Julius Rodenberg
Die Grandidiers
Julius Rodenberg

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Der Oberst in seiner Häuslichkeit

Der Oberst wohnte in der Krausenstraße, der kleinen Kirche gegenüber, in einem von den alten, kleinen Häusern, die noch bis vor kurzem da gestanden. Es waren sehr kleine Häuser, selbst für das damalige Berlin – »damals« in dem Sinne von vor neun oder zehn Jahren genommen; denn Berlin ist eine Stadt mit einer sehr großen Zukunft, wollen wir hoffen, aber einer um so kürzeren Vergangenheit.

Nun, dieses kleine Haus, in welchem der Oberst wohnte, war unter den anderen kleinen Häusern seiner Nachbarschaft das kleinste. Es hatte außer dem Erdgeschoß, in welchem bloß eine Rumpelkammer, ein Ladeneingang und ein Lehmflur waren, nur noch ein Stockwerk; aber darüber saß ein hohes, steiles Dach, welches größer war als das ganze Haus zusammengenommen. Es sah aus wie ein kleiner Mann mit einem großen Hute, tief in die Stirn gezogen. Zwischen dem Ladeneingang und der Rumpelkammer befand sich die Haustür, welche zwar immer verschlossen, aber von Wind, Wetter und Alter so zusammengeschrumpft, daß sie sowohl oben als unten zu kurz war und ein Dieb ganz gut hätte hineingelangen können, wenn er sich nur die Mühe geben wollte. Doch hatte sich bis jetzt kein Dieb gefunden, der es selbst dieser geringen Mühe für wert gehalten; denn das Haus hatte nicht den Anschein, als ob Schätze darin verborgen seien. Neben der Tür war ein eiserner Klingelzug, welcher zum Glück für die Bewohner die bemerkenswerte Eigenschaft hatte, ohne Glocke zu sein. Sonst würden die Bewohner keinen ruhigen Augenblick gehabt haben. Denn jeder Straßenjunge, welcher vorbeiging, zog an der Klingel. Wer die ernstliche Absicht hegte, in das Haus zu kommen, mußte daher gegen die Tür klopfen, was indes meistenteils auch keinen bestimmten Erfolg hatte wegen des Blechschmieds, der in dem kleinen Laden hauste. Dieser war zugleich sein Laden und seine Werkstatt, sein Wohnzimmer, sein Schlafzimmer und seine Küche. Darin saß er den ganzen Tag bei offener Türe, hämmerte 96 auf seinem blechernen Geschirr herum und sang dazu mit lauter Stimme das Lied: »Frei wie des Adlers mächtiges Gefieder.« Denn der Blechschmied war ein junger Mann und ein lustiger Mann, sein eigener Meister und Gesell, und obendrein ein Turner und ein Sänger.

So war es denn in der Tat keine leichte Sache, Einlaß in das Haus zu erlangen, neune von zehn kehrten immer um. Das aber war es besonders, was dem Obersten sein kleines Haus wert machte.

Es war übrigens nicht das Haus des Obersten. Es war auch nicht das Haus des Blechschmieds. Außer diesen beiden wohnte noch ein Mann und eine Frau darin, von welchen es jedoch schwer gewesen sein würde, zu sagen, welchen besonderen Raum sie bewohnten. Es war immer dunkel in dem kleinen Haus, selbst an den heitersten Sommertagen; und immer, irgendwo aus dem Dunkel, kam der Mann oder die Frau heraus. Er hieß Herr Brandt und sie hieß Frau Brandt. Sie war eine kleine, dunkle, bewegliche Person mit dem harten Akzent unserer östlichen Provinzen. Er war ein großer, schwerfälliger Mann mit einem schwärzlichen Gesicht, trug für beständig grüne Pantoffeln, sprach niemals, sondern gähnte nur. Er war ein Maurer von Profession, aber er machte keinen Gebrauch davon. »Ach!« sagte Frau Brandt, »es ist uns nicht an der Wiege gesungen worden, aber das Schicksal, mein Herr, das Schicksal!« Sie behauptete nämlich, eine Polin von vornehmer Familie zu sein, und ihr Mann sei Gutsbesitzer gewesen. Sie hätten aber Unglück gehabt, ihr Gut verkaufen müssen und seien dann nach Berlin gekommen. Den merkwürdigen Prozeß, durch welchen ihr Mann aus einem Gutsbesitzer ein Maurer geworden, erörterte sie nicht näher; doch gehörte das auch nicht zur Sache. Kein Mensch hatte ihn jemals mauern sehen, kein Mensch hatte ihn überhaupt jemals anders gesehen als in grünen Pantoffeln, in dem Dunkel hinter der hölzernen Treppe, welche aus dem Flur nach dem ersten Stock hinaufführte. Selten kam er zum Vorschein, obwohl er immer zu Hause war; wenn er sich aber einmal blicken ließ, in der unbestimmten Form, welche die Dämmerung ihm erlaubte, groß, plump und unbeholfen, so reckte und streckte er sich wie ein Mann, der mitten in der Nacht aus dem Schlafe geweckt worden ist. Auch hatte er immer Federn in den Haaren.

97 Seine Frau dagegen war wie Quecksilber. Sie kochte dem Obersten den Kaffee, sie putzte seine Stiefeln, sie klopfte sein Zeug, und sie benutzte jede Gelegenheit, um sich mit ihm zu unterhalten. Eigentlich wäre die persönliche Bedienung des Obersten Sache des Majors gewesen, allein dieser führte mit dem Leutnant und dem Korporal eigene Menage in einer benachbarten Herberge, in welcher ihr Chef sie zusammen einquartiert hatte, und erst gegen Mittag meldete er sich zum Rapport. Bis dahin hatte Frau Brandt freies Feld. »Ach!« rief sie, indem sie in der halbgeöffneten Tür stehenblieb, des Obersten Reitfrack über dem Arm und seine Sporenstiefel in der Hand, »ich bin auch einmal eine hübsche Frau gewesen, und Bildung hab' ich auch gehabt; meine Tochter Martha, so hab' ich meine Mutter oft reden hören, meine Tochter Martha ist jetzt so gebildet, daß sie fast gar nicht mehr mich sagt, sie sagt jetzt meistens nur mir! Und damals war ich noch nicht einmal volle sechzehn Jahre alt! Aber das Schicksal, Herr Oberst, das Schicksal!«

Das Schicksal, wenn man ihm näher auf den Grund ging, schien darin bestanden zu haben, daß Herr Brandt der träge Mann, der er hier in der Krausenstraße war, schon früher in seiner ostpreußischen Heimat gewesen, daß seine Frau sich nicht auf die Wirtschaft verstand, daß beide redlich vertan, was sie besessen haben mochten, und daß sie nichts mehr zu verlieren gehabt, als sie sich nach Berlin gewandt und hier das kleine Haus genommen hatten.

Das kleine Haus war aber darum noch immer nicht das Haus der Eheleute Brandt. Es gehörte vielmehr einer ältlichen und unverheirateten Putzmacherin namens Aurelie Huncks. Fräulein Huncks hatte das Haus von einer Tante geerbt, einer kinderlosen Witwe, welche ihr im Leben nicht viel Gutes gegönnt. Das Haus, klein, eng, baufällig, war unter den damaligen Verhältnissen nicht viel, aber es war doch etwas wert; und Fräulein Huncks hatte es vermietet, zuletzt an das Ehepaar Brandt, welche jedoch weit davon entfernt waren, die besten Mietsleute zu sein, die man sich wünschen möchte. Frau Brandt war zwar regelmäßig darin, am Ersten des Quartals bei Fräulein Huncks zu erscheinen, mit vollem Herzen, aber meist mit leeren Händen. Sie klagte das Schicksal an – »das Schicksal, Fräulein Huncks, wer kann gegen das Schicksal!« – aber sie brachte kein Geld mit. 98 Fräulein Huncks würde daher das Ehepaar längst schon haben exmittieren lassen, wenn der Oberst nicht gewesen wäre. Dieser jedoch brachte die Sache, wenn sie am schlimmsten stand, immer wieder ins gleiche. Denn er liebte das kleine Hans, hatte sich an die dunkle Existenz des Herrn Brandt gewöhnt, obwohl er diesen mehrfach schon, wenn er von einer seiner vielen Reisen zurückgekehrt war, in seinem eigenen Reitfrack gefunden, und hätte auch Frau Brandt ungern entbehrt, obwohl die Milch, die sie ihm zum Frühstück brachte, ihm zu gerechten Bedenken Veranlassung gab. »Liebe Frau Brandt,« hatte der Oberst ihr gesagt, »wenn Sie mir in Zukunft das Wasser und die Milch doch in zwei Töpfen bringen wollten, das Wasser in dem einen und die Milch in dem anderen!«

»Ja! hatte Frau Brandt geantwortet, »warum denn nicht! Das kann ja geschehen!«

Aber es geschah dennoch nicht, weil des Wassers immer mehr und der Milch immer weniger ward.

Wem es gelungen war, die mannigfachen Hindernisse zu bestehen, welche zu überwinden waren, bevor man zu dem Obersten gelangte, dem zeigte seine blaugetünchte Stube, außer ziemlich dünnen Tüllgardinen, welche Frau Brandt an jedem Morgen kunstvoll drapierte, einen Spiegel, ein Büchergestell, auf welchem ein bestäubtes Korpus juris den abtrünnigen Streiter Justinians verriet, einen Sekretär, dessen Schlösser abwechselnd nicht auf- und nicht zugingen, einen Tisch, drei Stühle, ein rotes Plüschsofa und ein großes Bild in Steindruck. Bäume waren auf diesem Bilde zu sehen, und darunter lange, magere, sonderbare Figuren, in Hemdärmeln, mit herabwallenden Haaren, mit kleinen Mützen darauf und breiten Bändern über der Brust. Einige von ihnen hielten sich umschlungen, andere drückten einander die Rechte, noch andere hoben Trinkhörner, Trinkkannen und Trinkbecher in die Luft, und alle zusammen machten ein so melancholisches Gesicht dabei, als ob im Walde zu trinken und sich ewige Freundschaft zu geloben ein sehr trauriges Geschäft sei. Studenten waren's; aber zur Ehre der Studentenschaft von vor dreißig, vierzig Jahren wollen wir annehmen, daß der Fehler weniger an ihrem Humor als an dem Geschick oder der Auffassung des akademischen Künstlers lag, der sie gezeichnet. Die ganze Gesellschaft war, wie oben beschrieben, um eine Biertonne im Mittelgrunde gruppiert; 99 und an der Tonne lehnte ein Jüngling, der längste, der magerste, der sonderbarste und der melancholischste von allen. An diesem jungen Manne hatte der Künstler offenbar sein Wohlgefallen gehabt; er hatte sein Bestes getan, um ihn im Charakter darzustellen, wie er mit der einen Hand ein Bierglas zum Munde führt und mit der anderen auf etwas hinausdeutet, was, am jenseitigen Berge gelegen, ein Schloß oder eine Stadt oder vielleicht auch beides sein mochte.

Das war das Bild, auf welches der Oberst große Stücke hielt.

Der Stolz der Frau Brandt hingegen war das Plüschsofa, wie es in der Tat auch die Zierde des Zimmers war. Es erleuchtete dasselbe förmlich mit seinem feurigen Rot, und Frau Brandt hatte von der Kostbarkeit des Stoffes eine solche Meinung, daß sie demselben weder mit dem Ausklopfstock noch mit der Bürste jemals nahekam, woraus folgte, daß jedesmal, wenn der Oberst sich setzte, eine Wolke Staubes aufflog. Der Alkoven, welcher sein modestes Lager barg und mit einem Kattunvorhang geschlossen war, vollendete die Häuslichkeit des Obersten, welche keinen Glanz entfaltete, jedoch ein tiefes Gemüt offenbarte.

»Ach!« sagte Frau Brandt, in der halboffenen Tür, an jenem Morgen – sie hatte sich nämlich, durch ihr Schicksal dazu veranlaßt, daran gewöhnt, jedes ihrer Gespräche mit einem Klagelaut zu eröffnen – »ach, Herr Oberst! Wenn Sie wüßten! Diese Person in der Rosmarinstraße.«

Unter dieser Bezeichnung verstand sie nämlich Fräulein Huncks, ihre Mietsherrin, welche in der Rosmarinstraße wohnte. »Diese kleine, nichtsnutzige Kokette!«

»So,« sagte der Oberst, welcher auf dem roten Plüschsofa sitzend den Kaffee schlürfte, den Frau Brandt ihm eben hereingebracht. »Kokette! Fräulein Aurelie Huncks kokett! Das ist das erste, was ich höre!«

»Oh, Sie unschuldiger Mann, Sie!« versetzte Frau Brandt, indem sie ihren Mietsmann mit ihren schwarzen Augen verschmitzt ansah. »Gegen eine solche Kokette freilich kann kein Mann aufkommen. Auf alle Männer hat sie's abgesehen – auf alle!«

»Auf alle?« fragte der Oberst einigermaßen verwundert.

»Auf alle!« bestätigte Frau Brandt. »Auf Sie . . .«

»Auf mich?« rief der Oberst, wie aus den Wolken fallend.

100 »Auf Sie,« fuhr Frau Brandt fort, »auf . . . auf . . . sogar meinen Mann hat sie mir nicht gegönnt. Denken Sie sich, meinen Mann! Und jetzt ist sie bei dem Professor Bestvater angekommen.«

»Was!« rief der Oberst und ließ jetzt wirklich den Kaffee stehen.

»Na, der Professor Bestvater – Sie wissen doch – der alte Herr, der immer die Reden bei Tisch hält – Sie müssen ihn doch kennen,« sagte Frau Brandt, indem sie vor Ungeduld den einen Sporenstiefel aus der Hand fallen ließ und sich dann wieder bückte, um ihn vom Boden aufzuheben. »Der Professor, der bei ihr wohnt. Sie machen aber auch just, als ob Sie niemals von dem Professor gehört hätten, dem sie seit Jahren schon die kleine Stube in ihrer Wohnung abvermietet hat; schon aus der Zeit her, wo sie noch kein Haus in der Krausenstraße hatte und nichts war als die kleine Putzmacherin, die Gott der Herr in seinem Zorn erschaffen hat.«

Da schnippte der Oberst mit den Fingern, und es kam über ihn wie eine Erleuchtung. »Das ist eine Idee, Frau Brandt!« sagte er.

»Was ist eine Idee?« fragte Frau Brandt, die natürlich keine Ahnung von dem Plan haben konnte, der in der Seele des Obersten aufdämmerte. »Nennen Sie das vielleicht eine Idee, daß sie das unerhörte Glück gehabt, eine Tante zu verlieren – eine Tante,« fuhr sie fort, sich immer mehr ereifernd, »die sie bei Lebzeiten nicht vor Augen sehen konnte und die nach dem Tode ihr ein Haus hinterließ? Daß sie im Reichtum sitzt bis über die Ohren, während andere Leute, die es eher verdienten, mit dem Schicksal kämpfen müssen . . . daß sie sich aufbläht und Mienen annimmt wie ein hochmütiger Pfau, der sie ist . . .« und Frau Brandt machte eine Bewegung, die ihre Meinung über Fräulein Huncks sinnbildlich veranschaulichen sollte, wobei ihr der Sporenstiefel abermals aus der Hand fiel.

»Nein, es ist nicht das,« sagte der Oberst, indem er sie zu beruhigen suchte.

Doch die gute Frau wollte sich nicht beruhigen lassen. »Und uns arme, ehrliche Leute sucht sie zu schikanieren,« klagte sie weiter; »wenn es uns einmal passiert, daß wir die Quartalsmiete nicht an dem richtigen Tag und zur richtigen Stunde bringen, so droht sie gleich mit dem Exekutor. Kann 101 es ehrlichen armen Leuten, die mit dem Schicksal zu kämpfen haben, nicht einmal passieren? Ach, Herr Oberst – sie saugt uns das Blut aus.«

»Ich erinnere mich,« sagte der Oberst, »daß Sie mir gestern schon von gewissen Differenzen gesprochen haben, die zwischen Ihnen und Fräuleins Huncks obwalten. Deswegen bin ich heute noch hier geblieben. Ich würde sonst heute schon abgereist sein.«

»Der Herr Oberst wollen verreisen?« fragte Frau Brandt, bei der die Neugier selbst noch den Haß gegen Fräulein Huncks überbot.

»Ja,« sagte dieser, indem er in die Frühlingssonne blickte, welche freundlich und warm ihren Weg bereits in die Krausenstraße und sogar in das Stübchen des kleinen Hauses gefunden hatte. »Der April ist fast zu Ende, meine Reisezeit ist gekommen.«

»Und wohin soll's denn diesmal gehen? Und wann werden der Herr Oberst zurückkehren?«

»Weiß ich's? Es kann Winter darüber werden. Aber bevor ich reise, muß alles mit Fräulein Huncks in Ordnung sein, damit ich Frau Martha Brandt in der Krausenstraße wiederfinde, wenn ich heimkomme.«

»Das soll ein Wort sein!« rief Frau Brandt freudig darüber, daß sie sich, ihrer Erzfeindin zum Trotz, abermals mit dem Schicksal abgefunden. »Und nun will ich auch Ihr Zeug klopfen, Herr Oberst, daß es eine Lust ist,« sagte sie im Gehen; wandte sich indessen in der Tür noch einmal um und rief: »Und das können Sie dem Fräulein Huncks noch von mir bestellen, daß ich um alle Häuser in der Krausenstraße nicht mit ihr tauschen möchte. Denn, Gott sei Dank, ich bin verheiratet, und gerade auf, wie ich, sagte der schiefe Tanzmeister!«

Damit ging sie wirklich und machte draußen den verheißenen Lärm, welcher in Verbindung mit dem Hämmern und Gesang des Blechschmieds ein Pochen nicht hören ließ, welches sich nun schon zum drittenmal an der Haustür wiederholt hatte.

Der Blechschmied war der erste, der den vergeblich nach Einlaß Begehrenden gewahrte. Teils aus Mitgefühl für den Fremden, teils aus Malice gegen Herrn Brandt nahm der Blechschmied einen Hammer und schlug damit gegen die 102 Wand. Dieses nämlich war auch eine von den Manieren, wie Fremde bei dem Obersten angemeldet wurden. Hierauf folgte ein Geräusch wie das Schlurren von Pantoffeln und ein schläfriger Ausruf: »Martha! Martha!« Die gute Madame schlich vorsichtig an das Fenster, blickte verstohlen hinab und benachrichtigte den Obersten durch die Türspalte, daß ein junger Mensch unten sei.

»Wenn es mein Freund Eduard Grandidier ist, so lassen Sie ihn herein,« klang es durch die Türspalte zurück.

Er war es; und rasch – so rasch es ihr Zustand zuließ – öffnete sich nun die Türe, in der Dämmerung unter der Treppe erschien die dunkle Gestalt des Herrn Brandt in grünen Pantoffeln, auf der Treppe ließen sich Fußtritte vernehmen und bald darauf stand Herr Eduard Grandidier im Zimmer des Obersten, von diesem herzlich mit beiden Händen bewillkommnet.

»Sohn meines Freundes Grandidier,« hub der Oberst an, nachdem er seinem Gaste den Ehrensitz neben sich auf dem roten Plüschsofa angewiesen, »jetzt wollen wir von der Zukunft reden.«

»Die Zukunft!« erwiderte Eduard mit einem Seufzer. »Ich fürchte, ich habe keine Zukunft . . .«

»Ei, das wäre!« widersprach der Oberst lebhaft. »Und die Sonne scheint! Und der Frühling ruft in die Welt hinaus! Und Sie sind so jung – so jung! Sagen Sie mir doch, wie viele Jahre Sie zählen?«

»Dreiundzwanzig.«

»Dreiundzwanzig!« rief der Oberst und sprang vom Sofa auf. »Ah – wenn man so jung ist! Dreiundzwanzig Jahre – als ich dreiundzwanzig Jahre hatte – o du schöne Zeit, o die goldene Zeit! – da war ich Student. Sehen Sie hier« – und mit diesen Worten trat er vor das bewußte Bild, welches über dem Sofa hing – »das ist Marburg – stoßt an, Marburg soll leben! . . . Das dort ist der Turm der Elisabethenkirche – das der Pilgrimstein, das über dem Walde der Elisabethbrunnen – ach, alles spricht hier von Elisabeth! . . . und dort war es, an einem Nachmittag im Herbst, wo sie zum letzten Male neben mir stand mit den fröhlichen, braunen Kinderaugen . . .«

Der Oberst, von den Erinnerungen übermannt, schwieg eine Weile. Dann, mit der Hand über die Stirne gleitend, 103 als ob er etwas hinwegwischen wolle, fuhr er fort: »Und der da – der junge Mann an der Tonne – das bin ich!«

Es war, wie bereits gemeldet, nicht das schönste Konterfei, welches man, wenn man die Wahl gehabt, vor sich hätte sehen mögen; aber der Oberst betrachtete es mit einer gewissen verschämten Zärtlichkeit, als ob er erwarte, Widerspruch zu hören, und bereit sei, Widerspruch abzuwehren, wenn vielleicht irgendein ungesehener Hamlet, die Gegenwart eines angehenden Künstlers benutzend und die Wirklichkeit mit ihrem Abbilde vergleichend, ausgerufen hätte: Seht, diese Künstler! Sie denken zuweilen so hoch von der Würde der Kunst, daß sie die Bescheidenheit der Natur herausstaffieren, bis niemand sie mehr erkennen kann!

Aber da nichts dergleichen erfolgte, sprach der Oberst weiter: »Ein Nebel ist aufgestiegen, wie an jenem Nachmittag, und hat das Tal und die Berge verhüllt – und wo Marburg war, jenes Marburg – da rieselt nun der Regen und fremd klingt mir der Glocken Klang . . . Aber dennoch war es die Jugend! Und alle Seligkeit und alle Kümmernis der Jugend – ich hab' sie genossen und gelitten . . . Und Sie, junger Freund, und Sie?«

»Oh!« rief Eduard aufatmend, »wenn Sie wüßten!«

»Sie stehen am Scheidewege – wohlan denn, fassen Sie einen Entschluß! Auch ich habe mich entschließen müssen. Jenem Zauberlande gleich, das ewig unter einem Schleier liegt, trat ein ganzes Stück Leben zurück; und als die Sonne wieder schien, da war es eine andere Welt, und ich war ein anderer Mann. An die Stelle jener schwärmerischen Liebe, jenes unvergessenen Schmerzes, jener ewig unerfüllten Sehnsucht trat nun die Liebe zum Vaterland, der Schmerz um seine Ohnmacht und die Sehnsucht nach der Wiederkehr seiner Herrlichkeit und Größe. Blicken Sie dorthin,« und noch einmal wies der Oberst auf das Bild über seinem Sofa, »das ist das Schloß von Marburg, und dort, in jenem Türmchen saß, unter Kettensträflingen, der beste Patriot, der edelste Dulder – Sylvester Jordan sein Name; sein Schicksal, daß er das Vaterland und die Freiheit zu heiß geliebt! Zu jener Zeit genügte das schwarzrotgoldene Band, ein deutscher Rock und ein offener Hemdkragen, um einen jungen Menschen in den Augen der Polizei zum Revolutionär zu machen; und wir alle spielten damals Revolution. Aber 104 seitdem ich jenes bleiche Duldergesicht hinter den Gitterstäben gesehen – seitdem ward es ernst mit mir. Meine Kommilitonen haben mit ihren Mützen und ihren Bändern auch ihre Gesinnungen abgelegt – ich habe sie treu bewahrt und bin wirklich ein Revolutionär geworden, wie der dort oben in seinem Kerker! Als nun am Ende der Studienjahre mein Vater nach dem regelrechten Verlauf der Dinge von mir verlangte, daß ich ein Examen machen und in den Vorbereitungsdienst treten solle, da kam die Krisis, von der ich Ihnen gesprochen. Mein Vater, ein tüchtiger, angesehener und begüterter Mann, hatte seines Herzens Stolz dareingesetzt, am Ende seiner Tage mich als wohlbestallten kurhessischen Amtmann zu sehen; und da war es, daß ich ihm den großen Kummer bereitet – den einzigen, ich darf es sagen, den ich ihm mit Wissen und Willen zugefügt. Hessen, mein schönes Heimatland, wie sehr auch mein Herz an seinen Menschen, an seinen Bergen, an seinen Tälern hing, war mir verleidet. Mein Ohr war fein, mein Auge scharf geworden. Ich sah die Braven verfolgt und die Ehrenhaften mißhandelt – ich sagte: nein, nein – ich kann nicht! . . . Ich dachte an den Landgrafen, welcher seine Landeskinder verkauft, und ich dachte an Friedrich, den einzigen, welcher seine mächtige Stimme zürnend erhoben; ich dachte an den Kurfürsten, welcher, schwankend und rechnend, sein Kurfürstentum an die Franzosen verlor, und an den König von Preußen, welcher sein Volk zu den Waffen rief und uns wieder von ihnen befreite . . . Was soll ich Ihnen sagen, junger Freund? Heimlich verließ ich Marburg, Kassel, Hessen und ging nach Berlin, ward Preuße, trat in den preußischen Staatsdienst. Ich habe es nicht weit darin gebracht – Gott sei's geklagt! Denn dieses Preußen war nicht mehr das Preußen der Stein, Scharnhorst und Gneisenau – vieles habe ich erleben müssen und vieles erduldet; aber wenn ich auch nach der bitteren Täuschung von achtundvierzig der Regierung meinen Dienst gekündigt – die Regierung war nicht Preußen, und diesem Preußen meiner Idee habe ich niemals weder den Gehorsam versagt, noch die Treue gebrochen. Und ein Mann ist unterdessen aufgestanden, ein Gewaltiger – vor dem es von Anfang an herging wie ein Atem und eine Verheißung der Tat . . . ich will seinen Namen nicht nennen, denn er ist trotz alledem ein Junker und ich traue den Junkern nicht. Aber 105 eine Zeit mag kommen, die noch stärker ist als selbst er; eine Zeit, wo die Welt wieder einmal in Bewegung gerät,« hier griff der Oberst in seine Brusttasche, als ob er abermals einige Handgranaten daraus hervorholen wolle, »und dann, dann wollen wir sehen! . . .«

Der Oberst war während dieser Worte, welche mehr und mehr die Form eines Selbstgespräches angenommen hatten, heftig im Zimmer hin und her gegangen; jetzt blieb er vor Eduard stehen.

»Darum sag' ich,« rief er, »entschließen Sie sich! Sie haben nun gehört, daß auch ich mich habe losreißen müssen, um meinen Beruf zu erfüllen. Was hindert Sie, das gleiche zu tun?«

»Ich kann nicht,« sagte Eduard; »ich bin gefesselt an Händen und Füßen.«

»So werfen Sie diese Fesseln von sich!«

»Es handelt sich um den Willen, den Lieblingswunsch, die ganze Lebenshoffnung meines Vaters!«

»Ah, bah! Soll ein Hutmacher besser daran sein als ein Amtmann? Sie werden sowenig das eine, als ich das andere geworden bin. Sie sind ein Maler, wie ich ein Revolutionär bin. Das ist unser Beruf.«

»Der Schmerz meines Vaters wird grenzenlos sein.«

»Wie es derjenige des meinen war. Auf Erden hat alles seine Grenze, nur nicht dieser unendliche Drang, der nach Erfüllung strebt – nennen Sie ihn Liebe zur Freiheit, zum Vaterland oder Liebe zur Kunst. – Und dann, wenn es der wirkliche Beruf ist, so muß er sich über alles hinwegsetzen können, selbst über die Pietät. Denn das Schrankenlose duldet keine Schranken.«

»Oh,« rief Eduard, der sich nun gleichfalls erhoben hatte, »wie oft habe ich das auch gedacht!« Er stand aufrecht im Zimmer, mitten in dem Sonnenschein, der durch die Fenster hereindrang, und er streckte beide Arme empor, als ob er das goldene Frühlingslicht umarmen wollte. »Wie oft habe ich es mir gesagt, wenn ich einsam vor meiner Staffelei stand, heimlich, in der Verborgenheit – es kam mir vor, als ob ich sie verleugne, sie, die himmlische Freundin meines Lebens . . .« Langsam sanken die Arme wieder nieder, aber der feuchte Blick des jungen, schönen Mannes blieb der Sonne zugewandt.

106 »Was hat es Ihnen auch geholfen?« begann der Oberst wieder; »Ihr Vater weiß es nun doch, und nur ein kühner Entschluß kann Sie retten!«

»Wenn ich ihn fassen könnte!« sagte der Jüngling.

»Und drängt Sie nicht der Ehrgeiz, sich in Ihrer Kunst zu vollenden? Sich einen Namen zu machen – nicht das Verlangen nach Ruhm? Wer so begabt ist wie Sie, der hat ein Recht dazu. Die Natur, die das eine gab, gab doch auch das andere. Hat Sie niemals ein starkes Gefühl erschüttert, beseligt oder elend gemacht –«

»Keines,« versetzte Eduard, »außer diesem einen der Erniedrigung.«

»Haben Sie niemals geliebt?«

Eduard wollte etwas sagen. Dann aber besann er sich rasch und schüttelte mit dem Haupte.

»Nicht einmal das!« rief der Oberst in einem Tone, als ob dieses Geständnis den Gipfelpunkt seines Erstaunens, seiner Enttäuschung und seines Bedauerns bilde. »Dreiundzwanzig Jahre und noch nicht einmal geliebt! . . .« Er schwieg einen Augenblick; es kostete ihn offenbar einige Mühe, über diese Betrachtung hinwegzugelangen. Dann wandte er sich wieder an Eduard. »Sie kommen mir vor wie der deutsche Michel – Sie kommen mir wirklich so vor!«

Eduard lächelte trübe. »Wie meinen Sie das?« fragte er.

»Sie müssen aufgerüttelt werden wie jener. Nur heftige Stürme werden imstande sein, Sie aus Ihrem Halbschlummer zu wecken. Drum auf in die Welt! Die Welt wird schon dafür sorgen!«

»Und mein Vater – meine Mutter –!« rief Eduard fast bittend, als ob er sie vor einem Äußersten beschützen wollte.

Doch der Oberst sprach: »Darum wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen – heißt es im ersten Buche Mose, Kapitel 2, Vers 24 – wohlan! Seien Sie ein Mann! Fürchten Sie sich denn so sehr vor dem Kampfe?«

»Nein, wahrlich nicht – nicht für mich, aber für ihn, für meinen Vater! Ich fürchte, daß er ihn nicht überwinden wird; und das ist es, was mir bisher einen Entschluß unmöglich gemacht hat!«

»Ich tadle Sie nicht wegen dieser Empfindung,« sagte der Oberst; »aber Sie müssen sie durchaus überwinden, und was auch daraus folgen möge, Sie dürfen sich keinen 107 Vorwurf machen. Wenn Sie das Ihrige tun – wenn Sie die Gelegenheit ergreifen, wenn Sie nach Paris gehen, wenn Sie sich dort ausbilden, wenn Sie die Welt sehen und dann fertig in Ihrer Kunst nach Berlin zurückkehren: hier meine Hand, so werde ich es an mir nicht fehlen lassen. Sind Sie bereit?«

Das Auge des Jünglings flammte mächtig auf. »Ich bin's!« sagte er mit fester Stimme und schlug in die Hand des Obersten ein.

Dieser zog die Uhr.

»Es ist Zeit,« sagte er, »einen Besuch zu machen, den ich nicht aufschieben kann. – Also heut abend präzis halb acht Uhr sind Sie auf dem Anhalter Bahnhof – wir reisen bis zur französischen Grenze zusammen; dann gehen Sie rechts nach Paris und ich gehe links nach Straßburg. Für die Mittel zur Reise und der ersten Einrichtung in Paris brauchen Sie nicht zu sorgen; – keine Widerrede, junger Freund, woher auch wollen Sie's nehmen, ohne sich vorzeitig zu verraten? Es wird nicht allzu weit reichen, aber Sie wissen ja, wo Sie stets ein offenes Herz und eine offene Hand finden werden, so weit ich's selber vermag. Und nun auf Wiedersehen!«

Wie betäubt verließ Eduard Grandidier das Zimmer des kleinen Hauses, welches sich inzwischen ganz mit Sonne gefüllt hatte; und der Oberst vollendete seinen Anzug.

 


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