Julius Rodenberg
Die Grandidiers
Julius Rodenberg

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Der verlorene Sohn

Unschlüssig, nachdem er das Haus des Referendarius außer Dienst Fritz Scharf, genannt der Oberst, verlassen, blieb Eduard stehen – zweifelnd, zögernd, als ob er sich, nachdem der erste Schritt schon getan, noch einmal besinnen wolle. Doch die Katastrophe war eingetreten. Eduard stand an einem Wendepunkte seines Lebens; umkehren hieß: es verloren geben. Vor ihm lag, wonach er sich gesehnt hatte mit lang unterdrücktem heftigem Verlangen; aber jetzt, wo es aus feinen Nebeln gleichsam heraustreten und eine Wirklichkeit für ihn werden sollte, jetzt tat ihm plötzlich das Herz so weh. Gott weiß es, jeder Abschied hat etwas Gewaltsames, selbst wenn es sich nur um eine Vergnügungs- oder Erholungsreise handelt, und manchmal noch im späteren Leben, wenn man sich an das Gehen und Kommen leidlich gewöhnt hat, wandelt uns solch ein Empfinden an. Aber Eduard war auch darin ganz neu; dies war das erstemal, daß er sich von Berlin entfernen sollte, und unter welchen Umständen! 120 Seine Knabenspiele fielen ihm ein und die kleinen Sandhaufen am Wasser. Er hatte bisher gar nicht bemerkt, wie sehr seine Seele an diesem Sande hing und an allem, was damit in Verbindung stand. Diese Krausenstraße, in der er jetzt stand, war ihm eigentlich immer und, um die Wahrheit zu sagen, bis auf den heutigen Tag eine recht gleichgültige Straße gewesen. Aber jetzt nahm sie ordentlich eine gutmütige und eine traurige Physiognomie an, als ob sie wirklich Mitgefühl mit ihm habe und es auf irgendeine Weise kundgeben wolle. Die Häuser in jener Gegend, um die kleine Kirche zusammenhockend wie gute Gevattern, nahmen – ein jedes von ihnen – einen solchen Ausdruck von Vertraulichkeit an, als ob sie jahrelang mit ihm in einem intimen Verhältnis gestanden und es jedem einzelnen daher ganz besonders leid tue, sich von ihm zu trennen; und alle Menschen, die vorübergingen, fuhren oder ritten, hatten etwas in ihrem Gesicht, als ob sie davon wüßten, daß Eduard heute Berlin verlassen wolle, als ob sie sich mit nichts anderem als diesem einen Gedanken beschäftigten, als ob es auch ihnen sehr leid sei und als ob sie alle zusammen Hände mit ihm schütteln möchten. Lieber Gott. dachte Eduard, wenn mir schon die Krausenstraße das Herz so schwer macht, wie wird's mir erst werden zu Neu-Kölln am Wasser und in all den kleinen Gäßchen und auf all den alten Plätzen der Kindheit. Und er dachte an das Elternhaus und an den Vater; kein Groll bemächtigte sich seiner, indem er die gegen ihn aufgehobene Hand noch einmal erblickte, sondern nur eine wundersame Festigkeit. Er erinnerte sich nun jener nachmittäglichen Spaziergänge in entschwundenen Frühlingen und der Erzählungen des Vaters von den Schicksalen seiner Vorfahren. Jetzt auf einmal durchzuckte es ihn, wie verwandt doch das seine mit dem ihrigen sei. Auch ihm war unter dem Druck und Zwang des Vaterhauses wie einem Gefangenen gewesen, wie einem, der seinen Glauben nicht bekennen darf; und jener hugenottische Zug in ihm erwachte, jene Kraft des Bekenntnisses und jenes Feuer der Tat, welches in den späten Nachkommen der ersten Einwanderer noch immer fortlebte, und welches aus den Enkeln und Urenkeln der französischen Kolonie in Berlin so viel große Männer, Chefs berühmter Handelshäuser, Fabrikanten, Feldherren, Staatsmänner, Männer der Wissenschaft und Künstler ersten Ranges 121 gemacht hat. »Rettung! Rettung!« rief es in Eduards Brust; »auch sie fanden ihr Heil nur im Exil und in der Flucht vor dem Tyrannen, und du bist ein Grandidier wie sie!« Und er gedachte des Großen Kurfürsten, des Wohltäters der Grandidiers, wie der Vater ihn genannt, den er von Jugend auf sich gewöhnt, als den Beschützer seines eigenen Lebens zu betrachten. Er sah ihn wieder vor sich, wie er das Standbild desselben auf der Brücke oft gesehen, in der Herrlichkeit des Sonnenuntergangs, wenn der Lorbeer seines Hauptes von goldenen Strahlen leuchtete; und ihm ward, als ob er mit ihm über alle dazwischenliegenden Jahre wie mit einem sprechen könne, der ihn hörte und ganz genau verstünde. »Ich werde wiederkehren,« murmelte er, in diese Gedanken versunken, die halb der Vergangenheit und halb der Zukunft angehörten »ich werde wiederkehren, frei, frei wie meine Väter, als sie das Joch der Unwahrheit und Lüge, der Untreue gegen sich selber von sich geworfen; als sie Haus und Herd und Heimat aufgaben und der Ungewißheit entgegenzogen, um das zu retten, was der Menschheit einzig und ewig Gewisses ist, ihr Gewissen – die Ruhe der Seele und die Erfüllung der Pflicht! So will ich einst vor ihn hintreten, der meine Väter gelehrt hat, ihren Glauben zu bekennen, gerüstet für den Tag, da ich für ihn zeugen werde, wie er einst für mich gezeugt hat!«

Kein Schwanken mehr war in seinem Gange zu bemerken, als er nun seinen Weg fortsetzte mit festem und sicherem Schritt. Alles schien ihm wieder in geregelter Ordnung zu sein wie an jedem anderen Tage. Die Straßen und die Häuser nahmen wieder ihren gewöhnlichen Ausdruck an, auch die Menschen gingen ihren Geschäften nach wie sonst und dachten nicht mehr daran, sich um ihn zu bekümmern. Das Leben der großen Stadt schlug in vollen Pulsen; es rasselte, lärmte, starb in der Ferne hin und kam wieder aus der Ferne zurück – mit tausend Rädern, mit donnerndem Hufschlag und brausendem Gewirr zahlloser Stimmen und Schritte, in denen der Schritt und die Stimme des einzelnen verhallte. Und doch hatte jeder sein Ziel, und Eduard hatte das seine. Das war es, was ihn auf einmal so glücklich machte, so leicht und froh! Da stand es; weit, weit weg; aber doch schon deutlich erkennbar mit jenen süßen Zügen, die das eigene Herz ihm gegeben. Wie war es doch geschehen, daß 122 das eine zum anderen gekommen? Er konnte sich's selber nicht sagen; aber da stand es, die Freiheit, die Kunst, die Liebe, nicht wesenlos, nein, wirklich, körperhaft, eine Gestalt, eine Mädchengestalt mit dem lieblichen Antlitz, das er in all seinen Träumen erblickte. So schwebte sie vor ihm her, getragen von dem feuchten Frühlingsglanz – und der melancholische Flor, der den Tag für ihn bisher verhüllt, sank nieder, und die Sonne strahlte hell, und die frischen Blumen des Lenzes, Veilchen und Maiglöckchen und Primeln und Aurikeln, dufteten in den Töpfen und Sträußen des Marktes am Dönhoffplatz, und das Wasser funkelte, welches aus dem Löwenrachen des Brunnens in das Marmorbecken plätschernd floß, und die weißen Zeltbuden, die den Platz bedeckten, und die guten Dinge, die darin verkauft wurden, und die Menschenmenge, die sich dazwischen hin und her drängte, und die Wagen und Karren, die ringsumher standen, und die Körbe, die sich leerten, und die Körbe, die sich füllten: dieses bunte Bild, auf dem tausend Figuren in beständiger Bewegung waren, gab ihm ein so frohes Gefühl von der Gegenwart des Lebens, daß es in ihm aufjauchzte: »Hinaus! Hinaus!« Er hatte nur einen Abschiedsbesuch zu machen in dem Hause von Samuel Fränkel; denn Pietät trieb ihn, dem Manne, dem treuen Hüter des Geheimnisses, welches erst gestern durch den Obersten verraten worden war, auch das andere anzuvertrauen, welches außer ihm und Herrn Theodor Stork niemand wissen durfte.

Herr Theodor Stork war nämlich der Zeichenlehrer, bei welchem Eduard von der Kunst so viel erlernt hatte, als jener mit dem besten Willen mitzuteilen vermochte. Es war nicht viel, aber es war doch etwas; denn die »gerade Linie ist der Anfang aller Kunst«, war der Sinnspruch des Herrn Theodor Stork, und in diesen Anfangsgründen hatte er seinen eifrigen Schüler Eduard rechtschaffen unterwiesen. Samuel Fränkel, welcher den kleinen Grandidier immer gerngehabt, hatte das Verhältnis vermittelt, welches mehrere Jahre lang in tiefstem Stillschweigen fortgesetzt worden war, in der Tat so lange, daß Herr Theodor Stork zuletzt selbst nicht mehr wußte, was sein Unterricht dem Schüler nützen könne, der ihm längst über den Kopf gewachsen. Denn Herr Theodor Stork war ein anspruchsloser Mann und bisher immer ganz glücklich gewesen, wenn seine Zöglinge es so weit gebracht, ein Viereck und einen Kreis zeichnen zu können. Ein Haus 123 und eine Tanne waren die höchsten seiner pädagogischen Erfolge gewesen, und mit einer gewissen Ehrfurcht pflegte er von einem Knaben zu sprechen, der, kurz bevor er die Schule verließ, einen Vogel nicht nur gezeichnet, sondern auch koloriert hatte. Dieser Junge, dem er die glänzendste Zukunft prophezeit, war nachmals ein ehrsamer Tischlermeister geworden, was auch jedenfalls das Beste für ihn war. Allein alles, was Herr Theodor Stork während seiner langen Laufbahn als Zeichenlehrer jemals erlebt (er hatte sein fünfundzwanzigjähriges Dienstjubiläum bereits gefeiert), ward doch von Eduard Grandidier so weit überholt, daß er zuerst einen Schreck bekam und nachher eine Art von Gewissensangst empfand, als er der erstaunlichen Entwicklung des Jünglings von Tag zu Tag folgte. Denn Herr Theodor Stork war nicht nur ein anspruchsloser, sondern auch ein ehrlicher und verständiger Mann. Es steckte mehr in ihm, als er sich jetzt wohl zutrauen mochte. Er hatte in jungen Jahren vielleicht auch einmal von höheren Dingen geträumt, aber – es war bei der »geraden Linie« geblieben, und wer weiß, ob es das Schicksal, indem es ihn den dunkeln Weg führte, nicht gut mit ihm gemeint hatte? Auch war er ganz zufrieden damit. Erst seitdem er die Bekanntschaft mit Eduard Grandidier gemacht, kamen zuweilen die alten Gedanken wieder. Er hatte gute Werke der Kunst genug gesehen, um zu ahnen, wenn auch vielleicht nicht deutlich zu wissen, welches Talent in dem Jüngling verborgen sei. Er hatte darüber oft sowohl mit Samuel Fränkel als mit Eduard Grandidier selber gesprochen. Nachdem dieser die gerade Linie, den Anfang aller Kunst, nicht ohne Schwierigkeit erlernt hatte – denn darin war Herr Theodor Stork sehr umständlich – war er mit einer Rapidität ohnegleichen fortgeschritten, hatte Häuser und Tannen am Ende des ersten Monats und am Ende des ersten Jahres ganze Wälder, Dörfer, Städte und Landschaften gezeichnet, wie Herr Theodor Stork dergleichen niemals zuvor gesehen. Der gute Mann, obwohl er es in seiner Praxis bisher nicht gebraucht, veranlaßte nun doch seinen Schüler, nach Gipsabgüssen, und als auch das Stadium in überraschend kurzer Zeit zurückgelegt worden war, nach Modellen zu zeichnen. Doch damit war Herrn Theodor Storks Weisheit wirklich am Ende, und als Eduard eines Tages anfing zu tuschen und zu malen, da sagte jener mit den großen, grellen 124 Augen, die trotz seiner sechzig Jahre noch beträchtlich glänzten, und dem Sonnenschein des Vergnügens, der niemals von seinem Gesichte wich, auch wenn er das Traurigste mitzuteilen hatte: »Jetzt müssen Sie aber wahrhaftig zu einem anderen in die Lehre, so leid es mir auch tut. Ich bin Ihnen zu nichts mehr nütze!«

Wie sehr aber unterschätzte sich der bescheidene Mann! Freilich konnte er den jungen Künstler nichts mehr lehren, nicht einmal auf seine Fehler vermochte er ihn fortan noch aufmerksam zu machen. Aber unter den Verhältnissen, in denen sich Eduard befand, war ihm alles gelegen an der Verborgenheit und dem Geheimnis. Gewiß schlich sich viel Falsches und Verkehrtes in seine Bilder ein; aber er konnte doch, wie andere Jünglinge in seinen Jahren mit der Geliebten, sich hier ein Rendezvous geben mit dem, was seine Geliebte war – mit der Kunst, bis zu jenem Tage, wo er sie offen bekennen durfte. Dieser Tag war nun gekommen. Doch bevor er ging, wollte er noch den ersten schuldigen Tribut seiner Dankbarkeit diesen beiden Männern abstatten, die bisher die einzigen waren, die etwas für ihn getan, jeder in seiner Weise.

Es war ein Sonnabend, und Samuel Fränkel stand im sabbatlichen Gewand auf der Freitreppe seines Hauses in der Heiligengeiststraße, auf welcher er sich von der warmen Frühlingssonne bescheinen ließ. »Der liebe Gott wird helfen,« sagte er jedesmal, wenn trübe Gedanken ihn anwandeln wollten. Aber solche Gedanken kamen heute nicht, am Tage des Herrn. Er war in der Synagoge gewesen und hatte gebetet, und manchmal während des Gebets – der liebe Gott wird es ihm vergeben – an das gute Mittagessen gedacht, welches seine Frau besser zu bereiten verstand als irgendeine andere Frau in der Heiligengeiststraße oder einer der anderen Straßen, welche an diese grenzen. Seine Frau war ein Muster von Frömmigkeit und Tugend; sie trug die Haube bis tief in die Stirn, und sie hatte sie schon so getragen, als ihr jetzt silberweißes Haar noch frisch und braun und lockig gewesen. Sie lebte nur für ihren Mann und ihren einzigen Sohn Joseph. Aber ach! – dieser Sohn war es gewesen, der ihnen beiden schon das bitterste Herzeleid bereitet. Nicht als ob er ein Bösewicht gewesen; nein, er war der sanfteste, beste, schüchternste Mensch – in dieser letzteren Beziehung das 125 gerade Gegenteil seines Vaters – und eben deswegen das Opfer eines Mannes geworden, welcher ihn um einen beträchtlichen Teil seines Vermögens betrogen hatte; noch dazu war dieser Mann ein Verwandter und hatte das Vertrauen der Familie besessen. Er gehörte zu jener Klasse von Geschäftsleuten, welche nachmals, in einer etwas späteren Periode, zu so hoher Blüte gelangten; die meisten von ihnen sind längst wieder versunken, dieser Besondere jedoch hat sich durch große Klugheit und Vorsicht gehalten, und niemand, der ihn des Winters in seinem Stadtpalast, des Sommers in seinem Landhaus und das ganze Jahr in seinem Einspännerchen sieht, würde seinen bescheidenen Ursprung erraten, dessen sich in der Tat keiner zu schämen braucht, vorausgesetzt, daß er sonst nichts Unehrenhaftes begangen. Dieser große Mann war damals noch ein kleiner Geldwechsler in der Königstraße, und Samuel Fränkel verwünschte den Tag, wo er auf den Gedanken kam, seinen Sohn Joseph mit jenem zu assoziieren. Der Plan an sich wäre nicht übel gewesen, denn Joseph war ein guter, tüchtiger, nur etwas unselbständiger Mensch, der der Anregung und Aufmunterung bedurfte, nun aber, da das Unglück eingetreten, jedes Vertrauen zu sich selbst verloren hatte und sich innerlich wie geknickt fühlte. Das war es, was den guten Samuel Fränkel mehr betrübte als das Geld, das er verloren, wiewohl auch das für einen Mann, der es sich sauer und redlich verdient hat, keine leichte Sache ist. Aber »der liebe Gott wird helfen«, sagte Samuel Fränkel; und siehe da – Hilfe kam unter einer Gestalt, in der man sie nicht gesucht. Herr Fritz Scharf, Referendarius außer Dienst, hatte bislang seine Geldgeschäfte mit jenem Wechsler in der Königstraße gemacht und als ein kluger Mann bei dem ersten drohenden Zeichen des Bankrotts – denn darauf lief es natürlich hinaus – sich zurückgezogen. Nicht umsonst hieß er Scharf; in Geldangelegenheiten war er scharf wie nur einer. Er nahm Rücksprache mit Josephs Vater; doch da war es für diese beiden schon zu spät. Aber nicht zu spät war es für den wackeren Obersten, dem ganzen Groll seiner Seele Luft zu machen; er sagte, daß ein solcher Mann, wenn Gerechtigkeit auf Erden wäre, unter die Gauner und Diebe des Molkenmarktes gehöre. Jedoch Gerechtigkeit auf Erden! . . . Demgemäß ging der sehr ehrenwerte Mann auch nicht nach dem Molkenmarkt, sondern, in den gehörigen Zwischenräumen, 126 nach der feinsten Gegend von Berlin und machte daselbst in nicht zu ferner Zeit ein großes und gesuchtes Haus. Es ist nicht ganz der regelmäßige und gewöhnliche Verlauf der Dinge; doch hat er auch nichts so Außerordentliches, daß die Welt sich besonders darüber echauffieren sollte. Gerechtigkeit auf Erden! . . . Man muß ein Idealist sein wie der Oberst, um daran zu glauben. Aber er tat auch, was in seinen Kräften war, um durch ein gutes Wort oder eine freundliche Handlung ihre gröbsten Versehen und Verstöße wenn nicht zu verbessern, so doch etwas weniger schmerzhaft für die Betroffenen zu machen. Unter einem solchen Impulse geschah es, daß der Oberst die Verwaltung seines Vermögens dem biederen Fränkel übertrug, der sich zwar anfangs weigerte, die Verantwortung zu übernehmen. Es sei nicht sein Geschäft, fremde Gelder zu verwalten. »Ganz recht,« sagte der Oberst, »aber Sie haben ja Ihren Sohn, der ein gelernter Geldwechsler ist.« Dieses Zeichen des Vertrauens war das erste, was den unglücklichen jungen Mann einigermaßen wieder aufrichtete, und der Oberst stand sich nicht schlecht dabei. Denn Joseph und sein Vater segneten den braven Mann und taten außerdem das Beste, das Vermögen desselben in allen Ehren zu vergrößern.

So war's geschehen, daß der Oberst das Haus Samuel Fränkels in der Heiligengeiststraße häufig besuchte, und dort hatte er auch den jungen Grandidier kennen gelernt, der jetzt, an dem geschilderten Samstagmorgen, eben diesem Hause zuschritt.

»Ah, guten Tag, Herr Grandidier junior,« rief der biedere Samuel Fränkel ihm entgegen; »gut, daß Sie kommen. Der Herr Scharf hat mir geschrieben,« und er nahm einen Brief aus seiner Tasche, überflog dessen Inhalt noch einmal und nannte eine Summe, welche dem jungen Manne vorzustrecken er von jenem beauftragt worden war.

»Was?« rief Eduard und errötete tief.

»Nun,« versetzte Samuel Fränkel, »der Herr Scharf hat schon anderen Leuten Geld geliehen, die weniger sicher sind als der Sohn des Herrn Grandidier senior zu Neu-Kölln am Wasser. Seien Sie mir gegrüßt, Herr Grandidier junior.« Dabei nahm er seinen Hut ab, gab dem jungen Manne die Hand und trat mit ihm in das Haus.

»Ich mache sonst am Sabbat keine Geschäfte,« fuhr der alte Fränkel fort, indem sie zusammen die Treppe 127 hinanstiegen. »Aber dem Herrn Obersten scheint an dieser Sache viel gelegen zu sein, und außerdem –« setzte er entschuldigend – wahrscheinlich für den lieben Gott – hinzu: »Sie können sich ja das Geld selber aus meinem Schranke nehmen.«

Mit diesen Worten öffnete er die Tür eines Zimmers im ersten Stock. Es war das Wohnzimmer der kleinen Familie. Frau Hannchen in einem lila seidenen Kleid und einer mit Spitzen garnierten Haube saß am Fenster und las in einem Andachtsbuch, während ihr Sohn Joseph, der schon ein klein wenig freier gesinnt war, die Annoncenbeilagen der »Vossischen Zeitung« studierte. Sonnenschein und Stille waren in der kleinen, äußerst sauber gehaltenen Stube. Der Tisch in der Mitte war mit einem weißen Leinentuch bedeckt, und auf einem anderen Tisch in der Ecke stand eine große grüne Lampe, welche Eduard an diejenige erinnerte, die er einst auf dem Boden seines elterlichen Hauses gesehen hatte. Freudig beim Eintritt Eduards erhoben sich Mutter und Sohn, während der alte Fränkel das Zylinderbureau von gebräuntem Mahagoniholz aufschloß, um den Auftrag des Obersten auszuführen.

»Wenn Sie mir's nun unterschreiben wollen,« sagte er, nachdem Eduard das Geld an sich genommen, welches er dem Zutrauen seines großmütigen Freundes verdankte. »Aber wenn es Ihnen recht ist, können wir damit zu Herrn Stork hinaufgehen. Denn Sie wissen wohl, Herr Grandidier, daß ich einer von den altmodischen Leuten bin, in deren Wohnung am Sabbat nicht geschrieben wird.«

Eduard konnte nichts willkommener sein. Denn er fühlte sich verpflichtet, den guten Mann über seine bevorstehende Abreise nicht in Unkenntnis zu lassen, und er hätte ihm doch nicht davon sprechen mögen in Gegenwart der beiden anderen.

»Wissen Sie denn auch,« fragte er, als sie wieder draußen waren und die Treppe zu der Wohnung des Herrn Stork im zweiten Stockwerk emporstiegen, »wozu ich das Geld brauchen will, welches der Herr Scharf so gütig ist mir vorzustrecken?«

»Nun wozu?« sagte der alte Fränkel. »Sie werden Schulden haben, und er wird ein Geschäft machen wollen.«

»Nein, nein, lieber Herr Fränkel,« entgegnete Eduard lächelnd, »ich will noch heute nach Paris reisen!«

»Gott soll hüten,« rief der Alte, heftig erschreckend, »nach Paris! Was wollen Sie denn in Paris machen? Weiß Ihr 128 Vater, Herr Grandidier senior, daß Sie nach Paris reisen wollen?«

»Nein, und er darf's auch nicht wissen – wenigstens nicht eher, als bis ich unterwegs bin. Dann soll er's erfahren. Aber von Ihnen könnte ich doch nicht fortgehen ohne Abschied. Sie haben viel Gutes an mir getan!«

»Nun,« sagte Herr Fränkel, »was hab' ich getan? Nichts hab' ich getan, was ich nicht wünschen möchte, daß andere Väter auch an meinem Sohne täten – Gott soll ihn behüten vor einem zweiten Unglück!« Und der alte Mann seufzte tief auf. »Ich weiß, was es heißt,« fuhr er fort, »Kummer haben an einem Sohn! Ihr Vater hat auch nur einen Sohn. Müssen Sie denn nach Paris?«

»Ja,« versetzte Eduard, hoch aufatmend, »ich muß. Ich hoffe meinen Vater einst mit diesem Schritt auszusöhnen.

»Gott soll es geben,« sagte der alte Fränkel, indem er die Hand gegen die Augen drückte. »Ihr Vater ist zwar ein großer Mann, und ich bin nur ein kleiner Mann. Aber ich will's ihm doch nicht gönnen, auszuhalten, was ich hab' aushalten müssen um meinen Sohn. Kommen Sie, Herr Grandidier junior, hier sind wir bei Herrn Stork; hier können Sie mir die Unterschrift geben, wenn Sie so gut sein wollen.«

Die großen Augen des Herrn Stork wurden noch größer und der Ausdruck des Vergnügens in seinem Gesicht nicht kleiner, obwohl es ihm gar nicht danach ums Herz war –, als er erfuhr, weshalb Eduard Grandidier in Begleitung Samuel Fränkels zu ihm gekommen sei.

»Sie haben recht,« sagte er, nachdem er sich von seinem ersten Schrecken erholt und sein fröhliches Mienenspiel ein klein wenig gemäßigt hatte, »Sie haben ganz recht, Berlin ist nicht der Ort für Sie. Das habe ich schon lange gedacht. Sie haben das Zeug in sich zu einem großen Künstler – und . . . und . . . er stockte – »und was hätten Sie bei mir auch wohl noch lernen können?«

Zum erstenmal in seinem Leben vielleicht empfand Herr Stork es schmerzlich, daß er selber kein größeres Genie sei; welche Wahrnehmung zur nächsten Folge hatte, daß plötzlich wieder ein Glanz der Heiterkeit über ihn kam, als ob dies der schönste Tag seines Lebens wäre.

Herzlich ergriff Eduard die Hände seines wackeren Lehrers. »Herr Stork,« sagte er mit gerührter Stimme, »niemals, 129 niemals werde ich vergessen, was ich Ihnen verdanke, Sie haben mehr für mich getan, als ich mit Worten ausdrücken kann. Zu einer Zeit, wo ich an mir verzweifelte, haben Sie mich aufgerichtet, Sie haben mich in den Anfangsgründen der Kunst unterwiesen, haben mir Mut gemacht und Vertrauen eingeflößt auf die Zukunft . . .«

»So, so, hab' ich das –« erwiderte Herr Stork, der eigentlich gar nicht recht wußte, was er sagte. Denn ihm war wirklich weh. Sein Herz hing an Eduard; er hatte sich daran gewöhnt, ihn täglich zu sehen, wie viel hat denn solch ein armer, einsamer Mann auf dieser Welt? – und er fühlte im voraus, wie sehr er ihn entbehren würde.

»O mein lieber Herr Stork,« fuhr Eduard fort, indem er die beiden Hände desselben immer noch in den seinen hielt, »Sie wissen es nicht, wie viele glückliche Stunden ich in diesen Räumen verbracht! Es waren die glücklichsten meines Lebens!«

»Ist es möglich?« versetzte Herr Stork, indem er sich verwundert umsah, als wolle er an den vier Wänden seines kahlen Zimmers Eigenschaften suchen, die er bisher an ihnen nicht entdeckt hatte.

»Leicht ist mir der Entschluß nicht geworden,« begann Eduard nach einer Pause, und man merkte wohl an dem Zittern seiner Stimme, daß er die Wahrheit sage. »Doch beruhigt mich der Gedanke, daß ich wenigstens vor Ihnen keine Heimlichkeit gehabt habe, daß ich einem, einem vertrauen durfte . . . daß Sie es wissen!«

Je mehr in Eduards Wesen eine letzte Regung seines inneren Schwankens sich verriet, desto fester ward Herr Stork. Die Heiterkeit verschwand für einen Augenblick gänzlich von seiner Stirn und mit tiefem Ernst sagte er: »Ich kann nur wiederholen, daß Sie recht gehandelt. Ich kenne Sie, Eduard; ich kenne Ihr Herz, und Sie brauchen mir nicht zu sagen, wie schwer es Ihnen wird, daß Sie jetzt Ihren Vater in dieser Weise verlassen müssen! Sie haben lange gezögert, Sie haben geduldet – Sie haben es versucht und sich immer und immer wieder geprüft, Sie haben gegen Ihre Neigung angekämpft jahrelang. Aber es gibt Opfer, die selbst ein Vater von seinem Sohne nicht verlangen darf, und es kommt für jeden Menschen einmal die Zeit, wo er selbständig über sich entscheiden muß. Lassen Sie uns hoffen, Eduard, lassen Sie 130 uns hoffen, daß auch eine Zeit kommen werde, wo derjenige diese Entscheidung billigt, den sie jetzt am härtesten betreffen wird.«

»Mein Vater! Mein Vater!« rief Eduard schluchzend, indem er sich an die Brust des Lehrers warf.

Es war jetzt still in dem Zimmer, so still, daß man nichts darin vernahm als einen tiefen Seufzer des alten Samuel Fränkel, der bisher anscheinend teilnahmslos an dem Fenster gestanden hatte. »Der arme Vater!« sagte er leise; doch Eduard hatte ihn gehört, und dieses Wort gab ihm seine ganze Fassung wieder.

»Es ist entschieden!« rief er. »Dieser brave Mann,« und dabei näherte er sich dem alten Samuel und klopfte ihm vertraulich auf die Schulter, »gewährt mir auf Veranlassung des Herrn Fritz Scharf die Mittel, um damit zu beginnen. Ich konnte zögern, diesen Schritt zu tun, aber nun er getan ist, bin ich meiner vollkommen sicher. Nichts mehr wird mich erschüttern, und nun, lieber Herr Fränkel, an unser Geschäft!«

Während Herr Theodor Stork auf Samuel Fränkels Anliegen nach Papier und Feder suchte und in Anbetracht des Umstandes, daß die letzten Worte seines Schülers ihn in eine gewisse künstlerische Erregung versetzt hatten, diese prosaischen Dinge, die zu einem noch prosaischeren Zweck dienen sollten, lange nicht fand, benutzte Eduard die Pause, um durch die angelehnte Tür in das anstoßende Zimmer zu treten. Es war ein großer Raum mit geweißten Wänden; das, was Herr Theodor Stork sein »Atelier« zu nennen pflegte. Da standen rings umher noch die Gipsabgüsse, nach denen Eduard gezeichnet, an den Wänden hingen Reliefs nach alten Bildwerken und Medaillons von Köpfen, und auf den Stühlen und Staffeleien lagen Blätter und Kartons. Aber an all diesen Gegenständen ging Eduard rasch vorüber, um sich einem in die Wand gemauerten Schranke zu nähern, zu welchem er den Schlüssel aus der Tasche zog. Nichts war in dem Behälter als ein kleines Aquarellbild, welches er vor kurzem vollendet. Es stellte eine Mädchengestalt dar von ausnehmend graziösen Umrissen, schlank, zierlich, den anmutigen Kopf von einer Fülle dunkelblonden Haares umwallt. Sie trug ein weißes Kleid und schritt, freudigen Antlitzes, von der obersten Stufe einer Verandatreppe herab, irgendeinem Ungesehenen, Ankommenden entgegen. 131 Im Hintergrunde war eine jener märkischen Landschaften, wie man sie schon in der nächsten Umgebung Berlins findet – ein Wasser, etwas Grün, ein Kiefernwald mit sandigem Boden, und die Beleuchtung war die eines Sommertages. Mit großer Zärtlichkeit ruhte des Jünglings Blick auf dem kleinen Bilde. Er versetzte sich im Geiste zurück auf die verborgene Dachkammer des väterlichen Hauses. Ihm war, als ob mit der ganzen Seligkeit des Geheimnisses die eigenartige Lust und Schwüle jenes Verstecks wieder über ihn komme. Da war das Mittagslicht an den Wänden – der Ausblick in der blinden Scheibe – das Wasser – das Grün – der weite blaue Horizont – da war, was er gesehen und mehr noch geträumt – da war sie, die holde Unbekannte, deren Miniaturbild er dort oben eingeschlossen in dem Kästchen von rotem Samt gefunden hatte . . . »Geist meiner Jugend!« rief er, »Geist der Zukunft! Ich habe mein Wort gehalten . . .« Mit einem herzlichen »Lebewohl!« drückte er einen Kuß auf das Bild und hatte gerade noch Zeit, es zu zerreißen, bevor die Tür sich öffnete, durch welchen der Kopf des alten Samuel Fränkel sich steckte.

»Wo bleiben Sie denn, Herr Grandidier junior?« fragte er.

»Ich komme, ich komme,« sagte dieser, indem er sich an den Tisch setzte, auf welchem Papier, Feder und Tinte in bester Ordnung bereit waren.

»Ich bekenne hiermit,« schrieb er, »daß ich dem Herrn Fritz Scharf alles schulde, was – wenn die Fähigkeit jemals in mir gewesen – mich erst zum Künstler machen wird; und ich verspreche zugleich, daß ich, wenn ich einst heimkehre, keine Verpflichtung so heilig halten werde als diejenige, ihm zurückzuerstatten, was er mir so freigebig zur Verfügung gestellt hat, um meinen Weg zu bahnen!«

»Ein sonderbarer Schuldschein,« sagte Samuel Fränkel kopfschüttelnd, während Eduard sich von Herrn Theodor Stork verabschiedete, der selten so traurig gewesen war und selten so vergnügt ausgesehen hatte als in diesem Augenblick. »Aber,« fuhr Fränkel in seinem Selbstgespräch fort, indem er das Papier zusammenfaltete, »der Herr Oberst ist kein leichtsinniger Mann, und Herr Grandidier senior ist gut auch für mehr als diese Summe.« Er hatte trotzdem nicht die wahre Sabbatfreude, als er hinunterkam und die Suppe 132 aufgetragen ward. Er mußte immer an den alten Grandidier denken! Seine Frau blickte ihn besorgt an und fragte, was ihm fehle? »Ich habe keinen rechten Appetit,« sagte er, indem er die guten Dinge ansah, die auf dem Tische standen; »aber der liebe Gott wird helfen!« Und damit setzte er sich zum Essen nieder.

*

An demselben Abend und fast zu derselben Stunde, wo der Pariser Nachtzug sich aus dem Anhaltischen Bahnhof entfernte, traf ein Brief von Eduard ein zu Neu-Kölln am Wasser, an seinen Vater adressiert und diesem in kurzen, aber ehrerbietigen Worten seine Flucht sowie das Motiv derselben mitteilend.

Herr Grandidier ward bleich, als er die Handschrift seines Sohnes erkannte, und er warf den Brief zu Boden, nachdem er kaum die ersten Zeilen gelesen.

»Wir haben keinen Sohn mehr,« sagte er nach einer Pause, während welcher er nach Fassung gerungen und seine Gemahlin ihn forschend angesehen hatte. »Wir haben unseren Sohn verloren!«

»Um Gottes willen!« rief die Mutter, welcher dieses Wort die Brust fast zusammenschnürte, »was ist ihm geschehen? Was ist ihm geschehen?«

»Ihm?« erwiderte Herr Grandidier bitter, »ihm? Nichts! Aber uns! Luise Dorothea, du hast keinen Sohn mehr!«

Die gute Frau atmete erleichtert auf. »Er lebt?« rief sie.

Da stieß Herr Grandidier ein kurzes, verächtliches Lachen aus. »Ob er lebt! Er wird jetzt erst anfangen zu leben, er wird ein Herrenleben führen . . . er wird . . . er wird . . . oh, mon Dieu, mon Dieu! Er hat das Elternhaus verlassen . . . er hat sich aufgelehnt gegen seinen Vater, er hat ihm den Gehorsam gekündigt . . . er ist auf dem Wege nach Paris!«

Der arme Mann war tief erschüttert, und seine erste Empfindung war die einer furchtbaren Kränkung – Kränkung noch mehr als Schmerz. Er hätte den Schmerz leichter ertragen als diesen Trotz, der sich gegen seinen Willen gesetzt. Es war das erstemal in seinem Leben, daß er auf einen ernsten Widerstand gestoßen, auf einen Widerstand, den er zu brechen nicht vermocht. Und es war sein Sohn, sein Sohn!

Aber Frau Grandidier fühlte sich von einer entsetzlichen Angst befreit. Sie hatte nach dem ersten plötzlichen Anlauf 133 ihres Mannes das Ärgste befürchtet. Und nicht erst seit diesem Augenblick. Sie hatte davor gezittert, die Bestätigung dessen zu vernehmen, was ihr lange schon wie ein drohendes Unheil aus der Ferne vorgeschwebt. Sie kannte den Sohn besser als ihr Mann. Sie hatte mit steigender Unruhe beobachtet, wie das ursprünglich so heitere Gemüt desselben sich allmählich verdüstert und immer mehr in sich selbst verschlossen hatte. Die Entfremdung zwischen Vater und Sohn lastete mit doppelter Schwere auf ihr, weil in ihrer einfachen, schlichten Weise ihre Teilnahme nur den Personen gehörte, und dem, was sie trennte, fremd blieb. Sie konnte die Sache nur äußerlich erfassen, als etwas vom Schicksal Verhängtes, etwas Willkürliches; aber es verursachte ihr darum nicht weniger Pein. Sie hatte wohl einen Instinkt für das Unrecht, welches der Vater dem Sohn tat, aber – an Autorität gewöhnt von Jugend auf – wie hätte sie hier handelnd eingreifen können? Und wenn sie's gewollt, wo hätte das Mutterherz, das nichts als Liebe besaß, ein Mittel zur Ausgleichung solcher Gegensätze gefunden? So sah sie den Konflikt reifen und die Dinge gehen – unaufhaltsam, immer unaufhaltsamer, heftig von der einen, dumpf und verborgen von der anderen Seite – der Zusammenstoß konnte nicht ausbleiben, ein gewaltsamer Bruch, vielleicht eine gräßliche Entscheidung . . . Aus dem Grund ihres Herzens rief sie daher, die Hände faltend: »Gott sei gedankt und gelobt, daß er lebt, daß er sich nicht ins Wasser gestürzt . . .

Aber trübe vor sich hin sagte Herr Grandidier, nicht aufbrausend wie sonst, sondern viel ruhiger: »Ich wollte, daß er es getan hätte. Es wäre vielleicht besser für ihn gewesen und besser für mich . . .«

Entsetzt bei dieser Äußerung erhob sich Frau Grandidier. Sie wollte ihm sagen, daß er sich gegen Gott versündigt habe, sie wollte ihn beschwören, zurückzunehmen, was sie eben gehört . . . doch das Wort erstarb ihr auf den Lippen. Der starke Mann bebte, wie wenn ein innerlicher Frost ihn schüttle. Dabei war sein Gesicht ganz blaß. »George, George!« rief sie, von unaussprechlichem Mitleid ergriffen, und streckte beide Arme nach ihm aus.

Doch sanft wies er sie von sich zurück. Langsam, schwankenden Schrittes ging er zu einem Sessel, ließ sich in demselben nieder, stützte beide Ellbogen auf den Tisch und drückte die 134 Stirn in die Hände. Beklommen folgte Frau Grandidier jeder seiner Bewegungen. Jetzt sah sie, wie Tränen ihm zwischen den Fingern durchliefen. Dieser Anblick schnitt ihr ins Herz. Aber sie wagte nicht zu sprechen, sie konnte nicht sprechen. Es war etwas Ehrfurchtgebietendes in diesem Ausdruck des Schmerzes. So stand sie neben ihm schweigend.

»Und ich habe ihn so lieb gehabt,« begann er nach einer Weile halblaut, mehr zu sich selber sprechend als zu seiner Frau. »Er war ein so schöner Junge . . . sein Auge so hell, sein Haar so lichtbraun – ich sehe ihn noch vor mir wie an einem jener Nachmittage, wo er mit mir ging, Hand in Hand – wenn es Frühling ward – wenn die Sonne schien – wenn die Glocken läuteten . . . mein Sohn, mein Sohn!« und er konnte nicht weiter vor Schluchzen.

»Grandidier,« sagte seine Frau, »du sprichst von ihm, als ob er nicht mehr lebte. Doch er lebt! Er wird zurückkehren . . .«

Herr Grandidier hatte nicht gehört oder wollte nicht hören, was seine Frau gesagt.

»Wie leuchtete sein Antlitz, wenn er mit mir so dahinging! Und wie er mich verstand! Wie er lauschte mit seinem klugen Blick! Oh, ich habe den Knaben zu lieb gehabt . . . lieber als seine beiden Schwestern, darum ward er mir entrissen.«

»Aber er ist dir ja nicht entrissen worden,« tröstete ihn seine Frau, »du wirst ihn wiedersehen.«

Herr Grandidier erwiderte nichts auf das Zureden seiner Frau. »Ich habe ihn zu lieb gehabt, und der Mensch soll nichts so lieb haben auf Erden, was er verlieren kann. Nein, er soll es nicht – und das ist meine Strafe. Doch Gott hat es gewollt, und durch, immer gerade . . .« Er konnte den gewohnten Satz nicht vollenden. Er sank in sich zusammen. Der alte Grandidier wollte noch einmal aufbrausen, doch er war seit diesem Abend der alte Grandidier nicht mehr.

»Grandidier,« sagte seine Frau ernst, »du forderst das Schicksal heraus. Bedenk, es kann eine Zeit kommen, was Gott in seiner Gnade verhüten wolle, wo das wirklich ist, was du dir jetzt nur einbildest. Wie willst du es dann ertragen?«

Herr Grandidier stand auf. Kein zorniges oder übereiltes Wort kam mehr aus seinem Munde. »Mein gutes Weib,« sagte er, indem er ihr herzlich die Hand drückte, »habe 135 Nachsicht mit mir. Ich werde mich bald wieder gesammelt haben. Ich will einen Augenblick allein bleiben. Ich muß es allein in mir durchmachen.«

Er entfernte sich, und mit Tränen in den Augen sah Frau Grandidier ihn gehen. Doch er kam nicht weit. In dem anstoßenden dunkeln Zimmer hörte sie ihn auf das Sofa niedersinken. Es beruhigte sie, ihn in ihrer Nähe zu wissen. Sie lauschte; doch blieb alles still. Dann kehrte sie zu ihrem Sessel zurück und nahm den Brief Eduards auf, der noch am Boden lag.

Es schlug zehn von den benachbarten Türmen. Stille ward es in den Zimmern, in dem Hause, das gestern noch so voll von Lichtern und Fröhlichkeit gewesen. Frau Grandidier hatte nur einen unruhigen und schweren Schlaf; sie wachte oft auf und überzeugte sich, daß ihr Mann noch gar nicht geschlafen habe. Immer wieder hörte sie ihn tief seufzen, und in ihrem Halbschlummer war es ihr mehrmals, als ob er riefe: »Eduard! Eduard!« 137

 


 


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