Julius Rodenberg
Die Grandidiers
Julius Rodenberg

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Viertes Buch

Der alte Grandidier erwacht

Die Stille der Landschaft, welche die Grandidiers in ihrer Villa bald wieder umgab, kontrastierte furchtbar mit der tiefen Erregung ihrer Bewohner. Der Wald grünte weiter, die Blumen im Garten blühten und das Wasser floß daran vorüber, während draußen, im Elsaß und in Lothringen, die großen Schlachten des August geschlagen und gewonnen wurden. In Berlin war Viktoria geschossen worden, und aus Paris klang schon der Ruf der Verzweiflung. Das Kaiserreich stürzte zusammen, und der Kaiser ward gefangen. Wer kann dieser Tage der höchsten nationalen Begeisterung sich erinnern, ohne noch einmal im Innersten warm zu werden? Was nachher geschah, das geschah vielmehr im Gefühle der unerbittlichen Pflicht; aber bis hierher hatte der Genius der Nation sie, gleichsam im Jugendglanze strahlend, in aller Schönheit des Heldentums und vor den Augen der bewundernden Welt von Sieg zu Sieg und von Herrlichkeit zu Herrlichkeit geführt.

Aber wenig von diesen Empfindungen war in den Herzen derer, welche das Haus am Wasser umschloß. Das Landwehrregiment, bei welchem Eduard stand, anfänglich zur Küstenverteidigung bestimmt und aus allen Teilen der Monarchie seit Ende Juli versammelt, hatte gegen die Mitte des August plötzlich Befehl zum Weitermarsch nach dem Rhein erhalten, der bei Rastatt überschritten ward. Viele von den Männern, welche den Rhein nie zuvor gesehen, weinten vor Freude, als sie den Strom erblickten, und alle jauchzten ihm zu. Durch Bischweiler und Hagenau ziehend, erreichten sie am 24. August das Ziel, die Belagerungsarmee vor Straßburg, zu deren Verstärkung sie gesandt waren; und die traurige Arbeit des Krieges begann auch für sie.

Immer, wenn nun Friedrich Anton Thielemann, der Briefträger des ländlichen Distriktes, nach Grandidiers Villa kam, ward er von drei Frauen schon an der Türe erwartet; 372 denn auch Friederikens junger Ehemann war ja draußen, und es war ein Trost, zu wissen, daß er bei demselben Regiment und in demselben Bataillon stand wie Eduard. Nicht immer brachte Thielemann Briefe, aber immer, an jedem Tage, nahm er Briefe mit für die beiden im Felde, und mindestens einmal in jeder Woche Sendungen gewichtiger Art, welche nach Ansicht der Frauen alles enthielten, was eines Mannes Herz erfreuen mag, und um so mehr, wenn der Mann weiß, wie viel Liebe mit jeder solchen Sendung kommt. Die Monotonie des Krieges, wenn er einmal in seinem unerbittlichen Ernst begonnen hat, übt einen betäubenden, wenn nicht beruhigenden Einfluß auf die Seele. Wie der Soldat in der Schlacht, verliert auch der Daheimbleibende den Schrecken vor der unmittelbaren Gefahr. Wer jenes eigentümliche Schwirren der Kugel hört, dem ist sie schon vorüber. Der unaufhörliche Wechsel des Lagerlebens und der Enthusiasmus fehlen freilich in der Einsamkeit des Hauses; aber wie Tag nach Tag dahingeht, gewöhnt man sich an einen Zustand der Unsicherheit, welcher die Furcht nicht weniger abstumpft als die Hoffnung.

Manch ein Feldpostbrief war gekommen, bald von dem Offizier und bald von dem Gemeinen, und alle waren gemeinschaftlich gelesen worden, mit kleinen Vorbehalten versteht sich, entweder von seiten Bärbels oder von seiten Friederikens. Ein gemeinsames Schicksal bringt die Menschen einander näher; sie fühlen alsdann in ihrer natürlichen Reinheit, wie sie gefühlt haben mögen in Zeiten, da noch kein künstlicher Unterschied bestand. Übrigens begünstigte der familienhafte Zug, welcher im Grandidierschen Hause stets geherrscht hatte, dieses Verhältnis, und Friederike war nicht die Person, welche dasselbe jemals mißbrauchte, selbst jetzt nicht, wo sie doch als die Gemahlin eines Mannes von der Landwehr etwas vorstellte, und von Schnellpfeffer sogar, wenn er in guter Laune war, »unser Madamken« genannt ward. Sie hatte nur das Gefühl unbegrenzter Anhänglichkeit für ihre Herrschaft und unbegrenzten Vertrauens zu Frau Grandidier, der sie jedesmal, wenn sie einen Brief bekam, denselben zuerst brachte. Karl beschrieb die Schlachten so schön und er mengte in seine Beschreibung so viele Fremdwörter ein, die sich natürlich alle auf den Krieg bezogen, daß Friederike ganz verwirrt ward und meistens auch kein Wort 373 davon verstand, bis das Fräulein ihr die Sache klar gemacht hatte.

Der heutige Brief enthielt die Schilderung der nächtlichen Arbeiten der Belagerer, das Auswerfen der Laufgräben, wie die Mannschaften sich hinter Sandsäcken verbargen, wie sie sich plötzlich auf den Boden werfen mußten, wenn vom Wachtposten der Ruf »Bombe« herüberklinge, und wie schauerlich es sei, Straßburg brennen zu sehen. So nahe seien sie der Stadt in solchen Nächten gekommen, daß er ganz deutlich vernommen habe, wie die französischen Offiziere kommandiert, wie die Trompeter die Signale gegeben, wie die Spritzen herbeigerasselt seien. In einer Nacht, als der Wind so gestanden, und zwischen dem Krachen und Platzen der Bomben, als der ganze Himmel in Glut gewesen, von den Feuerkugeln oben und den Feuersbrünsten unten, da habe er auch einen Tumult von vielen Menschen gehört, wie ein fernes, grausiges Jammergeschrei, und es sei ihm gewesen, als ob ein schmerzliches Wimmern von Kindern sich damit vermischt. Es habe ihm das Herz fast abgestoßen, bis er beim Fortrücken der Arbeit an eine andere Stelle der Parallele gekommen, wo plötzlich alle Menschenstimmen verstummt wären und nur noch die der Mörser und Kanonen gesprochen hätten; aber er werde niemals vergessen, was er in jenen Stunden gehört, und es sei schrecklicher als eine wirkliche Schlacht.

Tränen hatten während des Lesens Bärbels Augen gefeuchtet. Hier hatte der Schreiber einen Absatz gemacht und das Mädchen ließ das Blatt in ihren Schoß sinken.

»O Straßburg, mein Straßburg!« jammerte sie, »warum hat es grad über dich so kommen gemußt! Was war dein Verbrechen? Und was ist meine Schuld, daß auch der, den ich liebe, seine Hand hergibt, um dich so Grauses leiden zu lassen? Ach, Mutter,« sagte sie, indem sie ganz verweint Frau Grandidier ansah, »zuweilen ist mir, als ob ich diese Hand niemals wieder in die meine nehmen könnte!«

Frau Grandidier suchte sie zu beruhigen. Aber immer wieder begannen Bärbels Zweifel und Schmerzen aufs neue. Sie litt Unsägliches. Von dem Tage an, wo Straßburg durch das deutsche Heer eingeschlossen worden, war sie mit ihren Gedanken immer dort; sie kannte jeden Wald, jedes Dorf um Straßburg und in jedem Dorfe fast jedes 374 Haus, und alle diese Namen, die jetzt beständig genannt wurden, so voll von Erinnerungen an sommerlichen Frieden und sonnige Kinderspiele, hatten jetzt etwas bitter Feindliches für sie. Oft in der Nacht fuhr sie empor in ihrem Bette. »Du schläfst,« sagte sie dann zu sich selber, »und dort ist der Himmel rot von Brand und die Nacht ist erfüllt von Schrecken, und die Menschen, eingeschlossen in ihren Häusern, müssen es hören und können nicht schlafen – keine Nacht – keine Nacht. Sie können nicht schlafen!« Sie rief sich jeden einzelnen Menschen in Straßburg, den sie kannte, jeden Platz und jedes Gäßchen ins Gedächtnis zurück, und verweilte zuletzt bei dem Giebelhause mit den vielen Erkern, in welchem sie geboren worden war und ihre Kindheit verlebt hatte. Dann schnitt es ihr plötzlich durchs Herz, sie dachte wieder an den Kanarienvogel, den sie von dort mitgenommen hatte, und an die Schwester und den kleinen George – und sie verbarg ihr Haupt in das Kissen, bis es ganz naß geworden war, und sie endlich, wenn der Tag schon graute, noch einmal in Schlummer sank.

»Ach,« sagte sie, indem sie das Blatt von ihrem Schoße wieder aufnahm, »ich wollte, ich wäre dort! Hier werd' ich doch mein Lebtag nimmer froh werden!«

»Kind,« sagte die Mutter, »verrede dir die Zukunft nicht; es ist dir viel Schmerzliches, aber auch viel Gutes beschieden worden. Bitte Gott, daß er es dir erhalten möge, dann wollen wir nicht klagen.«

Friederike hatte sich bescheiden im Hintergrunde gehalten, trat jetzt aber wieder näher, da Bärbel weiter zu lesen begann.

»Was ich jetzt schreibe,« hieß es in dem Briefe Karls, »ist um vierundzwanzig Stunden später geschrieben als das vorangehende. Wir haben wieder eine gräßliche Nacht verbracht, und ich bin noch immer nicht ganz zu mir selbst gekommen. Liebe Friederike, zittere nicht, es ist ja nicht meinetwegen, denn du siehst, daß ich noch lebe und Gott sei Dank auch so weit noch gesund bin. Aber wir haben viel brave Leute verloren, auch einen Oberstleutnant und einen Hauptmann. Die Sache trug sich nämlich so zu: Wir waren in der Nacht zum Graben kommandiert und befanden uns auf einem Kirchhof, ganz dicht bei der Stadt. Die Totenkreuze standen rings um uns herum, und die welken Totenkränze, welche noch daran hingen, raschelten im Winde. So stille war es, 375 daß man es genau hören konnte, denn der Feind mußte uns an dieser Stelle wohl nicht vermuten. Wir waren darum auch ganz sicher, taten stillschweigend unsere Arbeit, und dachten, jeder für sich, nun wird es ja bald Morgen werden und dann geht es ins Quartier. Aber der Mensch denkt und Gott lenkt; und wie es im Liede heißt, kaum gedacht, kaum gedacht, ist der Lust ein End' gemacht. Auf einmal geht ein Krachen von den Festungswällen los, als ob alles auseinander bersten solle; wie feurige Schlangen zischt es kreuz und quer durch die Dunkelheit, und von allen Wällen und aus allen Mauern, soweit wir sehen und hören können, beginnt unter Blitz und Donner die feindliche Kanonade. Zugleich tut sich ein Pförtlein in der Mauer auf, über die niederrasselnde Zugbrücke fort stürzt sich ein dichter Haufe in allen möglichen Uniformen und aus allen Waffengattungen zusammengesetzt. Sogar Reitersleute waren dabei. Unter dem Rufe: »Es lebe Frankreich!« geben sie Feuer, Tote und Verwundete fallen zwischen den Gräbern nieder, und überrumpelt von dem unvermuteten Ausfall weichen unsere Leute zurück. Aber glaube nicht, daß wir dem preußischen Namen solche Schande gemacht, um nicht auf das erste Wort unserer Offiziere zu stehen. Sie führen uns wieder zurück und nun werden wir handgemein mit dem Feinde. Der Tag begann zu grauen, und jetzt, nicht weit von mir, sehe ich unseren Leutnant, wie er, seinen Degen schwingend, unsere Kompagnie an den langsam weichenden Feind heranbringt. Plötzlich, so einem wilden Afrikaner gegenüber, einem Zuaven oder einem Turko, ich konnte es in der Dämmerung nicht genau unterscheiden, bleibt er stehen wie angewurzelt, und anstatt dem braunen Kerl den Schädel zu spalten, nehme ich deutlich wahr, wie er mit demselben ein paar Worte wechselt und wie jenem in dem sonnverbrannten Gesicht die schwarzen Augen funkeln. Wenn die Katze nur nicht zum Sprunge ausholt, denke ich in meinem Sinn; denn diese Leute sind falsch. Und auch einer von den unseren muß so denken; denn er will eben das Gewehr heben, um den Mann unschädlich zu machen. Aber unser Leutnant bemerkt es und rettet dem Afrikaner das Leben, indem er ihn rasch zur Seite stößt. Seine Guttat sollte ihm schlecht belohnt werden, und Du, liebe Friederike, mußt unserer Herrschaft und dem Fräulein gelinde beibringen, was nun folgt.

376 Mit fliegendem Atem hatte Bärbel bis hierher gelesen; sie konnte nicht weiter.

Frau Grandidier zeigte sich gefaßter. »Ich habe täglich für ihn gebetet und sein Leben Gott befohlen. Was Gott tut, das ist wohlgetan. Fahre fort.«

Bärbel war leichenblaß geworden und rang nach Luft. Die Worte schwammen ihr vor den Augen, als sie las: »Unser Leutnant hatte sich in seinem edelmütigen Beginnen zu weit fortreißen lassen; er war mitten in die feindliche Schar geraten, die ihn ganz umringte und von uns abschnitt; aber eine preußische Kompagnie verläßt ihren Leutnant nicht. »Mir nach, Jungens!« ruf' ich, und eben hatten wir ihn erreicht, als er unter verzweifelter Gegenwehr nach allen Seitens vor unseren Augen zusammenstürzt. Der Säbelhieb eines Schurken von französischem Chevauleger hatte ihm den Arm abgehauen.«

»So lebt er noch!« sagte die Mutter mit erleichtertem Herzen, indem sie die Hände zum Himmel hoch emporhob, »Gott, ich danke dir!«

Aber mit wildem Aufschrei warf sich Bärbel vor ihr nieder, indem sie um den Geliebten jammerte und sich selbst anklagte. »Ich habe gesagt,« rief sie, »daß ich die Hand nie wieder in die meine nehmen könne, weil sie rot sei von dem Blute meiner Landsleute. Weh mir! nun ist sie vom eigenen Blute überströmt.« Und schaudernd, zitternd am ganzen Leibe, bedeckte sie das Gesicht mit den Händen.

Herr Grandidier hatte den Schrei Bärbels in seinem Zimmer vernommen, und sein Herz sagte ihm, was er bedeute. Mit fester Haltung trat er zu den Frauen herein. »Ich bin auf alles gefaßt,« sprach er, als er Bärbel noch immer auf dem Boden liegen sah.

Aber Frau Grandidier erhob sich, und indem sie ihm die Hand entgegenstreckte, sagte sie: »Eduard lebt!« Alsdann reichte sie ihm den Brief, welchen er aufmerksam bis zu der Stelle las, bei welcher Bärbel von Schmerz übermannt worden war. »Ich bitte dich,« sagte Frau Grandidier, »mach uns mit dem, was noch übrig ist, bekannt,« und Herr Grandidier fuhr fort:

»Wir haben unseren Leutnant glänzend gerächt; nicht zehn Minuten mehr und der Haufen war bis unter die Festungsmauer zurückgeschlagen worden und verschwand 377 hinter der Pforte, die sich alsbald hinter ihnen schloß. Ein Mann von unserer Kompagnie und ich trugen unseren Leutnant, der sich in bewußtlosem Zustande befand, bis zur nächsten Ambulanz, wo er den ersten Verband erhielt. Ich habe, solange es der Dienst erlaubte, bei ihm gewacht; er lag im Wundfieber und phantasierte viel. Einmal oder zweimal nannte er einen ausländischen Namen, was ja wohl soviel als afrikanisch gewesen sein soll, weswegen ich nicht sagen kann, was er bedeutet. Seit heute morgen ist er weiter rückwärts nach einem Dorfe bei Wendenheim transportiert worden, welches ganz außerhalb der Schußlinie der Festung liegt, und dort wird er denn wohl mit Gottes Hilfe wieder gesunden, wenn es auch vorläufig noch schlecht genug mit ihm bestellt sein mag. Ob er den Arm behalten wird, das wissen die Doktoren nicht.«

Herr Grandidier gab Friederike den Brief wieder und sagte: »Dein Mann hat brav gehandelt, und wenn du ihm schreibst, sag ihm, daß wir es ihm nicht vergessen würden.«

Hierauf, während das Mädchen ging, mit dem Schürzenzipfel die Augen wischend, beugte sich Herr Grandidier zu Bärbel nieder. Diese jedoch schauderte vor ihm zurück wie damals, an dem Tage, wo Eduard Abschied genommen und wo sie vergeblich versucht hatte, die Hand des Vaters in die des Sohnes zu legen. »Jetzt ist es zu spät,« sagte sie, indem sie das Haupt von ihm abwandte.

»Nein,« rief Herr Grandidier, »nein! Es ist nicht zu spät. Es ist etwas in mir erwacht, was mir sagt, daß es noch nicht zu spät sei.«

»Dein Herz!« sagte Frau Grandidier, indem sie den Gatten mit einem schmerzlichen Lächeln ansah.

Dieser neigte sich abermals zu Bärbel. »Sieh mich an, Mädchen,« sprach er. »Zuerst muß ich eins sein mit dir, bevor ich wieder eins werden kann mit . . . Eduard.«

Es war das erstemal, daß sie den Namen des Geliebten aus diesem Munde gehört hatte. Sie ward davon wie neubelebt, sprang vom Boden auf, und mit beiden Armen, glücklich in all ihrem Leid, umschlang sie den Vater Eduards.

»Bärbel,« sagte er etwas leiser, aber mit derselben Bestimmtheit, »ich weiß, daß Eduard dir ein Bild geschenkt hat. Du brauchst jetzt dein Geheimnis nicht länger zu verbergen. Ich bitte dich, laß mich das Bild sehen.«

378 Bärbel traute ihren Ohren nicht. Mit einem Blicke, halb freudestrahlend, halb noch von Tränen verschleiert, schaute sie zur Mutter hinüber. Dann nahm sie Herrn Grandidiers Hand und führte ihn die Treppe hinauf in ihr Zimmerchen. »Da ist es,« sagte sie, indem sie den Vorhang zurückschlug. Unbemerkt von den beiden war Frau Grandidier ihnen gefolgt und blieb unter der offenen Türe stehen.

Indem Herr Grandidier das Bild betrachtete, war ihm, als ob sein Sohn ihm wiedergegeben werde; nicht der Sohn, mit dem er einen langen, unwürdigen Kampf geführt, sondern ein anderer, der heldenhaft und schön vor ihm stand als Sieger! Das bittere Gefühl, besiegt worden zu sein, an welchem er solange getragen, ward nun gemildert durch das Bewußtsein, sich selbst besiegt zu haben; und immer wieder, in diesem Widerstreit der Empfindungen, erhob er den Blick gen Himmel, dankte für die Gewißheit, daß es dennoch nicht zu spät sei! – Aus den Farben dieses Bildes, diesem Himmel, dieser Sonne, den braunen Augen dieses Mädchens sprach ihn etwas an wie Versöhnung, und das weiße Tuch, welches sie dem Ufer entgegenflattern ließ, erfüllte auch ihn mit neuer Hoffnung. Damals, als Glöcklin die Schmerzensnachricht empfing, hatte er gewünscht, weinen zu können wie er; jetzt kam ihm keine Träne, und er bedurfte derselben nicht länger. Er fühlte sich einig mit sich selber, kein innerer Zwiespalt lähmte mehr die angeborene Tatkraft. Er hatte viel wieder gutzumachen; aber er empfand es als eine Gnade und Erlösung, daß nach allen Qualen, die er durchlebt, dieser Augenblick gekommen. Er war wieder frei, er war wieder der alte Grandidier. Alle diese Wandlungen spiegelten sich in seinem Gesichte; seine Wangen färbten sich, sein Auge glänzte. »Mutter,« sprach er, indem er sich umwandte und seine Frau erblickte, »ich gehe zur Armee nach dem Elsaß!« Plötzlich fiel ihm ein Gedanke schwer aufs Herz. Er dachte an etwas, woran bisher von ihnen allen noch niemand gedacht hatte.

»Was ist dir, Grandidier?« fragte die Frau, die ihn mitten in seiner Lebhaftigkeit erbleichen sah.

Er machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand, welche Frau Grandidier verstand. Es war die Handbewegung, gegen welche kein Widerspruch aufkam, sie gehörte auch zum alten Grandidier, wie er in seiner guten Zeit gewesen war. 379 Aber er trat noch einmal vor das Bild und sah es mit größerer Bewegung an als zuvor. Er schloß beide Hände fest zusammen, als ob er den Gedanken, den er nicht mehr los werden konnte, mit Gewalt in sich zurückdrängen wolle. »Ich will mich nicht versündigen,« rief er; »wenn Gott ihn am Leben erhalten hat, was kann ich mehr verlangen?« Dann schlug er sorgfältig die Gardine vor dem Bilde zusammen, wie vor etwas, das ihm sehr teuer sei und was er auf jede Weise vor irgendeiner rauhen Berührung behüten wolle. »Ich fahre zunächst nach Berlin hinein, um zu sehen, wie ich am besten von da ins Elsaß hinunterkommen kann. Ich habe meinen Plan schon fertig.« Daran erkannte man ihn auch wieder. Der alte Grandidier hatte seine Pläne immer fertig, und er war auch der Mann, sie auszuführen.

Nicht lange, so rollte sein offenes Wägelchen dahin. Er war seit jener Nacht am Brandenburger Tor nicht mehr in Berlin gewesen. Er hatte geglaubt, in seiner Einsamkeit gesunden zu können, aber der heutige Morgen hatte ihn sich selbst wiedergegeben. Er grübelte nicht mehr, er hatte wieder ein Ziel vor Augen, und er schritt tapfer darauf los. Er sah nicht rechts, nicht links, ihn verlangte nach seinem Sohne. Die Liebe zu demselben, welche er jahrelang niedergekämpft, erfüllte seine ganze Seele, und die Bewunderung kam hinzu. Nicht den ausgezeichneten Künstler, nicht einmal den wackeren Soldaten bewunderte er in ihm so sehr, als den unbeugsamen und fest auf seiner Bahn beharrenden Mann, der sich von dem, was er für recht erkannt, nicht mehr hatte abbringen lassen. »Er ist mein Sohn!« sagte er einmal über das andere für sich selber, während die Pferde munter dahintrabten.

Kaum hielt der Wagen vor seinem Hause, so eilte er rasch, als ob er durch Zögern etwas zu versäumen fürchte, die Treppe hinauf, über den Gang, an der alten Uhr vorbei, in das Zimmer, aus dem er damals geflohen war. Auch heute war alles dunkel und einsam, aber Herr Grandidier kümmerte sich nicht mehr darum; beherzt schritt er auf den Schrank zu, griff in die Ecke und – »Gott sei Dank!« rief er, »da steht er noch,« indem er den alten Stock mit dem goldenen Knopfe herausholte. »Komm!« redete er ihn an, indem er ihn auf den Boden stieß, wie wenn er prüfen wolle, ob er noch fest auf seinem Fuße stehe – »komm, jetzt gehören wir wieder zusammen, und jetzt sollst du mich begleiten.« 380

 


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