende Bildchen von kleinen, sonnigen südlichen Landschaften mit Lorbeerhecken und Palmengewächsen; hübsche Bäuerinnen im Sonntagsputz, kleine braune Ziegenhirten, deren Herden um spärlich begrünte Hügel klettern, Szenen voll rührender Naturwahrheit und schalkhaften Humors, Savoyardenknaben, die auf dem Dudelsack blasen, und Murmeltiere, die danach tanzen – Dinge der Alltäglichkeit, aber leuchtend in einem unbeschreiblichen Zauber. Es dauerte nicht lange, so wurden diese bemalten Fächer die Mode von Paris; man sah sie bald hier, bald da, bald überall in den Salons und in der Oper; und in den schönen Händen der Marquise de C. erblickte eines Abends unser berühmter Meister M. eines dieser zierlichen Gebilde.

Mitten im scherzenden Gespräch ward er still und nachdenklich. Er fühlte sich plötzlich wie der Entdecker von etwas Neuem und bisher ganz Unbekanntem, welches selbst in dieser unvollkommenen Form deutlich zu ihm sprach, aber in einer solchen Sprache, die nur er verstand. Welche Hand hatte diese kostbaren Kleinigkeiten so geringschätzig umhergestreut? Welcher Umstand sie veranlaßt, Eingebungen echt künstlerischer Natur an keinen höheren Zweck zu setzen? Weder die Marquise noch sonst irgend jemand konnte diese Frage beantworten, und die Auskunft, welche der Meister erhielt, beschränkte sich 280 darauf, daß man ihm den Laden angab, in welchem die Fächer verkauft wurden. Auch hier war nichts Bestimmtes zu ermitteln, sei es, daß man das Geheimnis absichtlich bewahren wollte oder selbst in der Tat nur mangelhaft unterrichtet war. Doch der Meister ließ nicht ab zu forschen, und endlich, nach nicht geringer Mühe und manchem vergeblichem Weg weit draußen in einer Vorstadt, fand er den Unbekannten.

Es war ein großes Haus in einer von den Arbeitern bewohnten Gegend, und in dem großen Haus ein dürftiges Kämmerlein, fünf Treppen hoch unter dem Dach, und in dem Kämmerlein, ungenügend erwärmt, obwohl draußen harter Winter war, ein junger, schöner Mann, das Gesicht bleich, von den Spuren der Arbeit, der Entbehrung und Sorge scharf gezeichnet. Dieser geriet in lebhafte Verlegenheit beim Eintritt des fremden Herrn, dessen vornehmes Äußere wohl wenig in die Dürftigkeit dieser Umgebung passen mochte; und der junge Mann errötete, als der Fremde sogleich die Veranlassung und den Gegenstand seines Besuches erwähnte. Die Verwirrung des jungen Künstlers stieg, indem er mit unsicherer Stimme meinte, daß der Herr sich in seiner Person irren möchte, bis dieser seinen Namen nannte – diesen Namen, heut und für immer eine der Zierden der französischen Kunst. Da veränderte sich plötzlich das Benehmen des jungen Unbekannten – wie Sonnenschein flog es über sein abgehärmtes, kummervolles Gesicht, Tränen traten in seine Augen, und unfähig, seiner Verehrung, seiner Freude, vielleicht auch seinen Schmerzen einen anderen Ausdruck zu geben, sank er vor jenem in die Knie . . .

Wir unternehmen nicht, diese Szene weiter auszumalen. Sie war entscheidend für den bisher Namenlosen, welcher nun nichts mehr verheimlichte, nichts mehr verschwieg. Er redete die französische Sprache mit vollkommener Leichtigkeit, wiewohl er ein Deutscher und in Berlin geboren war. Denn es war etwas in ihm, was ihn in hohem Grade befähigte, sich unserem Geiste zu assimilieren. Er entstammte einer jener hugenottischen Familien, welche zur Zeit Ludwigs des Vierzehnten in großer Zahl aus Frankreich auswanderten und deren Nachkommen heute noch in diesem so deutschen Berlin eine Art französischen Gemeinwesens bilden, die sogenannte »französische Kolonie«. Es würde vielleicht nicht mehr ganz richtig sein, zu sagen, was noch Madame de Staël gesagt hat: 281 daß diese französischen Refugiés ein wenig abschwächten »l'impulsion toute allemande dont Berlin est susceptible«. Wir möchten, in irgendeiner Krise, nicht auf solche Empfindung rechnen. Aber so viel ist wahr, daß in diesen nachgeborenen und ihrer Heimat entfremdeten Franzosen sich bis auf diesen Tag viel von den Eigentümlichkeiten derselben erhalten hat. Der Fleiß und die weise Sparsamkeit, die zum Wohlstand führen; die feine Sitte, das Temperament und ein gewisser »Elan«, der sich auf allen Gebieten der Tätigkeit bemerklich macht. Die Mitglieder der französischen Kolonie gehören zu den reichsten und angesehensten Bürgern der preußischen Hauptstadt; und wie fast jeden Berufszweig des öffentlichen Lebens durch ihren Eifer und ihr Geschick, so haben sie auch die deutsche Kunst mannigfach durch ihr Talent bereichert. Mehr als ein ausgezeichneter Schauspieler, mehr als ein gefeierter Dichter, mehr als ein berühmter Maler ist aus der französischen Kolonie hervorgegangen. Man hätte glauben sollen, Umstände, wie die geschilderten, würden die Entwicklung unseres jungen Freundes in besonderem Maße begünstigt haben. Aber es scheint, daß sein Vater – einer von den großen Industriellen Berlins – der künstlerischen Neigung des Sohnes entgegen war, und zwar in einer Weise, welche diesem, wenn er sein Vorhaben ausführen wollte, nichts übrig ließ als die Flucht. So kam er nach Paris, aufrecht gehalten allein von dem unbeugsamen Vorsatz.

Er war in ein kleines Atelier getreten, wo er unter einem übrigens tüchtigen Lehrer mit unablässigem Fleiße tätig war, unverdrossen nachholend, was er früher versäumt. Er lebte höchst kümmerlich; doch der Unterricht und dieses Leben selbst wollten bestritten sein, und jetzt, nachdem er fast ein Jahr in Paris sich aufgehalten, war die Zeit gekommen, wo zu den innerlichen Sorgen und Zweifeln, welche dem ringenden Künstler niemals erspart bleiben, auch die äußerlichen, um die Existenz, hinzutraten. Die geringfügigen Mittel, die er mitgebracht haben mochte, waren erschöpft; was nun beginnen in diesem großen, fremden Paris, in welchem der Unglückliche sich doppelt einsam fühlt! Eines Abends, mitten im Gewühle der Boulevards, so glänzend und berauschend für denjenigen, der genießend daran teilzunehmen vermag, und so bedrückend, so quälend, so demütigend für den anderen, der mitten in diesem Glanz dem Nichts gegenübersteht, fand 282 er sich vor einem jener großen Magazine, in deren Schaufenstern die Schätze des Luxus' und der Mode ausgelegt sind. Die Musterung derselben ließ ihn in seiner trüben Stimmung ziemlich gleichgültig; bis auf einmal unter den mannigfachen Gegenständen ein gemalter Fächer seinen Blick festhielt und ebenso plötzlich ihm der Gedanke kam, etwas Ähnliches auch zu versuchen. Dieser Gedanke rettete ihn aus der Not, in der er sich befand, und sollte zugleich die Zukunft ihm erschließen. Zu stolz, seinem Lehrer, seinen Mitschülern sich zu entdecken, arbeitete er nun an den Abenden und in den Nächten, um des Tages seinen Studien sich widmen zu können, bis dasjenige, was er als ein Mittel des Erwerbes schamhaft verbarg, ohne sein Wissen offenbar ward und ihn fast gegen seinen Willen der Dunkelheit entriß. Denn auch die gewöhnliche Leistung des Handwerkers adelte sich unter seiner Hand, indem er keusch und verschwiegen den Geschmack und die Grazie, jenes unaussprechliche Geheimnis der Begabung, hinzubrachte, welche, wo sie vorhanden, wohl für eine Zeit ihren Namen, niemals aber, und selbst in den kleinsten Dingen nicht, ihr Dasein zu verleugnen vermag.

Genug, unser edler französischer Meister ward der Wohltäter, der Beschützer und der Freund des jungen Deutschen; in ihm fand dieser alles, was er bisher in Paris vermißt, und noch mehr: denn er ward auch sein Lehrer. Er sagte: die Kunst ist der Sonne gleich; dem einen Lande steht sie näher als dem anderen, dem Süden erscheint sie wärmer und glänzender als dem Norden – aber sie ist dieselbe überall, und was das Leben an Schönheit besitzt, das hat es von ihr empfangen, empfängt es von ihr täglich aufs neue. Franzosen und Deutsche, wohlan! – arbeiten wir nur einträchtiglich zusammen, im Lernen und im Lehren, und vergessen wir es nicht, daß die eine Sonne uns leuchtet! . . .

So sprach und so dachte der französische Meister, und der deutsche Schüler verstand ihn wohl; um so mehr, als er jene rasche Auffassung, jene Beweglichkeit des Geistes, jenen Enthusiasmus mit sich brachte –das alte Erbteil seiner Väter, welches, wiewohl durch Beimischung fremden Elementes und im Verlauf von Jahrhunderten abgeschwächt, sich doch noch immer nicht gänzlich verloren hat. Denn es ist mit dem Blute gegeben worden und wird nur mit dem letzten Blutstropfen schwinden.

283 Französische Landschaften und Szenen französischen Lebens sind wohl auch früher von Ausländern mit großer Vollendung gemalt worden, aber niemals mit solcher Verve, mit solcher Glut, mit solcher – wie sag' ich nur? – echt französischer Seele, wie wenn hier ihre wahre Heimat wäre, wie wenn hierher, in unser Land, in unsere Stadt – nach Paris ihn jene geheimnisvolle Macht geführt hätte, welche einst, in einer von den fernen Kolonien, die Seele des jungen Griechen mit Heimweh erfüllt haben mag nach Hellas, welches er niemals gesehen, und nach Athen, welches er nur aus den Erzählungen der Alten kannte. Mit jedem neuen Gegenstande wuchs, unter der sorgfältigen Leitung seines Meisters, die technische Sicherheit des jungen Künstlers; und bald war er fortgeschritten genug, um mit Nutzen für seine Kunst eine Studienreise machen zu können in den Süden, über das Meer und nach Algerien, wo unter einem blaueren Himmel und einer wärmeren Sonne das Leben noch einen fremdartigen Zug bewahrt hat, welcher auf eine Natur, wie die unseres Künstlers, ganz besonders wirken muß, indem er die Dinge der Wirklichkeit wie mit einem Schein des Märchens umgibt. Dort, unter den Kabylen und Nomadenstämmen der Wüste, den Bewohnern unserer Militärstationen, die zugleich Soldaten und Ackerbauer, in unseren Ansiedlungen und Dörfern, deren Schluchten und Abhänge von Feigen und Olivenpflanzungen bedeckt sind, wo der Orangenbaum zu seltener Pracht erwächst und der Weinstock grünt – in der Stadt, über dessen phantastischen Bauwerken der Halbmond neben dem Kreuze blinkt, in dem Gewirr der engen Gassen und auf den gedrängt vollen Basaren, wo die höchst modernen, abenteuernden Gestalten von halb Europa sich begegnen mit den ernsten, malerischen, an das Alte Testament erinnernden Erscheinungen der Oase: dort wanderte er monatelang umher, immer beobachtend, zeichnend, skizzierend – und von dort ist auch das Gemälde, welches ihm in Paris den großen Preis gewonnen und, gegenwärtig in Berlin ausgestellt, den Namen Eduard Grandidier plötzlich berühmt gemacht hat . . .«

»Eduard Grandidier!« rief Bärbel, hocherrötend und den Atem anhaltend, indem sie mit beiden Händen den Palmenbaum zurückbog und unter demselben einen Schritt hervortrat. Helene gab ihr einen Wink, und George fuhr fort:

284 »Dem Bilde liegt das schöne Bérangersche Gedicht zugrunde: ›Die Schwalben‹, und eine sinnigere Erklärung in der Tat war nicht zu finden als die Verse, welche demselben gleichsam als Motto dienen:

O Schwalben meines Heimatlands,
Erzählt ihr mir von seinem Unglück nicht?

Da der Inhalt des Gedichts bekannt ist, so ist es fast unnötig, den des Bildes zu wiederholen. Man sieht, in der Mitte desselben, von der algerischen Landschaft umgeben und mit dem Blick auf das Meer einen französischen Krieger – ›captif au rivage du Maure...‹ Aber, o diese Landschaft und dieses Meer – verdorrt von Sonnenglut die eine, leuchtend im azurnen Blau das andere. Schwalben kommen darüber geflogen. Sie kommen von Frankreich, und der Arme, in der Qual seiner Sehnsucht, befragt sie um Nachrichten aus der Heimat . . . ›Seit drei Jahren beschwöre ich euch, mir eine Kunde zu bringen aus dem Tale, wo mein Leben in der Verborgenheit sich einst mit der Hoffnung einer süßen Zukunft wiegte. An der Windung eines Baches, welcher mit klaren Wellen unter frischem Flieder fließt, habt ihr unsere Hütte gesehen . . .‹«

Ein leises Schluchzen Helenens ließ George plötzlich innehalten. Das Zeitungsblatt rasch auf einen Stuhl werfend, eilte er zur Mutter hin. »Mama!« rief er, »teure Mama! Was hast du?«

»Nichts!« sagte sie, sich bezwingend, und drückte den Knaben fest an ihre Brust.

Bärbel war an das Fenster getreten, und ihr Herz war zum Zerspringen voll. Sie hatte, wie ein Unrecht gegen ihren Wohltäter, den Gedanken an Eduard während dieser langen und traurigen Zeit standhaft von sich gewiesen, jetzt aber kam er wieder, und es war unmöglich, dagegen zu kämpfen – es war ein Stürmen und Drängen in ihr, ein Ringen zwischen jubelnder Lust und banger Niedergeschlagenheit. Es war Winter um sie her, echter nordischer Winter; aber ein zauberischer Sommer mit all den phantastischen Erscheinungen jener fernen Länder, in denen immer Sommer ist, spielte und webte hinein. Die Scheiben des Fensters, an welchem sie stand, waren mit Eis bedeckt; aber wenn man genauer hinsah, so schimmerten Blumen darin wie von Silber und dahinter war ein Glanz wie von Gold, und von 285 allen Seiten, durch Fugen und Ritzen, man hätte nicht angeben können, woher, quoll das Leuchten und Strahlen des kalten, klaren Wintermorgens. Der Busen des Mädchens ging stark auf und nieder, und der Atem ihres Mundes war heiß und glühend – und auf einer der Scheiben begann alsbald ein Tauen und Fließen, als ob es schon Frühlingsatem sei, der sie treffe. Und sie tupfte mit ihren brennenden Fingerspitzen hinein, um sie zu kühlen – und nun öffnete sich auf einmal durch das blanke Glas ein Ausblick, gerade groß genug für ihre dunkelbraunen, träumerischen Augen . . . Es war nicht mehr ganz die Neugier eines Kindes, sondern schon etwas von der Sehnsucht einer Gefangenen, mit der auch sie aus der engen Zelle hinausschaute in die Welt. Und oh! wie sie flammte, diese winterliche Welt – welch ein Gegensatz von Feuer und Eis! Die Dächer am anderen Ufer schneebedeckt, weiß und scharfkantig gegen den Himmel gezeichnet, und dieser bis an den Zenit hinauf in Purpur gehüllt – jetzt eine karmoisinrote Glut und lange Strahlen wie Speere, greifbar fast in der starren Atmosphäre, schossen hernieder, die Sonne stand in gelbem Dunst und goldgeränderte Wolken schwammen in einem Meere von Blau – Fenster, die man bisher nicht gesehen, entzündeten sich, und es hub ein Züngeln und Zittern in ihnen an, ein Rollen von Licht, als ob sie lebten; der Rauch aus den Schornsteinen schien zu Eis zu werden in der eisigen Luft, die Decke des Wassers, in welcher die Schiffe verschneit festlagen, gab wie ein Spiegel das leuchtende Farbenspiel des Himmels zurück, sogar das Straßenpflaster funkelte von zahllosen kleinen Kristallen wie von Diamanten, und unter diesem Strome von Licht lag gegenüber die Brücke – die klägliche, hölzerne, höchst prosaische Brücke von Neu-Kölln am Wasser, aber für Bärbel der Platz, an welchem sie Eduard zuletzt gesehen in jener dunkeln Herbstnacht, als die Glocken läuteten . . .

Diese Glocken läuteten auch heut, am Sonntagmorgen, und eine Hand legte sich auf die Schulter des Mädchens, welches heftig zusammenschreckte, wie aus tiefen Träumen geweckt.

Helene sah sie lächelnd an, milder, freundlicher als sonst. »Was denkst du, Schwester,« sagte sie, »wenn wir gingen, um das Bild zu sehen?

»Oh, wenn du das tätest,« erwiderte Bärbel, indem sie die Hände bittend zusammenfaltete.

286 »So soll es geschehen, und jetzt gleich.«

Als sie hinaustraten, wehte der scharfe Frostwind ihnen entgegen, fast den Atem benehmend. Es war einer von den Tagen des Berliner Winters, doppelt streng in jenem Winter, wo man die Nähe Rußlands zu spüren meinte; der Boden hart, die Luft trocken, zuweilen mit Staub gemischt, die Kälte bitter und die Menschen gleichsam vor ihr fliehend – in Pelzen, in langen Mänteln, mit dicken Schals, die Männer die Mützen tief in die Augen gezogen, die Frauen mit Kapuzen über den Kopf, mit Schleiern vor den Gesichtern, mit Tüchern um den Mund, vermummte Gestalten, eilig vorüberhuschend, um so rasch wie möglich von der Straße fortzukommen. Der Salon, in welchem das Gemälde sich befand – als Ausstellungslokal einer der großen Kunsthandlungen von Berlin allgemein bekannt – war geschlossen; noch nicht einmal die Läden von den Fenstern hatte man entfernt. Ein paarmal schritten die Schwestern vor dem Gebäude auf und nieder, doch es war noch viel zu früh. Die Straße mündete auf einen offenen Platz, und dort, ihnen gerade gegenüber, lag eine kleine Kirche. Die Glocken läuteten auch hier, und ihr Klang mischte sich in der unbewegten Winterluft mit dem Klang benachbarter Glocken.

»Wenn wir dort so lange verweilen wollten,« sagte Bärbel schüchtern, nach dem Kirchlein deutend. Sie erwartete nichts anderes, als von der Schwester abgewiesen zu werden. Doch diese war bereit, ihr zu folgen. Jenes herbe, ungütige Wesen war von ihr gewichen mit der Gewißheit, daß Alfons noch – nein, daß er wieder lebe, daß er der unwürdigen, der unverdienten Knechtschaft entflohen, daß Hoffnung sei, mit ihm aufs neue vereinigt zu werden – eine Hoffnung, schwankend und äußerst unsicher, nicht mehr als ein schwaches Licht in der ungeheuren Finsternis, welche sie trostlos bisher umgeben, aber doch ein Licht. Seitdem war sie freudiger in ihrer Seele geworden und friedlicher, teilnehmender, empfänglicher für ihre Umgebung.

Durch einen bescheidenen Vorraum gingen sie in das Innere der Kirche, welches ebenso schmucklos war wie ihr Äußeres. Weder Zierat noch Bilder waren da; alles zeugte von der höchsten Einfachheit. Eine wohltuende Wärme kam den Eintretenden entgegen, und Orgelschall empfing sie. Sie setzten sich auf eine der letzten Bänke, seitwärts, nicht weit vom 287 Eingang, unter einer Galerie. Fast die ganze Mitte nahmen zwei Kinderscharen ein – die Mädchen in den vorderen Reihen und ihnen sich anschließend die Knaben. Äußerst sorglich und sauber in ihrer gleichförmigen Kleidung gehalten, sah man doch an irgendeinem unerklärbaren, wehmütigen Zuge ihres Gesichts, daß sie Waisenkinder seien. Lieblich im Gesange stiegen ihre Stimmen auf und verbanden sich zu reiner Harmonie. Es hatte etwas unendlich Rührendes, diese Kinder singen zu hören. Doch es war nicht das allein, was Helene betroffen machte. Sie lauschte; sie lauschte noch einmal – sie hatte sich nicht geirrt.

»Wo sind wir?« flüsterte sie der Schwester zu; »das ist französischer Gesang!«

Die Schwester war nicht minder betreten. »Ich höre,« sagte sie mit fast ängstlich beklommenem Atem, und nun vernahmen sie beide die Worte des Psalmisten, wie sie von den Kindern des Hospize gesungen und von den mächtigen Klängen der Orgel gleichsam emporgetragen wurden:

»Près des coeurs désolés
Le Seigneur volontiers se tient.
Le Seigneur volontiers soutient
Les esprits accablés.
«

Es war die französische Kirche, in die sie eingetreten; diejenige, welche auf dem Gendarmenmarkte liegt, da, wo die Französische Straße an demselben vorüberführt, und obwohl so klein und unscheinbar, wie sie den Schwestern vorkam, dennoch die eigentliche Hauptkirche der französischen Kolonie von Berlin, und daher auch der französische Dom genannt ist.

Nachdem der Choral verstummt war, bestieg der Pfarrer die Kanzel, und auch die Predigt war Französisch. Der Pfarrer sprach ruhig, klar und eindringlich; er sagte, daß wir die Übel des Lebens in Geduld ertragen und den Groll verwinden sollten mit einem versöhnlichen Geiste – »surpassons le mal,« sagte er, »par le bien, et le grand mal par le suprême bien« – hierauf folgte das französische Gebet für den Landesvater und die königliche Familie, und dann begann der Gesang und das Orgelspiel aufs neue.

Tränen stürzten unaufhaltsam aus Helenens Augen. Nur Schutz vor der Winterkälte hatte sie suchen wollen, und ein unerwartetes, wehevolles zwar, doch gewaltig 288 aufweckendes Erinnern an die Heimat hatte sie gefunden. Ihr war, als die Klänge der Sprache, die sie liebte, von den Wänden dieser Kirche widerhallten, wie wenn sie zu ihr sprächen, trostreich und hilfreich, in dieser weiten Ferne – als ob sie nicht mehr allein, nicht mehr ganz so fremd sei . . . »surpassons le mal!« klang es in ihr; leise, die Hände voll Inbrunst ineinander gefügt, sprach sie das französische Vaterunser mit; stehend, gleich der übrigen Versammlung, empfing sie den französischen Segen und verließ, als der Pfarrer geendet, still mit den anderen die Kirche.

Jetzt war auch das Ausstellungslokal geöffnet, wiewohl das Publikum noch fehlte. Die beiden Schwestern waren die ersten, welche die Stufen zu dem großen Saal hinanstiegen, und eine Zeitlang die einzigen, die darin weilten. Sie hatten unten nach dem Gemälde des Herrn Grandidier gefragt, und man hatte ihnen seinen Platz bezeichnet. Doch war es nicht schwer, dasselbe zu finden. Es beherrschte den ganzen Saal, ja, man konnte sagen, das ganze Gebäude. Schon indem man sich der Treppe nahte, sah man seine Farben leuchten. Es erhellte gleichsam den Raum mit seinem wunderbaren Glanz. Etwas Berauschendes war in dieser Farbenpracht, sobald sie das Auge nur berührte. »Das ist das Bild!« mußte sich sogleich jeder sagen, ehe man noch Form und Inhalt selbst erkannt hatte.

Der Anblick ganzer Wände voll Gemälde, sogar der starke, eigentümliche Terpentingeruch, der in solchen Räumen herrscht, hat für denjenigen, der nur selten hierher kommt, leicht etwas Verwirrendes. Bärbel hielt sich fest an Helenens Arm. Es ist nur gut, dachte sie, daß wir noch allein sind. Denn dem Mädchen war ängstlich zumute. Sie wußte nicht warum, und wer, wenn nicht ihr Herz, hätte ihr's sagen mögen? . . .

Die Schwester ging voran, und ihr Schritt war unhörbar auf dem Teppiche. Plötzlich, dem Bilde schon ganz nahe, blieb sie stehen – fuhr sie zurück . . . der Schrei: »Er ist es! Er ist es!« entrang sich ihrer Brust, und von dem Arme Bärbels sich losmachend, stürzte sie zu dem Gemälde hin. Scheu blickte Bärbel sich um; niemand war im Saale, niemand hatte sie vernommen. Sanft umschlang sie Helenen, und noch ehe sie selbst einen Blick auf das Gemälde geworfen, fragte sie: »Wer ist es?«

289 »Alfons!« sagte Helene; und ihr Gesicht mit beiden Händen bedeckend, schluchzte sie heftig.

Zum Glücke waren sie noch immer allein; Helene hatte Zeit, sich zu sammeln – und jetzt, das Gesicht strahlend wie von einer fernen, untergehenden Sonne, mit der erhobenen Rechten gegen die Mittelfigur des Gemäldes deutend, sagte sie: »Das ist Alfons! Du, Bärbel, hast ihn in den letzten Tagen seines Leidens nicht gesehen. Du kannst ihn nicht kennen – aber ich . . . unter Tausenden würde ich ihn erkennen, ob auch die fremdartige Tracht ihn verhüllen mag – an diesem wehen Zucken seiner Lippen, an diesem feuchten Glanz seiner Augen würde ich ihn erkennen unter jeder Umgebung und in jeglicher Verstellung . . . O Bärbel, Bärbel – wie muß er gelitten haben! Und wie schön ist er noch immer!«

In der Tat, es war ein wundervoller Kopf; das Entzücken aller Frauen, die mehr noch als für die Bravour der Malerei für diesen Kopf schwärmten. Dieser französische Krieger war damals, im Winter 1870, der Liebling aller Salons in Berlin, und er nicht am wenigsten trug dazu bei, alle Welt neugierig zu machen auf Eduard Grandidier.

Helene konnte sich von dem Anblick nicht losreißen – immer und immer wieder kehrte sie zu dem Bilde zurück. »Und es ist mein Alfons!« rief sie – »und elend, ausgestoßen, ein Flüchtling, ein Entlaufener des Bagnos, ist er der Gegenstand der Bewunderung für euch und des Stolzes für mich! Aber welche Qualen sprechen aus seinen gramvollen Zügen – auch das siehst du nicht, Bärbel . . . aber ich, ich sehe es und ich versteh' es auch . . .

O Schwalben meines Heimatlandes,
Erzählt ihr mir von seinem Unglück nicht?« . . .

Inzwischen hatte sich der Saal mit Menschen gefüllt, die vorzugsweise nach dem berühmt gewordenen Gemälde drängten; und Helene war erschöpft in einen der bereitstehenden Sessel gesunken. Nachdem sie sich ein wenig erholt, sagte sie zur Schwester: »Komm, Bärbel, unser nächster Weg geht zu dem Maler dieses Bildes – zu Eduard Grandidier.«

Sich rasch erhebend, ergriff sie der Schwester Hand; aber selber zu bewegt, nahm sie nicht wahr, wie diese in der ihrigen zitterte. 290

 


 


 << zurück weiter >>