Julius Rodenberg
Die Grandidiers
Julius Rodenberg

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»Auferstehen soll aus unseren Gebeinen ein Rächer!«

Es war früher Nachmittag, als der Wagen des Herrn Grandidier vor dem alten Hause zu Neu-Kölln am Wasser hielt. Er war, seitdem sie im Frühling hinausgezogen, nicht mehr hier gewesen, und seltsame Gefühle der Wehmut, aber auch der Öde beschlichen ihn, als er es heute wieder betrat. Es stand ganz leer, nur der Portier, ein ehemals Bediensteter der Fabrik, mit seiner Frau, die Grandidier hineingesetzt, wohnten darin in ein paar Räumlichkeiten zu ebener Erde. Mit Ausnahme dieser Wohnung war alles dämmerig, alles lautlos, alles vereinsamt im Hause. Die Vorhänge waren herabgelassen, die Läden geschlossen, die Uhren standen still. Das Echo gab den Schall jeden Schrittes auf den Treppen und über den Korridor zurück; dumpf über den Hof herüber tönte der Lärm der Fabrik. Herr Grandidier trat an ein Hinterfenster. Seine Leute gingen noch in dem Hofe hin und her, und Rauch stieg aus dem großen Schornstein. Eine Vorstellung hatte sich draußen in der Abgeschiedenheit seiner bemächtigt, als müßte nun plötzlich alles stillestehen, ja die Sonne selber sich verfinstern. Aber sie schien noch, wie er sie oftmals an solchen Sommernachmittagen, wenn sie ganz hoch stand, in den Hof hatte scheinen sehen; ja sie schien sogar 341 durch die Spalte eines der verhängten Fenster, und ein voller Strahl wandelte sozusagen über den Boden hin und tief in die Dunkelheit hinein. Das Gefühl der Wehmut gewann zuletzt die Oberhand, und mit dem Sonnenstrahl zugleich wandelten viele, viele Jahre und viele, viele Gestalten, aber schweigend wie jener, an dem einsamen Manne vorüber. Er kam sich vor wie unter lauter Toten. »Es hängt nur von dir ab,« sagte er zu sich selber, »und sie fangen alle wieder an zu leben. Du brauchst nur die Hand auszustrecken und ein Wort, nur ein einziges Wort zu sprechen . . .« Er schüttelte den Kopf. »Es geht nicht; nein, bei Gott, es geht nicht. Es ist zu spät. Und wenn ich auch heute wollte, wer sagt mir, daß er noch will?« Er stampfte bei diesem Gedanken heftig mit dem Fuße auf. Plötzlich war ein Geräusch hinter ihm. Er wandte sich, es war eine alte Wanduhr, so alt beinah wie Herr Grandidier selber, und so lang im Hause, als er denken konnte. Eduard hatte, wie für alle alten Sachen, so auch für diese alte Uhr immer eine besondere Vorliebe gehabt und sie früher alle acht Tage aufgezogen. Seitdem er fort war, war sie nicht mehr aufgezogen worden, und sie zeigte die Stunde jener Nacht, wo er das Elternhaus verlassen und sie zum letzten Male geschlagen hatte. Nur manchmal, wenn der Boden, auf dem sie stand, erschüttert ward, klirrte es noch in ihrem Innern, und sie gab dann einen heiseren, fast greisenhaften Ton von sich, wie eine Stimme der Vergangenheit.

Es wurde Herrn Grandidier unheimlich zumute, und er wandte sich zum Gehen. Eine von den Stubentüren stand halb offen, und in der Dämmerung, von dem letzten versprengten Funken des Sonnenstrahls getroffen, sah er etwas Goldenes leuchten. Von jener unerklärlichen Gewalt getrieben, die zuweilen uns anzieht, wenn wir fliehen sollten, trat er näher, tappte durchs Dunkel und erkannte nun in einer Ecke hinter dem Schrank den Stock – den alten Stock mit dem goldenen Knopfe! . . . Seit manchem Jahr – seit den Tagen, wo er seinen Sohn mit diesem Stocke gezüchtigt, hatte er ihn nicht mehr berühren mögen, ihn kaum noch gesehen und zuletzt vergessen. Und nun in dieser geisterhaften Mittagsstunde stand er wieder vor ihm! . . .

Herr Grandidier konnte den Anblick nicht ertragen. Er eilte fort, hinunter auf die Straße. Da war ein eigentümlich 342 aufgeregtes, fieberhaftes Leben; immer stärker ward das Gewühl, je näher er den Linden kam. Zeitungsjungen boten ein Extrablatt mit den neuesten Nachrichten aus. Der Reichstag des Norddeutschen Bundes war zusammenberufen worden. Bayerns hochherziger junger König hatte sich für die Sache Deutschlands erklärt, Württemberg machte mobil, Baden rüstete. Dazwischen die Flucht der Menschen. Hochbepackte Wagen rollten, einer hinter dem anderen. Vor den Gasthöfen drängten sich die Fremden. Russen und Polen, Holländer und Skandinaven redeten durcheinander. Aus ihren Sommersitzen aufgescheucht, suchten alle die Heimat, das schützende Dach zu gewinnen, ehe der erste Donner grollte, der erste Blitz züngelte.

»Die Tage von Arndt und Schenkendorf kommen wieder,« sagte ein alter, hochgewachsener Mann, seiner Sprache nach ein Hamburger, ein Greis mit langem weißem Haar, aber noch aufrecht in seiner Haltung, am einen Arm seine Tochter führend und an der anderen Hand sein Enkelkind. »Man hörte schon im Geiste Lützows wilde verwegene Jagd einherbrausen, als die Studenten und Soldaten auf dem Bahnhof zu Leipzig das Lied Körners anstimmten.«

Sein Nebenmann, ein Abgeordneter, der bei der ersten Nachricht aus seinem süddeutschen Bade herbeigeeilt war, sagte: »Da drunten ist's nicht anders. Welch eine Seligkeit, zu fühlen, daß wir endlich einmal alle eines Sinnes und einer Seele sind!«

»Alle! Alle!« rief der Greis, indem er die eine Hand frei machte, um sie dem Manne zu geben, den er nie zuvor gesehen, und von dem er erst nachher erfuhr, wer er sei.

Sinnend entfernte sich Herr Grandidier. Vor der Kaserne der Gardedukorps in der Charlottenstraße war abermals eine starke Ansammlung von Wagen mit Furage, von Pferden, die ungesattelt und in großen Koppeln zusammen nach den Ställen geführt wurden, von Gardekürassieren, halb in der Uniform und halb noch in der Bauernjacke, von stämmigen, schlank aufgeschossenen Burschen, mit einem Bündelchen über der Schulter, von blutjungen Studenten, die Reiterstiefel und Zerevismützchen trugen.

Herr Grandidier ging eigentlich ohne bestimmte Absicht, aber immer in derselben Richtung, er bog in die Dorotheen- und in die Friedrichstraße ein und setzte seinen Weg dann 343 fort. Einzeln, hier und da vor den Läden der Krämer, war schon die Fahne mit dem roten Kreuz erschienen. Überall bereitete man sich vor zum Kriege; aber überall, dicht daneben, zeigte sich auch die Liebe der Menschen zueinander, von der man im gewöhnlichen Leben so wenig bemerkt.

Der Nachmittag war inzwischen weit vorgerückt, und von der Uhr einer der Fabriken, die hier vor dem, was damals noch das Oranienburger Tor war, in der Chausseestraße liegen, schlug es sechs. Jetzt ward Feierabend gemacht, und aus den Höfen und Toren der Maschinenbauanstalten und Eisengießereien strömten die Arbeiter heraus; jeder von ihnen mit seinem kleinen blechernen Büchschen in der einen und seiner Weißbierflasche in der anderen Hand. Einige hatten Pfeifen im Munde. Sie gingen ernst dahin in ihrem bestaubten Arbeitszeug; mancher von ihnen, der den Marschbefehl in der Tasche hatte, mit dem Gefühl, nie wiederzukehren. Ein alter Mann hatte sich vor einem dieser Tore niedergesetzt und erhob sich, als unter den letzten ein junger Arbeiter herauskam. Er gab ihm mit zitternden Händen ein neues Pfeifchen, das schon gestopft war, und ein Paket Tabak, und machte Feuer, damit er gleich rauchen könne. Er war offenbar der Vater des jungen Menschen und wollte diesem noch etwas zuliebe tun, bevor er ins Feld müsse. Dies alles zu sehen, gab Herrn Grandidier wahrhaft einen Stich ins Herz. »Warum geht allein durch mein Leben dieser Riß?« dachte er. »Warum bringt dieser Vater seinem Sohne das Zeichen seiner Liebe entgegen und warum kann ich es nicht? Warum bin ich ausgeschlossen und ausgestoßen aus dieser großen Vereinigung aller – und was darf ich dem Vaterlande noch darbringen, wenn ich ihn – wenn ich keinen Sohn mehr habe?«

Sein Blick fiel auf eine dichte Laubmasse gegenüber. Mehrere Friedhöfe lagen da beisammen. Hier die qualmenden Schlote, die Werkstätten, diese ganze Welt voll Dampf und Ruß, in deren Räder jetzt mit eiserner Faust der Krieg eingriff, dort die Gottesäcker mit ihrer Stille, ihrem dunklen Grün, ihren von der Abendsonne sanft beleuchteten Zypressen und dem süßen Duft der Blumen, welche auf den Gräbern blühten. Das war es vielleicht, was ihn unbewußt hierhergezogen: die Gräber! In einen der Friedhöfe trat er ein. Es war derjenige der französischen Gemeinde.

344 Der Friedhof war wie ein Garten in seiner Sommerpracht, und der Glanz der niedergehenden Sonne ruhte darauf. Ein breiter Weg unter hohen, alten Bäumen führt hindurch und schmalere Seitenpfade zweigen sich ab. Einer derselben – Herr Grandidier kannte ihn wohl und schlug ihn jetzt ein – leitete zu den Gräbern seiner Eltern. Die Hügel waren bemoost und eingesunken; eine Trauerweide von besonderer Schönheit – er hatte vor vielen Jahren den Setzling aus Charenton mitgebracht, von dem letzten Rastplatz der deutschen Grandidiers in Frankreich – ließ ihre Zweige darauf niederhängen. Mit ihrem schleierartigen Grün umfingen sie halb ein schwarzes Holzkreuz, auf welchem in weißer Schrift geschrieben war:

»Ici repose en Dieu
Alphonse Grandidier...
«

Dann, nach Angabe des Geburts- und Sterbejahrs, hieß es weiter in französischer Sprache – gleichsam die heilige Sprache der Kolonie – daß Alfonse Grandidier, dessen Vorfahren mit den ersten Refugiés von dem Großen Kurfürsten aufgenommen worden seien und hier ein neues Vaterland gefunden hätten, die Schuld seiner Dankbarkeit bezahlt habe, indem er es in den Kriegen von 1813 und 1814 habe verteidigen helfen und mit seinem siegreichen Souverän, Friedrich Wilhelm dem Dritten, in Paris eingezogen sei.

Dies war das Grab seines Vaters, daneben war das seiner Mutter, und dann kam eine leere Stätte mit einem Holztäfelchen und der Inschrift: »Réservée«. Dieser Platz war für ihn selber. Er betrachtete ihn mit einer gewissen wehmütigen Innigkeit wie etwas, das schon zu ihm gehörte und das man ihm nicht mehr rauben könne. Er sah schon den Hügel sich wölben und den Grabstein darauf. Was aber würde man auf diesen Stein schreiben? Was konnte man von ihm und seinem Leben sagen? Rings waren viele prächtige Monumente, Denkmäler von Erz und Stein, und auf allen schimmerten die Namen von Männern oder Geschlechtern, die sich entweder im Frieden dem neuen Vaterlande nützlich oder im Kriege um dasselbe verdient gemacht hatten. Hier von dem Marmor eines Predigergrabes leuchteten vor allen anderen die Worte: »L'église française du refuge«; dort auf dem Denkstein eines Generals las man, flammend im Abendgold, nur den einen Namen: »Waterloo« – wie 345 wenn auch die Toten in dieser feierlichen Stunde die Zeichen geben wollten, deren sie allein noch fähig. Wie auf einer Insel Frankreichs befand man sich hier, aber losgerissen von der Muttererde und schwimmend in einem fremden Elemente. Wieviele von denen, die hier ruhig schlummerten, mochten ähnliches vor ihm empfunden haben. Aber keiner – nein, gewiß keiner von allen hatte solch ein Gefühl der Zerrissenheit, wie Herr Grandidier jetzt an dem Grabe seines Vaters.

Er erhob sich, um zu gehen; und indem er noch einmal um sich schaute, gewahrte er auf einem der entfernteren Gräber, an den Hügel gelehnt und von überhängendem Rosengesträuch fast verdeckt, eine menschliche Figur. Er ging näher und las auf einem Kreuze die Verse:

»D'une espérance passagère
Ci-gît le germe précieux,
C'était un bouton sur la terre,
C'est une rose dans lex cieux.
«

Es war das Grab eines Kindes, und ein Knabe lag darauf, der den Fuß des Kreuzes mit den Ärmchen umschlungen hielt und die Stirn in das weiche Moos gedrückt hatte. Der Knabe schlief.

Als Herr Grandidier sich niederbeugte, nach dem Schlafenden zu sehen, blickte er plötzlich in das Gesicht einer Frau, welche der Hügel und der Baum ihm bisher verborgen – in ein hageres, kummervolles Gesicht, vor welchem er unwillkürlich zurückbebte.

»Sie hier?« rief er.

Die Angeredete regte sich nicht. Sie kauerte in dem hohen Grase zwischen einem Grabe und dem anderen, die Knie fast bis an das Kinn gezogen und starr vor sich hinblickend. Sie war ganz ohne Bewegung, bis auf das unstete Licht in ihren Augen.

»Um Gottes willen, Helene,« sagte Herr Grandidier, indem er sich ihr, trotz allem, was bisher zwischen ihnen gestanden, in diesem Augenblicke teilnehmend näherte. »Was führt Sie hierher?«

Sie gab keine Antwort. Sie schien seine Frage gar nicht gehört, noch seine Gegenwart bemerkt zu haben.

Er legte die Hand auf ihre Schulter. Sie schauerte unter der Berührung zusammen.

346 »Was wollen Sie hier,« fuhr er fort, »hier – bei den Toten?«

»Ich bin vor den Lebenden geflohen,« erwiderte sie fast tonlos und ohne aufzusehen.

»Und der Knabe dort,« sagte Herr Grandidier, auf das schlafende Kind hinweisend, »ist George?«

Helene schwieg; nur ihr Auge folgte der Bewegung des Sprechenden.

»Armer Junge!« rief Herr Grandidier aus, und machte Miene, den schwer Atmenden zu wecken.

»Lassen Sie ihn,« sagte Helene, »lassen Sie ihn. Er hat so lange nicht geschlafen.«

Ein seltsames Gemisch von Mitleiden und Mißtrauen, ja von Furcht ergriff Herrn Grandidier bei dem Anblick dieser Frau. »Wie lange sind Sie schon hier?«

»Ich weiß es nicht,« erwiderte sie, und Herr Grandidier meinte in ihrem Blick jenes unheimliche Funkeln des Irrsinns wahrzunehmen, welches ihn schon bei früheren Gelegenheiten erschreckt hatte. »Hier steht die Zeit stille,« fuhr sie fort; »es scheint mir eine Ewigkeit zu sein, seit ich jene entsetzlichen Rufe gehört. – Auf, ihr Toten!« und jetzt erhob sie sich, und eine plötzliche Kraft spannte jede Muskel ihres Antlitzes und gab demselben einen Ausdruck von wilder Entschlossenheit. »Verräter an eurem Vaterlande, Treulose – hört ihr es nicht? Nieder mit Frankreich!« Sie stieß ein kurzes Lachen aus, welches Herrn Grandidier erschütterte.

»Sie sind krank, Helene,« sagte er schonend; »kehren Sie nach Haus zurück, erlauben Sie, daß ich Sie dorthin begleite.«

»Nach Haus?« gab sie bitter zurück. »Wo denn ist mein Haus?«

Der kleine Schläfer regte sich und halb noch im Traume begann er zu sprechen: »Mein Vater . . . wir kommen . . .« Dann erwachte er, und den Kopf emporrichtend, blickte er verwundert um sich, wie jemand, der nicht weiß, wo er sich befindet. Als er Herrn Grandidier erkannte, glitt ein schwaches Lächeln über sein Gesicht. Er richtete sich empor und wollte zu ihm eilen. Aber ein Blick seiner Mutter hielt ihn zurück, und eingeschüchtert ging er zu dieser. »Mama,« sagte er, »ich bin so müde!« Er lehnte sich an sie, und seine Augenlider sanken ihm vor Erschöpfung.

»Haben Sie doch Erbarmen mit dem Kinde,« sagte Herr 347 Grandidier, »wenn Sie keine Rücksicht nehmen wollen auf sich und auf uns alle. Sie sehen, er kann sich kaum noch halten. Er schwankt auf seinen kleinen Knien.«

»Wir sind seit gestern abend nicht mehr zu Hause gewesen,« schluchzte der Kleine, »wir sind immer durch die Straßen gegangen, von einer zur anderen . . . aber diese bösen Preußen haben uns keine Ruhe gegönnt; überall jauchzten und jubelten sie, daß es nun gegen Frankreich gehe – einmal sind uns Schulkameraden aus meiner eigenen Klasse begegnet, die sangen auch so ein Lied . . . das konnten wir nicht mit anhören, nicht wahr, Mama? Da haben wir uns immer weiter entfernt, bis wir hierher gekommen sind. Da war es endlich still, und da bin ich eingeschlafen.«

»Helene!« rief Herr Grandidier im Tone des härtesten Vorwurfs; »wie konnten Sie das tun?«

»Sie haben es gehört. Wozu soll ich es wiederholen? Wir sind Franzosen!«

»Sie werden ihn töten!«

»Wär' es nicht besser für ihn, tot zu sein, als ein Preuße zu sein? Aber nein, nein!« unterbrach sie sich, den Knaben leidenschaftlich umschlingend – »schon hör' ich es aus weiter Ferne grüßend, nahend, wie das Gemurmel von Hunderttausenden, immer näher kommend, immer näher kommend . . .« und sie schien in die Luft hinauszuhorchen.

Dann, über den Knaben geneigt, ihr Haupt an das seine gelehnt, begann sie träumerisch eine Melodie zu summen. Es war die Melodie, welche Herr Grandidier kannte. Vor dreißig Jahren hatte er sie gehört in Paris auf den Straßen, in den Werkstätten, in den Estaminets. Er hatte sie auch gehört an jenem Abend im Faubourg, wo die Arbeiter sie sangen und sein Kamerad aus dem Elsaß ihm zu Hilfe kam. Und dessen Tochter sang nun das Lied, hier, auf dem französischen Kirchhof von Berlin, und mit dem Abendhauch über den Gräbern mischten sich die Worte: »Nous l'avons vu votre Rhin allemand!«

Aber nicht Zorn, wie damals, erfaßte ihn; er hatte das dunkle Vorgefühl von etwas Außerordentlichem, dem sie sich aussetzen, von einer großen Gefahr, die sie heraufbeschwören werde. Sie schien ihm zu allem fähig in dieser ihrer exaltierten Stimmung, und es tat ihm weh um ihretwillen und noch mehr um des Knaben willen.

348 »Helene,« begann er in einem Ton fast zärtlicher Beschwörung, »bedenken Sie, wo Sie sich befinden! Sie sind in Berlin. Sie stehen an einer Stelle, wo viele Geschlechter derjenigen in Frieden ruhen, welche den Frieden nicht einmal des Grabes in der alten heimatlichen Erde finden konnten. Wenn Sie denn hierhergekommen in der Bedrängnis Ihres Herzens, so kehren Sie heim mit der großen und tröstlichen Lehre dieser Toten. Denn auch Sie haben in dieser Stadt und in diesem Lande ein Asyl, Schutz vor Verfolgung und eine Ruhestätte nach unsäglichen Leiden gefunden.«

Aber Helene entgegnete: »Besser die Verbannung, besser die Schmach, besser der Tod aus der Hand des Vaterlandes, als das Leben und die Sicherheit aus der Hand des Fremden, der seit gestern auch mein Feind geworden.«

»Mäßigen Sie sich!« unterbrach sie Herr Grandidier. »Sie wissen nicht, was Ihnen droht, wenn Sie so fortfahren. Sie sind hier mitten in Deutschland, welches sich zum Kriege gegen Frankreich erhebt!«

Eine Pause trat ein, und jetzt, wie zur Bestätigung seiner Worte, vernahm man jenes dumpfe Brausen der großen Stadt, welches sich aus den tausend Lauten der Straße zusammensetzt, anschwellend, absterbend und aufs neue heranrollend, wie das Brausen des Meeres hinter den Dünen.

»Es ist wie das Rasseln von Kanonen!« sagte Helene, das Auge wirr leuchtend, indem die Sonne hinter den hohen Gesträuchen sank und mit ihrem letzten Lichte die Namen und Inschriften auf den Grabsteinen umher vergoldete. »Hört es doch, ihr Toten! Hört es! Die Franzosen kommen! Und zum zweiten Male wird die Trikolore wehen auf dem Schlosse der Hohenzollern!«

»Kein Wort weiter!« rief Herr Grandidier; »ich will und darf es nicht geschehen lassen. Es ist Verrat!«

»Verrat!« lachte Helene. »Wo ist Verrat, bei mir oder bei Ihnen, in dessen Adern das französische Blut fließt; bei mir oder bei diesen Toten, die ihr Vaterland verleugnet haben?«

»So ist es Wahnsinn!« donnerte Herr Grandidier sie an, indem er die Hand ausstreckte nach ihr, um sie fortzustoßen von den Gräbern, welche sie durch ihre Gegenwart nicht länger entweihen sollte.

Sie wich zurück und schrak zusammen, einer 349 Nachtwandlerin gleich, welche sich am Rande des schwindelnden Abgrundes plötzlich bei ihrem Namen angerufen hört. Alle Kraft und Freiheit der Bewegung schien von ihr genommen und sie selber wie gebrochen. »Wahnsinn!« sagte sie, und Schauer durchrieselte ihren ganzen Körper. »Ja, vielleicht ist es Wahnsinn, immer nur einen Gedanken, ein Verlangen, eine Sehnsucht zu haben –« und sie raffte sich langsam empor, indem sie sprach – »vielleicht ist es Wahnsinn, eine Welt in Blut und Brand und Zerstörung zu träumen, nur um das eigene, das unaussprechliche Leid darin zu begraben – über rauchende Trümmer einen Weg zu suchen, da kein anderer zu ihm führt . . . vielleicht ist es Wahnsinn; aber dennoch möcht' ich ihn nicht um alles Glück der Erde vertauschen, wenn man es mir böte.«

»Sie wollen mich nicht hören,« warnte Herr Grandidier; »wohlan, ich habe keine Macht über Sie. Doch ich dulde nicht, daß Sie dieses Kind mit sich in das Ungewisse fortreißen.« Und er näherte sich dem Kleinen.

Aber dieser, in Tränen ausbrechend, warf sich an die Brust der Mutter und umfaßte sie mit beiden Armen.

»Mein Sohn, mein Sohn!« sagte sie weich, ihn fester an sich pressend, »ich wußte, daß du kommen, daß du mich nicht verlassen würdest. Was gibt diesem Manne das Recht, von Liebe zu sprechen – ihm, der in der Härte seines Herzens den Sohn verstoßen hat, der das eigene Kind lieber tot und die Seinigen lieber unglücklich sehen, als auch nur den geringsten Teil seiner Selbstsucht opfern wollte? Ah, Herr Grandidier,« – sie stand jetzt wieder in voller Höhe vor ihm – »wenn es Frevel ist, dasjenige, was man liebt, mit der letzten Kraft der Seele festzuhalten und auch im Tode sich nicht von ihm zu trennen, dann, dann bin ich eine Sünderin und Sie sind ein Heiliger! Aber vielleicht kommt die Stunde, wo eine Stimme in Ihrem Herzen laut wird, alle anderen Stimmen übertönend mit ihrem furchtbaren Weheruf – wo Verachtung vor sich selbst Sie ergreift und ein Ekel Sie übermannt vor diesem elenden und verlorenen Leben, welches ohne Liebe und ohne Hoffnung ist. Komm, George, wir gehen heim. Wir gehen allein. Denn in unsere Heimat führt nur ein einsamer und gefahrvoller Pfad. Wo dein Vater ist, da ist dein Vaterland; und wenn wir sterben, so sterben wir zusammen.«

350 Die Dämmerung verhüllte beide Gestalten, indem sie langsam unter den Gebüschen des Kirchhofs verschwanden.

»Wahrlich – wahrlich, die Stunde ist gekommen!« sagte mit einem tiefen Seufzer Herr Grandidier; und ihm war, als sei jetzt wirklich jene Stimme wach geworden, mit welcher ihm Helene gedroht. Er hörte sie plötzlich überall und sie klang ihm auch aus den Gräbern, bei welchen er Trost gesucht und Verzweiflung gefunden hatte. Was er bisher nur gedacht, was niemals über seine Lippen gekommen, das sprach diese Stimme jetzt aus, und er sprach es nach, indem er sich entfernte: »Pfui über dich und dieses elende verlorene Leben, welches ohne Liebe und ohne Hoffnung ist!«

Niedergeschlagen verließ er den Ort der Ruhe, seinen Weg fortsetzend durch Straßen, in welchen die Volkshaufen auf und nieder wogten. Ein Geist der Eintracht verband und befreundete sie alle; ein Gefühl der Liebe war in der Luft, die man atmete. Dunkelheit sank herab. Es zog ein elektrisches Leuchten durch die Julinacht. Es grollte leis in unbestimmten Fernen. Er kam über den Schloßplatz und blieb auf der Brücke vor dem Bilde des Großen Kurfürsten stehen. Finsternis war umher und schwarz floß unten das Wasser. Der milde, feste Blick, der ihn ehedem oftmals erhoben, war heut nicht mehr für ihn; und auch hier klang die Stimme mit eherner Gewalt: »Wehe über dich! . . . Der Rächer, den ich anrief, ist aus meinem Gebein erstanden. Die Verheißung geht in Erfüllung und dein Volk hat sich geeint . . .« Er wollte nicht weiter hören. Ihn schreckte die Stimme hinweg; auch dieser Schutz, den er durch sein ganzes Leben heilig gehalten, war verwirkt. Wo gab es noch einen anderen für ihn? Drohend über ihm erhob sich die mächtige Gestalt, umzuckt von den Blitzen des Himmels. Er floh vor ihr; aber wohin, wohin, da er selbst hier keine Stütze mehr fand? Auf einmal kam ihm wieder der Gedanke an Helene. Doch er konnte ihr nicht mehr zürnen; in seinem bitteren Schmerz verlangte ihn nach ihr. Sie durfte nicht verloren sein; er mußte sie retten; er wollte den Vater warnen. Die Fenster ihres Hauses waren hell, Schatten bewegten sich hinter denselben, sie war mit ihrem Sohne zurückgekehrt. Er näherte sich der Türe. Da begann der Choral von der Klosterkirche –melodisch tönte die alte traute Weise herüber . . . doch er vernahm nur die Stimme, die ihn jetzt überall 351 verfolgte. Was das Erzbild nicht vollendet, das riefen jetzt die Glocken: »Wehe über dich! Wehe über dich! Denn du bist ausgestoßen von deinem Volke!«

Der Klang scheuchte ihn empor. Jeder Schlag von dem Turme fiel gleichsam schmetternd auf sein Haupt hernieder. Es litt ihn nicht länger an diesem Platze, der von allen Plätzen in der Stadt für ihn am meisten erfüllt war von unheilvollen Erinnerungen. Vor seinem eigenen Hause stand der Wagen, der schon seit geraumer Zeit ihn erwartet. Er fuhr heim unter den rauschenden, hin und wider wehenden Bäumen, durch den Wald. Aber in dem Winde, der klagend durch die Kiefernwipfel strich, war die Stimme; sie war auch in dem Murmeln der Spree, die nächtig unter seinem Kammerfenster floß.

 


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