Julius Rodenberg
Die Grandidiers
Julius Rodenberg

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Herr George Grandidier führt seinen Sohn auf den rechten Weg

Zu diesen Promenaden pflegte Herr George Grandidier sich wie zu irgendeiner feierlichen Angelegenheit zu rüsten; er zog den langen braunen Rock an, den er trug, wenn er zu den Versammlungen der Gemeinde ging, und nahm den Stock von dickem Bambusrohr mit dem goldenen Knopf, vor welchem Grandidier junior einen so großen Respekt hatte. Dann, mit einem Blick nach der Wettergegend hin, trat er auf die Schwelle seines Hauses und lächelte zufrieden, wenn die Nachmittagssonne die Giebel der unregelmäßigen Häuserreihe gegenüber an der Friedrichsgracht rötlich beleuchtete. Das Glockenspiel der Parochialkirche an der anderen Seite des Wassers, aus der Klosterstraße, klang gar lieblich über allen Lärm und Brausen der Stadt, über ihre Straßen und Häuser daher, mitten im Treiben des Alltags eine leise melodische Mahnung an den ewigen Frieden und den immerwährenden Sonntag, der dort oben in den Höhen herrscht. Es war nichts Neues für Herrn Grandidier; er vernahm die frommen Klänge, wenn er nicht in seiner Fabrik war, an jedem Tag zu den festgesetzten Zeiten, alle Viertelstunden, immer nur einzelne Takte, die, gleichsam von der Arbeit unterbrochen oder nur in ihre Pausen hineingeworfen, erst am Tage des Herrn und der Ruhe sich zu vollen Chorälen entwickelten. Aber jedesmal, wenn er sie hörte, war es ihm, als ob sie ihm etwas zu sagen hätten, etwas Gutes und Heiliges, und er blieb stehen, bis die Glocken wieder schwiegen.

Dann nahm er den Knaben an die Hand, und eine Weile gingen beide stumm nebeneinander her das Ufer entlang; der Vater versunken in die Aufgabe, die er sich gestellt hatte, der Sohn mit seinen dunklen, träumerischen Augen umherschweifend und überall, bald in der Luft, bald auf und bald an dem Fluß, irgendeinen Gegenstand entdeckend, welcher seine Phantasie beschäftigte: den Wasserspiegel der Spree, die hier so weit ist wie ein See, die Turmspitzen in der Sonne, die kleinen Bretterhäuschen auf der Spree, die großen, dunklen Gebäude auf der Insel, das mächtige Gemäuer am Kai, die Treppen und Gitter an der einen Seite der Fischerbrücke, den freien Platz am Wasser auf der anderen, die Kübel 24 und Fässer und flachen Behälter, in welchen die großen Aale sich langsam herumbewegten; der Kran und die Boote, und die schwarzen Pfähle mitten im Wasser, an welchen immer Netze hingen, die hölzernen Schanzen und Brüstungen am Ufer, an welchen immer Hemden und Strümpfe hingen, die Häuser dahinter, einige schmal und hoch, andere breit und niedrig, einige mit sehr vielen Fenstern dicht nebeneinander, andere mit sehr wenig Fenstern weit auseinander und eines, das nur ein Fenster hatte wie ein Auge, und der Strom selber, der sich hier dunkel und geheimnisvoll unter den Häusern verliert, um erst wieder jenseits derselben gurgelnd und rauschend zum Vorschein zu kommen, wo die Mühlen klappern.

Wenn die beiden Wanderer den Köllnischen Fischmarkt überschritten und das Gerassel der Wagen, das Gedränge der Fußgänger, welches hier besonders stark ist, hinter sich hatten, am Eingang der Breiten Straße, machte Herr Grandidier halt, und den goldenen Knopf seines Rohrstocks an die Nase legend, blickte er seinen Sohn fragend an.

»Ist es nicht wunderbar,« begann er dann, »daß wir hier in der Breiten Straße spazieren gehen?«

Grandidier junior fand, um die Wahrheit zu sagen, nichts Wunderbares darin. Er würde sich mehr gewundert haben, wenn sein Vater mit ihm in der Schornsteinfegerstraße spazierengegangen wäre oder in der alten Leipziger Straße, wo der Gang zwischen den winkligen Häusern von Raules Hof ihn besonders anzog, oder auf einer von den kleinen Brücken, von welchen man unter den alten Bäumen einen Turm sieht, der ganz schwarz ist vor Alter. Aber in der Breiten Straße!

Er machte deswegen auch ein höchst ungläubiges Gesicht, womit der Vater indessen nicht unzufrieden schien.

»Glaube mir, mein Sohn,« fuhr er fort, »daß es nicht halb so wunderbar wäre, wenn wir beide in diesem Augenblick in der Altstadt von Paris oder auf einer von den Seinebrücken oder auf dem Grèveplatz spazieren gingen.«

Nun horchte der Knabe auf. Er hatte sich die Frage noch nicht vorgelegt, aber er glaubte, daß es in einer der Gegenden von Paris, die sein Vater genannt, fast ebenso schön sein müßte als in Neu-Kölln am Wasser, und auf jeden Fall viel schöner als in der Breiten Straße.

25 Doch der Vater blickte ihn ernsthafter, beinahe mit einem traurigen Ausdruck an, indem er hinzufügte: »Ja, das größte Wunder ist, daß wir überhaupt spazierengehen können, hier oder dort oder irgendwo. Denn wenn Gott deine Vorfahren vor zweihundert Jahren nicht errettet und auf der Flucht begleitet und hierher nach Berlin geführt hätte, so wärest du nicht und ich wäre nicht und die ganze französische Kolonie wäre nicht, und wer weiß, auch Berlin wäre nicht, was es jetzt ist, eine der schönsten Städte der Welt, mit den schönsten Häusern, den schönsten Läden und den schönsten Hüten. Das alles verdanken wir Gott und einem Manne, der sich unter Gottes Beistand einen großen Namen gemacht vor den Menschen, besonders aber vor den Grandidiers.«

Sie waren nun am Ende der Breiten Straße angekommen, da, wo man über den freien und weiten Platz hinaus das Königshaus der Hohenzollern sieht. Aber nicht zu der ernsten und fast schmucklosen Masse dieses mächtigen grauen Baues, sondern nach einem noch altertümlicheren Gebäude mit schnörkelreichen Zackengiebeln, altmodisch verzierten Fenstern und tiefen Durchgängen auf der anderen Seite der Straße wies der Vater jetzt hinüber.

»Dieses Haus sieh dir an,« sagte er, indem er einen besonderen Teil der langen, unter sich zusammenhängenden Reihe mit seinem Stocke bezeichnete. »Schon vor zweihundert Jahren stand es da, wie es heute noch steht, und dort war es, in jenem Erkerhaus, unter jenem Dach und hinter jenem Fenster, wo unsere Voreltern, als sie bedrückt und bedrängt, elend und verstoßen hier ankamen, ihren ersten Gottesdienst hielten. Sie kamen mit einer fremden Sprache und mit fremden Sitten; aber sie waren um ihres Glaubens willen Verfolgte und darum waren sie willkommen. Dieses Haus in der Breiten Straße war ihr erstes Asyl.«

Der gute Mann, wenn er von diesen alten und längst vergangenen Dingen sprach, ward immer weich; und es blieb zweifelhaft, als er jetzt sein gelbseidenes Foulard aus der Rocktasche zog, ob er sich den Schweiß von der Stirn oder eine Träne aus den Augen wischte.

Hierauf nahm er seinen Sohn wieder an die Hand, und indem er nach dem Schloßplatz hin weiterschritt, erzählte er ihm: »Auch die Grandidiers waren ein friedliches und frommes Geschlecht, ansäßig zu Paris in der Altstadt oder Cité, nicht 26 weit von der Kirche von Notre-Dame und dem alten Palais de Justice. Da, in einem alten Hause, das in einer alten Straße stand, wohnten sie, machten feine Hüte, waren mit ihrem Lose zufrieden und verlangten nichts Besseres, als ihrem Gotte dafür zu danken. Allein das war es just, was man ihnen und vielen, vielen Tausenden ihrer Brüder vom reinen reformierten Glauben nicht erlauben wollte. Schon früher einmal, ungefähr hundert Jahre vorher, war es in einer blutigen Nacht über die Reformierten mit Mord und Brand hergegangen – in der Bartholomäusnacht, unter der schrecklichen Königin Katharina von Medicis. Dann aber, unter dem guten König Heinrich dem Vierten, kamen bessere Tage für uns: er gab uns das Edikt von Nantes, welches uns gestattete, in unserer eigenen Kirche unseren Gott und Glauben zu bekennen, unser bürgerlich Gewerbe zu betreiben und des Segens froh zu werden, der unserer Arbeit folgte. Doch als der gute König, der ein Herz für uns hatte, von einem Jesuiten ermordet worden war, da hatte es auch mit dem Frieden zwischen Protestanten und Katholiken wieder ein Ende – mein Gott, mein Gott, der du der Frieden und die Liebe bist, warum sollen die Menschen, deine Kinder, nicht einträchtiglich unter dir leben und wohnen können, warum müssen sie sich hassen und verfolgen in deinem Namen?«

Herr Grandidier sprach dies mehr für sich als für seinen Sohn, der auch die Sache nur halb begriff, wiewohl das Abenteuerliche, das sie gleichsam umschwebte, ihn doch wieder anzog.

»Da geschah es nun um diese Zeit, daß zwei Grandidiers, Brüder, die »frères Grandidier«, wie sie sich nannten, das Geschäft betrieben, in welchem unsere Familie sich immer ausgezeichnet hat – Alfons der eine, der andere, nach welchem du genannt bist, Eduard. Mit wachsender Betrübnis sahen sie den Hader sich ausbreiten und immer näherkommen – immer näher dem alten, guten Haus, in welchem die Grandidiers geblüht seit Menschengedenken. Damals regierte der großmächtige König Ludwig der Vierzehnte in Frankreich, ein Monarch, der die Welt, ihren Ruhm und falschen Schein immer mehr geliebt hat als den lieben Gott im Himmel, und der sich zuletzt, als er älter wurde, mit seinem Gewissen abzufinden meinte, wenn er den protestantischen 27 Glauben aus seinem Reiche vertilgen und vernichten könne. Doch der Glaube ist von Gott, und selbst der König, wenn er sich wider Gott setzt, ist nur ein Mensch. Und was können Menschen mir zufügen? sagt der Psalmist; und so sagten auch die Grandidiers, zuerst alle beide, dann, je mehr das Verderben heranrückte, der eine, der Eduard. Unsere Kirche wurde zuerst geschlossen, dann zertrümmert, und ich erinnere mich noch wohl aus den Erzählungen der Alten, wie damals unsere Väter weite Reisen machen mußten aufs Land, zum Beispiel nach Charenton hinaus, um in einer der noch übriggebliebenen Kirchen ihr Herz vor Gott auszuschütten. Aber auch das ward allmählich verboten, und sogar die Andacht im eigenen Hause sollte nicht mehr gestattet sein: hohe Strafen wurden darauf gesetzt, und Dragoner wurden bei den verdächtigen Familien einquartiert, um sie bis aufs Blut auszusaugen und zu plagen. Doch war es noch nicht alles. Eines Tages kam die Frau von Alfons jammernd und wehklagend nach Haus. – »Mein Kind! Mein Kind!« schrie sie, sich die Haare raufend, in ohnmächtiger Verzweiflung. Man hatte ihnen ihr Kind geraubt – einen Knaben in deinem Alter, Eduard – ihren einzigen Sohn . . . der Name hat sich in der Familie erhalten – er hieß George . . .«

»Wie du, Vater,« rief der Kleine.

Aber erschüttert hielt Herr Grandidier inne. Voll Zärtlichkeit, als ob er ihn beschützen wolle gegen irgendeinen unsichtbaren Feind, ruhte sein Auge auf seinem Sohne.

Doch dieser ballte die kleine Faust. »Der schändliche König! rief er. »Dies abscheuliche Frankreich!«

»Nicht so, mein Sohn,« verwies ihn ungewöhnlich sanft sein Vater. »Wir dürfen niemals vergessen, daß unsere Voreltern Franzosen waren. Obwohl ausgestoßen und verbannt, dürfen wir doch das Land nicht verwünschen, aus welchem wir gekommen. Sie meinten Böses an uns zu tun; es hat sich zum Guten gewandt. Damals freilich, in jenen düsteren Tagen, wer hätte es vorausgesehen? Wochenlang, monatelang hat Alfons mit sich und seinem Gewissen gerungen. »Werde katholisch,« riefen ihm die Mönche zu, »dann sollst du deinen Sohn wieder haben. Er ist katholisch geworden und wir können ihn nur einem katholischen Vater zurückgeben!« – »Katholisch!« wiederholte dumpf, ohne zu wissen, was er sagte, der arme Mann, »mein Sohn katholisch!« – Sie 28 hatten das Kind drinnen im Kloster den Glauben seiner Väter abschwören lassen. – »Gott hat es zugelassen,« tröstete Eduard den Bruder, »Gottes Ratschluß geschehe. Du aber darfst nicht nachgeben. Opfere deinen Sohn, aber nicht deinen Glauben!« – Es war zu viel für Alfons. Gebeugt, gebrochen schleppte er sich zu dem Kloster – es ist nachmals, hundert Jahre später, in der Französischen Revolution gestürmt worden, und der Altar, an welchem Alfons seinen Glauben abschwor, stand fußtief in dem Blute der letzten Mönche. Du siehst, mein Sohn, daß schon hienieden das Unrecht heimgesucht und vergolten wird. »So,« sagten die Mönche zu Alfons, als das Entsetzliche geschehen, als er zum Meineidigen geworden an sich und seinen Vätern, »hier, Alfons Grandidier, hast du deinen Sohn wieder!« – Aber als er ihn nun wieder hatte, da wagte er nicht, ihn zu berühren. –»Gebt ihn seiner Mutter,« schrie er fast wie ein Wahnsinniger, und sich auf den Boden niederwerfend, fing er an zu weinen und zu schluchzen: »Meinen Sohn habe ich wieder, aber den Himmel habe ich verloren!« Und an demselbigen Tag, es war der 1. Oktober 1685, ward das Edikt von Nantes öffentlich widerrufen, mehr als fünfundzwanzigtausend Protestanten in Frankreich waren heimatlos, waren hauslos –«

»Und was tat Eduard Grandidier,« fragte der Sohn, »mein Pate, sagtest du nicht so?«

»Nun, nicht gerade dein Pate,« sagte der Vater mit einem wohlwollenden Lächeln, »es sind zweihundert Jahre darüber vergangen! Aber dein Namensvetter, wenn du so willst – dein Ururgroßvater – und was er tat, willst du wissen? In die rechte Hand nahm er die Bibel und an die linke sein treues Weib und sagte: »Lebe wohl, Alfons! Auf dieser Welt werden wir uns nicht wieder sehen; aber gebe Gott, daß wir uns in jener einst aufs neue begegnen!« – So ging er aus Paris – aus der Stadt, die er über alles geliebt – von dem Kirchhof, in dessen Erde seine Väter begraben waren – heimlich stahlen sie sich fort, zu dem Tor hinaus, auf die Straße nach Charenton – und als sie dahin kamen, da war auch das letzte Gotteshaus der Reformierten in Frankreich zertrümmert, verwüstet, von der Erde verschwunden . . . aber er sollte es wieder sehen, weit in einem anderen Lande und in einer anderen Stadt . . .«

Herr Grandidier schwieg. Sie waren nun auf dem 29 Schloßplatz und näherten sich der langen Brücke, da, wo man links in die Burgstraße, rechts auf das Wasser und vor sich auf die belebte Königsstadt sieht.

Traurig mag in jenen Oktobertagen Eduard Grandidier auf den Trümmern der Kirche von Charenton gestanden haben – nicht wissend, wohin er den Wanderstab setzen solle. Da plötzlich erklang aus dem Norden her eine Stimme – es war wie ein Ruf aus dem Lande der Verheißung, und die armen Flüchtlinge hörten ihn und ihr Herz jauchzte zum Herrn. »Demnach fühlen wir Uns gedrungen,« so schallte es weither über den Rhein, »von einem großen Mitleid für die Unglücklichen erfüllt, welche für das Evangelium und für die reine Lehre, die auch Wir bekennen, so Hartes dulden, ihnen Unsere Staaten als eine sichere und freie Zufluchtsstätte zu öffnen.«

Mit seinem frischen Antlitz voll jugendlicher Begeisterung blickte der Knabe seinen Vater an, der jetzt nach der Brücke hinüberdeutete, nach der Einbucht und dem Reiterbild, welches in derselben, von der Abendsonne beleuchtet, dastand.

»Da kamen die Flüchtlinge – da kamen sie – da kamen die Valettes und die Humberts, die Bouchés und die Lennés und die Nicolas, da kamen die Ravenés und alle die großen Familien, welche den Gott ihrer Väter nicht abschwören gewollt.

Da kamen sie alle, die Gärtner aus den Vorstädten von Paris und schmückten die neue Heimat mit Blumen, die man zuvor in Berlin nicht gekannt – da kamen die Fabrikanten aus dem Süden und dem Westen und webten Samt und Seide, und spannen Leinwand und wirkten Tuch und feine Wollstoffe – da kamen die Männer aus Languedoc und machten hier die Kunst kostbarer Gespinste heimisch – da kamen die Goldwirker aus Villiers-le-bel mit Brokatgewändern und mit Tressen – da kamen die Tapetenmacher aus der Auvergne und die Metallarbeiter aus Sedan und schmiedeten Klingen und Waffen – und da kamen auch die Grandidiers hierher nach Berlin und gründeten die erste Hutmanufaktur – und es ging ihnen wohl in dem neuen Boden – schwer und langsam hatten sie sich losgemacht – aber hier fanden sie wieder, was sie dorten aufgegeben – und mehr noch, mehr – die Kirche von Charenton steht jetzt hier mitten in Berlin auf dem Gendarmenmarkt – und dort in dem 30 französischen Dom loben wir Gott und danken ihm, und nächst ihm diesem da,« – sie standen jetzt auf der Brücke vor dem prachtvollen Erzbilde des Großen Kurfürsten, um dessen Haupt die Lorbeeren im Scheine der untergehenden Sonne golden funkelten – »er rief die Vertriebenen zu sich – er war es, der uns seine Staaten geöffnet, der uns eine bleibende Stätte gegeben hier in Berlin – der Name des Großen Kurfürsten sei gesegnet – er ist der Wohltäter der Grandidiers!«

Ganz versunken stand der Knabe in den Anblick des Helden, welcher so herrlich auf dem Rosse saß, und das edle Tier, indem es sich hoch aufbäumte, mit seiner energischen Hand und dem kraftvollen Druck seiner Schenkel festhielt. Welch eine sonnige Heiterkeit in dem männlich schönen Gesicht, welch ein Adel der Stirn und wie hob sich die mächtige Brust! Wahrlich, ein Mann aus Erz, und dennoch war es dem Knaben, als ob Leben in dem Bilde sei, als ob es eine Empfindung habe und eine Erwiderung für die warme Liebe, mit der er zu ihm emporsah, als ob es einmal in irgendeiner großen Not und Bedrängnis ihm zu Hilfe kommen und über die Köpfe der Riesen, die zu seinen Füßen gefesselt liegen, hinabspringen werde zur dröhnenden Erde.

Der Vater bemerkte mit Genugtuung den tiefen Eindruck, mit welchem der Knabe vor dem Monumente dessen stand, der ihm in gewissem Sinne als der Schutzpatron seiner Familie galt und für den er eine übergroße Verehrung und Dankbarkeit hegte.

Der Anblick und die Lehre dieses Nachmittags wird nicht verloren für ihn sein, dachte er, indem er seinen Sohn ansah und über dessen Haupt hinweg die Königsstraße hinunterschaute, auf welcher unter dem Schatten des Frühlingsabends die Menge von Fußgängern Kopf an Kopf und die Wagen sich bewegten.

Langsam traten sie hierauf den Heimweg an. Schon lagerte die frühe Dämmerung über dem breiten Bassin der Spree, als sie diese wieder erreicht hatten, und über der Häusermasse ringsum hatten nur noch die Türme den letzten Schimmer des Tags. Aber dunkel in den klaren Abendhimmel hinein zogen die schwarzen Rauchwolken aus den großen Fabrikschornsteinen; aus den Rinnsteinen dampfte der heiße Wasserdunst, den die Dampfkessel entsandten, und in weitem Umkreis begannen unzählige Lichter, eins dicht neben dem 31 andern zu flimmern – und bei der Stille des Abends vernahm man ein Stoßen und Stampfen, ein Rollen und Schnurren nah und fern, von jenseits und diesseits des Wassers – es waren die Fabriken vom Stralauer Viertel, von Neu-Kölln am Wasser, von der Wallstraße, und hier endlich war auch die Fabrik des Herrn Grandidier.

Von dieser Seite gesehen, stellte sie sich als ein langes, hohes Gebäude dar, mit vielen halbrunden, tiefen und vergitterten Fenstern, die jetzt alle hell waren. Das war ein Leben darin! In einem großen Saal zu ebener Erde, den man von außen ganz übersehen konnte, saßen die Schreiber und die Rechnungsführer und die Buchhalter. Sie saßen über mächtige Pulte gebückt, junge Leute und alte Leute, alle sehr fleißig, sehr emsig, und kleine Lampen mit grünen Schirmen waren dicht über ihren Köpfen, und keiner sah auf von seiner Arbeit. Und daneben blickte man in einen großen Maschinenraum; hier waren die Scheiben blind angelaufen; aber die Helligkeit und der dumpfe Lärm drang hindurch, und Männer in rußigen Jacken und mit langen Bärten und rauchgeschwärzten Gesichtern bewegten sich hinter denselben hin und her. Und dann kam das Portal und über demselben, ganz hoch, war eine erleuchtete Uhr mit so langen Zeigern, daß man ordentlich sah, wie der eine von Minute zu Minute ging, ernst, unerbittlich, als wolle er demjenigen, der ihn ansah, sagen: »Du, du – diese Minute ist nun vorüber und keine Macht der Erde bringt sie wieder zurück.« Unter der Uhr, selbst bei Nacht lesbar, in ellenlangen schwarzen Buchstaben, stand: »George Grandidier, Hutmanufaktur«, und ringsum waren die Preismedaillen aller Welt und Gewerbeausstellungen, einige von Bronze, andere versilbert oder vergoldet, alle zusammen aber in so kolossal vergrößerten Maßstäben, daß man ihre Inschriften, Bilder und Zeichen auch jetzt in der Dämmerung noch deutlich unterscheiden konnte.

»Das ist der Segen der Arbeit,« sagte Herr Grandidier, indem er nach der besonders gelungenen Vergrößerung einer solchen Medaille wies, welche die Göttin der Industrie darstellte, wie sie mit der erhobenen Rechten dem Hause Grandidier einen Kranz bot. »Und das alles,« schloß er dann seinen Unterricht, »verdanken wir den Hüten. Aber du siehst, es ist noch Platz da für neue Medaillen, und ich hoffe, du wirst der Mann werden, um sie zu verdienen.«

32 Diese Nutzanwendung, so motiviert sie war, schien doch von allem, was er an solchen Tagen gehört, den geringsten Anklang bei dem Knaben zu finden. Sie ging ihm, wie man sagt, zum einen Ohr hinein und zum andern wieder hinaus. Was die Phantasie, was das Herz anregte, das blieb in ihm und beschäftigte ihn noch lange; was aber wieder auf diesen Pfad zurückführen sollte, den er nun einmal mit Widerstreben ging, das war ihm fremd und machte, je häufiger es versucht ward, ihn immer verschlossener. Hier war die Differenz, und der Vater sah, indem der Knabe heranwuchs, nicht so sehr einen Widerstand oder Trotz, als vielmehr ein stummes Abwenden, das noch weit schwieriger zu bemeistern war. Willig, wie er ihm folgte, ja vorauseilte, wenn es die Erzählungen der Vergangenheit und die Großtaten der Väter betraf, zog er sich stumm zurück, sobald es auf das Ziel ging, für welches, nach des Herrn Grandidier Meinung, doch alle jene Wunder und Zeichen geschehen waren.

Wenn sie von einem Spaziergang wie der geschilderte nach Hause gekommen waren, dann hatte der Knabe keine Ruhe, bis er ein Stück Papier gefunden, und mit Verwunderung sah der Vater auf demselben Figuren von Männern entstehen, die in der Rechten das Kreuz trugen, während sie mit der Linken einen Wanderstab hielten, und hoch über ihnen, aus Wolken hervor, trat ein Roß und ein Reiter wie ein Schutzgeist der Pilger – kein anderer ohne Zweifel als der Große Kurfürst, dem er unverkennbar glich.

»Was soll das sein?« fragte dann wohl Herr Grandidier, indem er nach dem Blatte langte, welches noch vor dem Sohn auf dem Tische lag.

»Oh, nichts,« erwiderte dieser rasch, indem er es zerriß, als ob er nicht wolle, daß es jemand sehen solle.

»Es wird wohl die Göttin der Industrie gewesen sein, die du über unserer Tür gesehen hast,« forschte der Vater weiter, um seinen Sohn auf die Probe zu stellen.

Aber dieser, was auch sonst sein Fehler sein mochte, konnte nicht lügen. Es widerstand seiner offenen, hellen Seele.

»Nein,« rief er mit einem gewissen verächtlichen Tone, »ich wüßte nicht, was an der viel zu zeichnen wäre. Dabei kann man sich gar nichts denken.«

Freilich, das war's ja, was Herrn Grandidier so sehr bekümmerte, daß sein Sohn sich nichts dabei denken konnte!

33 »Wir könnten so glücklich sein,« sagte er oft zu seiner Ehehälfte, welche jetzt fast beständig am Eckfenster ihres Hauses saß mit der Aussicht auf die Apfelkähne und die Inselbrücke, während unter ihren Händen die Stricknadeln lustig fortarbeiteten. »Wir könnten so glücklich sein,« sagte er, »das Geschäft blüht, unsere Töchter sind gut verheiratet – aber der Junge, der Junge! Der macht mir Sorge!«

Frau Luise Dorothea, ein braves Weib, wie sie war, empfand ordentlich eine kleine Schadenfreude darüber, daß ihr Mann jetzt auch seinen Kummer hatte, und es gewährte ihr eine Art von Trost, in die Opposition zu gehen und ihren Sohn in Schutz zu nehmen. Ja, sie wuchs in dieser neuen Aufgabe, sie, die geduldige Frau, die früher ihrem Manne niemals widersprochen.

»Ich sehe nichts Böses an unserem Eduard,« sagte sie daher; »er macht seine Streiche wie jeder andere Junge, du strafst ihn dafür – damit ist die Sache doch abgemacht. Was willst du denn sonst noch von ihm?«

»Was ich von ihm will? I, das weißt du doch so gut als ich. Ihn zu einem richtigen Hutfabrikanten erziehen!«

»Wenn er nun aber nicht will?«

»Er – nicht wollen?« brauste Herr George Grandidier auf. Aber doch stieg plötzlich die Möglichkeit, daß er vielleicht nicht wolle, wie etwas sehr Schreckliches vor ihm auf; und dann, mit einem Tone des Vorwurfs, wandte er sich wieder an seine Frau: »Wenn er nicht will, so bist du schuld daran –«

»Ich?« rief die gute Frau verwundert und ließ das Strickzeug fallen.

»Ja, du – Luise Dorothea Grandidier, geborne Schnockel. Du und noch wer anders!«

»Mach doch keine törichten Anspielungen,« erwiderte die Frau; »ich bekümmere mich den lieben langen Tag nicht um den Jungen, weil du sagst, ich verstände nichts davon; du aber verziehst ihn auf der einen und machst ihn ganz irre mit all deinen Ratschlägen und Verweisen auf der anderen Seite. Laß ihn doch seine jungen Jahre genießen!«

»Das soll ich wohl,« rief Herr George Grandidier, bei dem sich das leicht entzündbare Blut immer mehr regte, »als ich in seinem Alter war, sacre nom de Dieu! was war ich da schon für ein fixer Kerl! Was ein gutes Häkchen werden will, das krümmt sich bei Zeiten.«

34 »Na,« versetzte Frau Luise Dorothea gelassen, »den wirst du nicht krümmen. Der hat auf seine Art seinen Kopp wie du.«

»Luise Dorothea,« sagte nun ihr Gemahl, der das Bedürfnis empfand, seinem Ärger an irgend jemand Luft zu machen, »ich lasse mir viel von dir gefallen, du kannst meinetwegen den ganzen Tag lang Strümpfe stricken, anstatt in unserer schönen Kutsche spazieren zu fahren, aber die deutsche Sprache sollst du mir in Ehren halten! Kopp! – ist das ein Wort für eine Frau von deinem Stande? Kopf heißt es, und den werd' ich ihm waschen – darauf kannst du dich verlassen!«

Hierauf nahm er den bewußten Stock, den mit dem goldenen Kopf, und ging damit hinüber in den Hof, um seinen hoffnungsvollen Sprößling zu suchen, der um diese Zeit gewöhnlich mit einer Bande auserlesener Geister Räuber und Gendarmen spielte, er natürlich immer der Räuberhauptmann. Herr Grandidier machte alsdann mit sotanem Räuberhauptmann nicht viel Federlesens, sondern faßte ihn am Ohr und zog ihn unvorbereitet, wie er war, mit sich fort in die Fabrik.

Wenn Eduard bei solchen Wanderungen den Stock sah, so kannte er sein Schicksal. Aber nicht einmal das machte besondern Eindruck auf ihn. Im vordersten Raum der Fabrik angelangt, warf der Vater ihm vor, daß er kein Herz für ihn und noch weniger für das Geschäft besitze, und erzählte ihm, welch ein guter Junge er zu seiner Zeit gewesen sei und wieviel er in Eduards Jahren schon von der Sache verstanden habe.

»Aber wart,« fügte er dann hinzu, »ich werde dich lehren, wie man Hüte macht,« und dabei gab er ihm eine Ohrfeige, daß die steinernen Wände des Gewölbes davon widerhallten.

Nachdem er auf diese Weise den Unterricht begonnen hatte, führte er seinen Eleven weiter durch alle Zonen und Wendekreise der Fabrik bis hinauf unters Dach, in die Lagerräume, wo die fertigen Hüte in schönen weißen Papierhüllen oder eleganten Pappschachteln standen.

»So,« sagte er dann, indem er ein besonders ausgewähltes Exemplar aus der Schachtel nahm, mit dem Ärmel darüber herwischte, mit dem Munde darüber hinblies und zuletzt mit eingekniffenem Auge von der Seite anblinzelte, »das sieh dir an! Daran kannst du was lernen! Das nennt man einen Kastorhut, und das ist das feinste, was man hat, halb Biber 35 und halb Kamelhaar. Nur die Kardinalshüte sind noch feiner, nämlich reiner Biber; aber da wir hier in Berlin keine Kardinäle haben, so brauchen wir auch keine Hüte für sie zu machen, und die Kamele sind viel wichtiger für uns.« Und er setzte ihm hierauf auseinander, wie kunstvoll so ein Hut als Ganzes betrachtet sei und wieviel Hände tätig gewesen, um ihn in all seinen Einzelheiten mit solcher Vollendung herzustellen, Äußeres und Inneres, Glanz und Kern, Filz, Leder und Seide, bis auf den Stempel, der in goldenen Zügen oben das preußische Wappen mit den beiden wilden Männern und darunter den Namen: »George Grandidier, Berlin«, zeigte. So sehr war der Genannte in die Betrachtung seines Werkes vertieft, daß er gar nicht bemerkte, wie sein Sprößling, anstatt ihm zuzuhören, einen Bleistift aus der Tasche seines Jäckchens genommen und die weiße Hülle eines neben ihm stehenden Hutes mit der Abbildung einer wunderlichen Prozession verziert hatte. Als er näher hinsah, da war es die ganze kleine Räuberbande von unten, jeder einzelne von ihnen zum Sprechen getroffen, ohne Strümpfe, ohne Schuhe, mit zerrissenen Hosen, aber alle mit den ausgezeichnetsten Hüten geschmückt, und der vorderste auf einem Kamel reitend, mit einer Fahne, auf welcher der Firmastempel »George Grandidier« prangte.

Jetzt aber war Herrn Grandidiers Geduld erschöpft und der Moment für den Stock mit dem goldenen Knopf gekommen; diesen schwang er und beendete den praktischen Kursus in der Hutmacherei, der mit der Ohrfeige begonnen hatte, mit einer solchen Tracht Prügel, daß sie wahrscheinlich jedem andern als Eduard verleidet haben würde, zuerst mit Straßenjungen zu spielen und sie hernach auf Hutfutteralen abzukonterfeien.

Aber Grandidier junior biß die Zähne übereinander und gab keinen Laut, weder des Schmerzes, noch der Klage, von sich. Je strenger sein Vater ward, um so mehr zog er sich in sich selber zurück, ward stiller, nicht trotziger, aber unbeweglicher. Dem Zwange von außen gab er, wenngleich mit innerem Widerstreben, nach, ließ sich dahin und dorthin schieben, und in so frühen Jahren schon, wo mit dem Sehnen und Verlangen der Jugend auch ihre Tatkraft und Energie zuerst sich zu regen pflegt, schien er zu jedem freien Schritt aus sich selbst heraus entweder unfähig oder unlustig. Wer sich 36 freilich die Mühe genommen hätte, tiefer in das Innere des zum Jüngling Heranwachsenden zu blicken, der würde wohl ein anderes Bild gesehen haben: das eines brennenden, eines verzehrenden Durstes nach alle dem, was das Vaterhaus ihm versagte, nach Freiheit, nach Entwicklung, nach Schönheit, nach Liebe, nach dem Unaussprechlichen, für welches eine Form und einen Ausdruck zu finden den Künstler macht; daneben aber eine tiefe Niedergeschlagenheit, ein schweres Gefühl der Verantwortlichkeit, unter dem er erlag.

Die Spiele mit den Knaben auf den Sandhaufen und am Wasser, die ihn in der ganzen Nachbarschaft so populär gemacht hatten, hörten allmählich auf. Eduard ward älter, und ein vorzeitiger Ernst, der über die Jahre hinausging, fiel seinen Gönnern und Beschützern in den Spreekähnen und unter den Kolonnaden auf. In sich gekehrt, wenn auch mit dem gutmütigen Lächeln von ehedem ihre Grüße und Anreden erwidernd, ging er seines Weges, als ob er etwas suche – seine Patrone wußten nicht was. Und wußte er es denn? Es war das Unbekannte. Wer den blassen Jungen so sah, schlank emporgeschossen, schmächtig, mit großen dunklen Augen, der hätte Mitleid mit ihm empfinden können. Er beneidete die Schiffer, wenn er sie den Kahn lösen und den Fluß hinabfahren sah, wiewohl vielleicht nur Charlottenburg oder Spandau das Ziel ihrer Reise war. Aber es war doch die Ferne – der Anfang der Ferne! Selbst Samuel Fränkel, ein kleiner Kaufmann dieser Gegend und einer seiner ältesten Freunde, ward für ihn eine Persönlichkeit, mit welcher er gerne getauscht hätte. Samuel Fränkel war ein ältlicher Mann und kein besonders vornehmer Mann; aber er war immer zufrieden, und des Abends, wenn er seinen Laden schloß und den Überzieher anzog und den Hut aufsetzte und die Zigarre anzündete, um nach seinem Hause in der Heiligengeiststraße zu gehen, dann gab es gewiß keinen glücklicheren Mann. Mit Wehmut blickte Eduard ihm zuweilen nach. Nicht als ob er dem biedern Freunde seiner Kindheit ein solches Glück mißgönnt hätte – aber diese geregelte Folge der Tätigkeit und des Behagens, welches aus derselben erwuchs, ohne Zwiespalt und ohne Lücke: das war wie ein Vorwurf für ihn und machte ihn traurig. »Du wirst es niemals erreichen,« sagte er, »niemals! Du bist ein Verlorener . . .«

37 Was solch eine junge Seele, sich selber noch nicht klar und von ihrer Umgebung mißverstanden, leidet, bis sie sich zur Erkenntnis durchgerungen, das ahnen wir Erwachsene nicht; das können wir nicht nachfühlen, wenn wir es nicht selber einmal in unserer Jugend erlebt.

So war Eduard fast ein Fremder geworden in seines Vaters Haus, und es gab in demselben zuletzt nur noch ein Plätzchen, an welchem er sich heimisch fühlte – ein merkwürdiges Plätzchen, von ihm selber entdeckt bei Gelegenheit jener unfreiwilligen Spaziergänge, welche der Vater mit ihm durch die Bodenräume gemacht, um seinen Sinn für die Schönheiten der Hutmanufaktur zu wecken. Es war ein Dachkämmerchen, welches noch über jenen Räumen in der Spitze des Hauses lag, und so dunkel und so still und von einem solchen Hauch und Geruch des Altertümlichen und Geheimnisvollen umweht, daß Eduard, nachdem er es einmal gefunden, nicht wieder davon loskommen konnte. Eine kleine Treppe, fingerdick mit Staub bedeckt, führte hinauf und zwar an der Außenseite des Lagers, welches durch eine Lattenwand von ihr geschieden war. Durch diese Lattenwand hatte Eduard die kleine Treppe zuerst bemerkt. Als er hinaufgekommen, war er wie in einer anderen Welt. Wohin er tastete, da war Staub und Spinnwebe. Nur allmählich gewöhnte sich sein Auge an das unsichere Dämmerlicht, welches – wiewohl draußen heller Mittag – trüb durch ein rundes Giebelfenster fiel, dessen Scheiben so blind geworden und dessen Angeln so festgerostet waren, daß es sich nicht mehr öffnen ließ. Eine modrige Luft war hier oben wie aus längst vergangenen Zeiten, und da Menschen seit Jahren diesen Ort nicht mehr betreten haben mochten, so war ihm etwas Geisterhaftes eigen, etwas Unberührtes, was einen Dunstkreis von Beklommenheit um sich verbreitete. Stühle standen umher von tiefgebräuntem Holz und altmodischer Gestalt, auf welchen Männer und Frauen gesessen haben mochten, die seit hundert Jahren im Grabe lagen; Tischplatten, in denen der Wurm pickte, zerbrochene Spiegel von venezianischer Arbeit mit silbernen Blumen, die längst schwarz geworden; Ofenschirme mit verblaßten Stickereien, alte Gewandstücke und Möbelstoffe, die sich wie Zunder anfühlten und auseinander fielen, wenn man sie anfaßte, Bilderrahmen ohne Bilder, Haufen halbzerrissener Bücher, 38 die, wenn man sie öffnete, einen Atem der Verwesung ausströmten, altmodische grüne Lampen, die nach Öl rochen, obwohl seit Menschengedenken kein Licht mehr in ihnen gebrannt, eine Stutzuhr mit alabasternen Säulchen, der die Zeiger fehlten, Körbe voll schadhaften Porzellans, gesprungene Gläser, Küchengerät von jeder Form, und in der dunkelsten Ecke eines ungeheuer großen braunen Wandschranks, dessen Türen kaum noch in den Angeln hingen, ein lederner Kasten. Dieser Kasten war ehemals verschlossen gewesen, und er war es eigentlich noch; aber das Leder rings um das Schloß war brüchig geworden und man konnte den Deckel öffnen, ohne ihm die mindeste Gewalt anzutun. Vergilbte Papiere lagen darin, deren Ränder vom Moder mürbe geworden; Pläne von Städten und Karten von Ländern, deren Schrift und Farbe vom langen Liegen fast verwischt war, und ganz unten ein Etui von rotem Samt, welches, als Eduard es herausnahm, aufsprang. Er erschrak zuerst heftig, als ihm hier, wo alles tot zu sein schien, das Ding in der Hand lebendig ward; als er aber damit dem runden Fenster näher getreten war, erblickte er unter einem Glase den schönsten Frauenkopf, den er jemals gesehen. Es war eine Miniaturmalerei mit den zartesten Strichen und in den feinsten Farben. Das Haar dunkelblond, das Auge dunkelbraun und das ganze Gesicht von einem leisen, wehmütigen Lächeln gleichsam erleuchtet und von solch unaussprechlichem Zauber der Jugend umschwebt, daß von diesem Moment an alles andere für Eduard verschwand und dieses Bild allein übrigblieb. Ja, der ganze rätselhafte Raum verwandelte sich ihm nun in die Wohnung dieses rätselhaften Wesens, und dieses selbst hörte auf, ein Bild, ein Schatten zu sein und ward für ihn eine Wirklichkeit. Sein Leben, bisher so leer, hatte ein Ziel und einen Zweck erhalten. So oft es heimlicherweise geschehen konnte – denn er zitterte davor, sich zu verraten – schlich er hinauf, und hier konnte er stundenlang an schönen Sommernachmittagen sitzen. Durch das erblindete Fensterchen blinzelte die Sonne und eine Stelle war im Glase geblieben, durch welche man hinausblicken und etwas von der Außenwelt sehen konnte. Es war nicht viel, Häuserdächer, Schornsteine, der blaue Himmel darüber und jenseits derselben etwas Grün. Es mochten die Wiesen und Bäume außerhalb der Stadt am Spreeufer sein. Für ihn war es genug. In die Einsamkeit und Stille dieses 39 Grüns träumte er seine schönsten Träume hinein; ein kleines, allerliebstes Haus mit braunem Dach und weißen Wänden, Wald und Wasser ringsum, und in dem Hause sie, die holde Unbekannte des Bildes. Wenn nun die Sonne tiefer ging und das wunderbare Gemach – eine Rumpelkammer, um die Wahrheit zu sagen – sich mit Abendrot erfüllte, wenn goldene Lichter an den niedrigen Wänden tanzten und die Spinnenfäden wie Gespinste von Feenhänden funkelten – wer sagt, welche süßen Vorahnungen dann seine Phantasie erfüllten, welche Visionen einer unbestimmten Zukunft, welche Einbildungen von jenem ätherischen Stoff, aus welchem Gedichte und Bilder und alle Werke der Kunst gemacht werden?

Auch aus diesem Paradiese seiner Jugend sollte Eduard nur zu bald vertrieben werden.

»Du,« sagte Herr George Grandidier eines Tages zu seiner Gemahlin – denn seinem scharfen Auge entging nichts, und wenn es auch so wenig gewesen wäre als Fußspuren auf einer staubigen Treppe – »ich glaube, wir müssen unsere Rumpelkammer verschließen. Ich weiß zwar nicht, wer da oben etwas zu suchen hat und was er unter dem alten Inventar groß finden könnte, wenn er suchte. Aber mir ist, als ob jemand oben gewesen wäre, denn in diesem Hause ist man ja vor gar nichts mehr sicher.«

»Das soll wohl ein Stich sein!« versetzte die brave Frau Luise Dorothea; »mach doch mit deiner Rumpelkammer was du willst. Mir kann es einerlei sein.«

In der Tat war es immer mehr seine Rumpelkammer gewesen als ihre. Zu der Zeit, wo er das Haus gekauft, hatte er sie beinahe schon vorgefunden, wie sie jetzt noch war; und kein Mensch kann sagen, wie lange sie vorher schon so gewesen. Die alten Sachen von vielen Generationen, die früher unter diesem Dache gelebt, und von vielen Haushaltungen, die längst nicht mehr waren, hatte man hier zusammengeworfen; und Herr George Grandidier war ein konservatives Gemüt mit einer gewissen Vorliebe für das Überlieferte, wenn es ihm sonst nicht im Wege war. So war bei allen baulichen Veränderungen, denen das alte Haus zu Neu-Kölln am Wasser nach und nach unterworfen ward, dieser entlegene Winkel geschont worden, und nachdem sein gegenwärtiger Besitzer in den ersten Jahren selber noch 40 manches hinaufgebracht, was er dort vielleicht in der besten Gesellschaft glaubte, fast in Vergessenheit geraten, bis die Spuren im Staube ihn wieder daran erinnert.

Als Eduard daher am folgenden Tage kam, fand er die Türe, die zu der Bodenkammer führte, verschlossen. Wie ein furchtbarer Schlag traf ihn die Gewißheit, daß das, was ihn bisher so glücklich gemacht, dieser stille Zufluchtsort seiner Nachmittage, ihm nun für immer verloren sei. Ein tiefer Schmerz überkam ihn, der ihm fast Tränen erpeßte, doch zugleich ein Gefühl, daß ihm Unrecht geschehen, und dies Gefühl gab ihm eine gewisse Kraft des Trotzes und des Widerstandes.

»Ich werde sie dennoch wiedersehen,« rief er, indem er die Fäuste ballte; »ich werde sie wiedersehen und wenn ich sie mir selber malen sollte!«

Der Vater jedoch wir mit dem Resultat seiner Erziehung im allgemeinen und nicht am wenigsten damit zufrieden, daß er die bewußte Tür dem Sohn vor der Nase zugeschlagen hatte. Denn wiewohl niemals davon zwischen ihnen gesprochen worden, war es ihm doch klar, daß niemand als Eduard oben gewesen – er konnte sich freilich nicht erklären, aus welchem Grunde, wenn es nicht der war, daß er immer das tat, was er nicht tun sollte.

Inzwischen hatte Eduard das sechzehnte Jahr zurückgelegt, und der Vater glaubte nun die Zeit gekommen, ihn als Lehrling ins Geschäft zu nehmen. Doch da sollte Herr Grandidier abermals erfahren, daß zwischen ihm und dem Sohn etwas stand, was er mit all seiner Unerbittlichkeit zu bannen nicht imstande gewesen – etwas, das wie ein Schatten schon aus dem Knabenalter stammte, was sich abermals verraten bei jenem von beiden Seiten schweigend ausgetragenen Konflikte, der mit der verhängnisvollen Tür geschlossen ward und seitdem immer gewachsen und gewachsen war – etwas, das ihn unbehaglich machte. Kein Zeichen, weder der Trauer, noch der Freude, gab Eduard von sich bei der Nachricht des Vaters; diesem aber, wenn er auch keinen Enthusiasmus erwartet hatte, würde doch ein rebellisches Wort lieber gewesen sein als das unheimliche Schweigen. Endlich ward er ungeduldig. »Hast du denn gar nichts zu sagen?« rief er.

»Was sollt' ich!« entgegnete kalt und gleichgültig wie jetzt 41 fast immer Eduard. »Du hast mich ja nicht gefragt. Du willst, daß ich in die Fabrik gehen soll, und ich gehorche.«

»Das ist aber nicht genug. Du mußt es auch gern tun, mit Lust und Liebe zur Sache. Mon Dieu, mon Dieu,, als ich in deinen Jahren war, wie hab' ich da zugefaßt!«

Eduard schwieg.

Aber Herr Grandidier beruhigte sich nicht damit.

»Da seh einer den verstockten Jungen an!« rief er. »Willst du wohl antworten?«

»Du verlangst Gehorsam von mir, und ich werde gehorchen,« entgegnete Eduard. »Aber ob ich es gerne tue? Nun, wenn du die Wahrheit wissen willst – nein! Es ist einmal nicht mein Beruf.«

Da hätte man Herrn Grandidier hören sollen! Wie er lachte! Aber es war kein sehr vergnügtes Lachen. »Beruf!« rief er, »wer hat dir das in den Kopf gesetzt? Sechzehn Jahre alt und will schon von Beruf reden! Nun, so will ich dir's denn sagen: der Beruf der Grandidiers ist, Hüte zu machen. So war's seit zweihundert Jahren, und daran wirst du nichts ändern – du nicht! Was willst du denn sonst werden? Ein Bummler, ein Nichtstuer?«

Da leuchteten die dunklen Augen Eduards auf; alles, was auf dem Grunde derselben schlummerte, wie von einem Schleier verhüllt, die niedergedrückte Jugendlust, das verhaltene Feuer der Leidenschaft, die natürliche Heiterkeit, der angeborene Humor – sein ganzes, innerstes, geheimstes Leben erwachte mit einem Male und gab seinem Gesicht für den Moment einen Ausdruck von unwiderstehlicher Kraft und Entschlossenheit, vor der der Vater zurückschrak.

»O Vater!« rief er, beide Hände flehend gefaltet, »wenn du mich fragst, was ich werden will – es gibt nur eins, nur eins auf der Welt – laß mich einen Maler werden!«

Er wollte mehr sagen. Aber ein Blick des Vaters, der ihn traf, machte ihn verstummen. Er kam sich vor wie ein Verräter, der, was er bisher als etwas sehr Heiliges in seinem Herzen verschlossen gehalten, nun preisgegeben und profaniert habe. Mehr noch als gekränkt fühlte er sich beschämt. Sein Auge verlor den Glanz, und sein Gesicht ward wieder unbeweglich, teilnahmlos und apathisch. Wie eine Vision war alles vorübergegangen.

42 Aber das verhängnisvolle Wort war ausgesprochen worden. Der Schatten hatte nun eine Gestalt angenommen.

»So hat es auch kommen müssen,« sagte Herr Grandidier, als er sich von seinem ersten Schreck einigermaßen erholt hatte. »Ein Maler! Weiter nichts als ein Maler! Na, mein Junge, ›dazu hat Buchholz kein Geld,‹ sagte der alte Fritz, und ›gerade durch, immer gerade durch,‹ sagt Grandidier. Ein Maler! Mein Sohn ein Maler! Das sagst du nicht aus dir selber; das kommt von deiner Mutter und dem verfluch– Professor Bestvater. Ja, ja,« rief er, und ordentlich wie Schuppen fiel es ihm in diesem Moment von den Augen, »das Bild! Das Bild! Jetzt weiß ich, was du heimlich auf dem alten Boden zu tun hattest. Jetzt weiß ich es. Denn so dumm, wie ihr meint, ist der alte Grandidier doch nicht. Aber diesmal werd' ich dazwischen fahren, daß ihr an mich denken sollt!«

 


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