Julius Rodenberg
Die Grandidiers
Julius Rodenberg

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Fête du Refuge

Inzwischen war die gute Jahreszeit vergangen. Vorüber waren die sonnigen und milden Tage, welche so schön in Berlin sind, wenn sie die Rasenflächen und Alleen und Inseln und Teiche des Tiergartens bald in einen feuchten Duft verschleiern, bald noch einmal aufleuchten lassen in goldener Herrlichkeit. Wer dann zurückkehrt von der Reise, das Herz voll von dem Zauber der reicher gesegneten Fremde, den wird fast wehmütig ergreifen dieses letzte Lächeln unserer Mutter, der Heimat, und wer sie gar nicht verlassen konnte, der vergißt alle Mühsal des Sommers bei diesem Abschiedsblicke, welcher zu sagen scheint: »Wir haben uns dennoch lieb.« Dann welken in den kleinen Vorgärten die letzten Blumen des Sommers, die Levkoien und Astern und Bohnenblüten und herbstlichen Winden am Spalier. Der wilde 248 Wein malt sich röter von Tag zu Tag, das Grün fängt an zu gilben, und bunte Blätter hängen in den Bäumen. Dann tritt plötzlich ein Witterungsumschlag ein. Er bringt den Regen und den Wind, welcher die Zweige rasch kahl fegt und das dürre Laub auf den vereinsamten Wegen fortwirbelt. Stille wird es nun draußen; das Leben zieht sich wieder in die Stadt zurück und erfüllt die Straßen mit seinem Lärm und Gepolter und rastlosem Wesen von früh bis spät und noch die halbe Nacht hindurch. Die Tage werden kurz, und es wird eigentlich zu keiner Stunde mehr hell, mit Ausnahme des Abends, wenn in den Straßen, vor den Häusern, von einem Ende von Berlin bis zum anderen Tausende von Laternen, und drinnen in den Häusern, in Tausenden von Läden, Kellern, Sälen, Stuben, Dachkämmerchen die Lichter brennen.

Unter den spätesten Sommergästen, welche um diese Zeit heimkehren, war, wie gewöhnlich, so auch in diesem Jahre die Familie Süchier.

Wenn es auf Herrn Süchier angekommen wäre, so würde er vielleicht noch länger ausgeblieben sein. Nicht aus übertriebener Sucht, den vornehmen Mann zu spielen. Keine Rede davon bei Herrn Süchier, wenngleich er es wohl gekonnt, und der, wenn er ausfuhr, und wär's auch nur, um eine von den Restaurationen oder einen von den Kaffeegärten vor dem Potsdamer Tor zu besuchen, seine zwei Braunen vor dem Wagen und seinen Kutscher auf dem Bock hatte so gut wie einer. Für alles, was dazu beitrug, ihm und seiner Frau das Dasein angenehm zu machen, besaß er Sinn und Geschmack; aber es fiel ihm nicht ein, daß man damit Staat machen könne, vielmehr vermied er es. Er war ein bequemer, gutmütiger, einfacher Mann, aber im Geschäft unermüdlich auf seinem Platze, und das war auch der Grund, weshalb er sich im Herbste so schwer von seinem Landaufenthalt in Schlesien trennen konnte. Dort war seine Fabrik, zu welcher, außer einem ganzen Dorf von Webern und Spinnern, ein kleiner Park und ein kleines Schloß (welches aber Herr Süchier beileibe nicht so genannt haben würde, er sprach immer nur von einem Haus) und viele, viele große Wälder und Äcker gehörten. Dort verlebten Herr und Frau Süchier den Sommer, und dort empfingen sie, regelmäßig in jedem Jahr im Juli, wenn die 249 Gerichts- und Schulferien begonnen hatten, den Besuch des Herrn und der Frau Kanzleirat mit sämtlichen Kanzleiräten in spe, trotzdem die Frau Kanzleirat regelmäßig, in jedem Jahre, behauptete, sie halte es nicht länger aus, zu sehen, an welche Menschen die Güter dieser Welt verteilt seien, welche Menschen die schönen Häuser, die Gärten und die Bedienten hätten, und welche nicht; welche Menschen in den prachtvollen Wagen fahren könnten und welche Menschen zu Fuße gehen müßten. Worauf der Herr Kanzleirat erwiderte: »Liebe Frau, sie haben das Vergnügen und wir haben die Ehre. Beides zusammen hat man selten; aber wenn du zu wählen hättest, liebe Frau – ich kenne dich! Du würdest abermals die Ehre und den Kanzleirat wählen!«

So tief in den Herbst hinein Herr Süchier seinen Aufenthalt in Schlesien ausdehnen mochte, am 28., höchstens am 2. Oktober mußte er wieder in Berlin sein; so war es seit manchem Jahr gewesen, und so war es auch heut, am Abend des 29. Oktober 1869.

Und ein unfreundlicher Abend war es; ein Abend, an welchem Sturm und Regen um die Wette miteinander rangen, bald der eine gegen die Fenster klatschte, bald der andere durch die Ofenröhren fuhr, und bald beide zusammen einen solchen Spektakel machten, als ob sie versuchen wollten, wer von ihnen es am längsten aushalte.

Um so behaglicher war es in dem kleinen, schmucken Zimmer, in welchem Süchier vor dem Kamin stand, sich vergnüglich die Hände reibend. Die Aussicht auf eine gut gedeckte Tafel und ein wohlgefülltes Glas versetzten ihn immer in diese Stimmung; denn von einer soziablen Gemütsart war Herr Süchier, und er wußte, daß Papa Grandidier neulich einen Vorrat von trefflichem Rauentaler bekommen hatte. Rauentaler war nämlich der Lieblingswein des Herrn Süchier. Er war, wie die Sitte des Abends erheischte, in vollem Gesellschaftsanzug. Das Weiß seiner Halsbinde und seiner Manschetten leuchtete mit einer Art von festlicher Freude gegen das tiefe Schwarz seiner Kleidung. Der ganze Mann glänzte sozusagen von innen heraus. Die massive Bouleuhr, die friedlich auf dem mit braunem Samt ausgeschlagenen Kaminsims tickte, zeigte fünf Minuten vor sieben. »Es soll mich wundern,« murmelte er vor sich hin, 250 »ob sie zur rechten Zeit fertig sein wird.« Allein selbst dieses Wort des Zweifels hatte noch etwas Vergnügtes an sich, als ob er entschlossen sei, komme, was da wolle, sich nicht aus seiner Laune bringen zu lassen.

Er ging ein paarmal in dem traulichen Zimmer auf und ab. Es war ein Zimmer zu ebener Erde in seinem Hause in der Stralauer Straße, in welcher Färber und Drucker und Produktenhändler seine Nachbarn waren. Er hätte, wenn er es gewollt, so gut wie mancher andere, und noch besser, eine Villa im Tiergarten haben können; aber er konnte sich nicht entschließen, dieses Haus in der Stralauer Straße zu verlassen. Er hatte es von seinen Vätern ererbt, die alle darin gelebt hatten und glücklich gewesen und reich geworden waren.

Außerdem hatte er es hübsch renovieren lassen und mit allem »Komfort der Neuzeit«, wie man in Berlin sagt, ausgestattet. Er war kein Freund von überflüssigem Prunk und Luxus, die ihn vielmehr genierten; von Gold und Glanz an allen Wänden, von Stuck und Marmor auf Treppen und Fluren, welche, nach seiner Meinung, eines guten Bürgers Wohnung ungeheuer »ungewöhnlich« machten und nur dazu dienten, die Fremden in Erstaunen zu versetzen und ihnen in der aufdringlichsten Weise zuzurufen: »Seht doch, was für ein Mann ich bin!« Im Gegenteil, er wollte für die Fremden nicht mehr tun, als er für sich selber tat, und er liebte die Gemütlichkeit über alles. Dicke Teppiche, die jeden Schall und jeden Fußtritt dämpften, waren im ganzen Hause; schwere Portieren und Vorhänge von wenig auffälligem, aber gutem Stoff bekleideten die Türen und Fenster bis an den Boden und gaben dem Innern, namentlich zur Winterszeit und am Abend, etwas ungemein Behagliches. Der braune, weiche Ton von Tapeten, Möbeln und Decken im Wohnzimmer kontrastierte gefällig mit dem Mattgrün des anstoßenden und dem Dunkelrot des dritten Zimmers, welches die Flucht abschloß, und alle drei waren freundlich erleuchtet, angenehm erwärmt, und durch alle drei setzte Herr Süchier seinen Spaziergang fort, bis der seine Schlag der Kaminuhr ihm verkündigte, daß es sieben sei. Zugleich hörte er, daß draußen der Wagen vorfuhr. Denn wiewohl das Haus des Schwiegervaters so nahe lag, daß man es aus dem Hintergarten des seinigen über die Spree hinweg sehen 251 und über die nächste Brücke in weniger als drei Minuten erreichen konnte, so war heute abend doch kein Wetter für eine Dame in Toilette.

Wenn sie nur erst damit fertig wäre, dachte er, indem er die Türe öffnete und hinauslauschte. Doch nichts regte sich. Zwei Gasflammen, welche in großen, mattgeschliffenen Kristallglocken brannten, erhellten mit einem ganz gleichmäßigen Lichte den Flur und die Treppe, deren Stufen mit einem weißen, rotgeränderten Teppich belegt waren. »So ist sie nun!« sagte er, indem er mit einer kleinen Anwandlung von Verdruß sein Ohr zur Seite neigte. »Doch so werden sie wohl alle sein!« fügte er gleich hinzu, um sich zu begütigen, und trat hinaus. »Berta!« rief er; »Bertchen! Liebes Herz! Es ist schon fünf Minuten über sieben – und der Wagen wartet!«

In diesem Augenblick aber, statt der gehofften Antwort von oben, ward die Hausglocke mit einer solchen Gewalt in Bewegung gesetzt, daß Herr Süchier unwillkürlich zusammenfuhr; und ehe er noch Zeit fand, sich zu sammeln, oder den Bedienten, der aus dem Souterrain kam, zur Eile anzutreiben, wiederholte sich das Schellen, und zwar noch stärker als zuvor, und jetzt, fast ohne abzusetzen, zum drittenmal. Herr Süchier ward ganz blaß vor Schrecken. »Wenn es nur keine telegraphische Depesche ist!« rief er, denn wenn er im allgemeinen auch nichts gegen telegraphische Depeschen einzuwenden hatte, so liebte er sie doch nicht, wenn er zu Tisch gehen wollte.

Kaum war die Klinke gehoben, so flog die Haustür auf, und ein Windstoß, der wohl nur auf die Gelegenheit gewartet, fuhr herein und ein Regenguß folgte, und hierauf ein Regenschirm und hinter diesem eine menschliche Gestalt, die Gestalt eines Mannes, welcher den Hut so tief über die Stirne gedrückt und den Kragen des Paletots so hoch über das Kinn gezogen hatte, daß von dem ganzen Gesicht nichts mehr zu sehen war als die Nase. Jedoch sie genügte.

»Mein Himmel!« rief Herr Süchier – sein erster Eindruck war der der Erleichterung, daß es keine Depesche war – »sind Sie es wirklich, Herr Fritz Scharf . . .?«

Ohne zu antworten oder auf eine Einladung zu warten, gab der Ankömmling zuerst seinen triefenden Schirm, dann den triefenden Hut und zuletzt seinen ebenfalls triefenden Überrock dem Diener, der nicht recht wußte und aus den 252 Mienen seines Herrn nicht recht erraten konnte, was er damit beginnen solle.

Doch der Oberst, der in all seiner Glorie nun vor Herrn Süchier stand, besaß die Gabe, sich und anderen über die Schwierigkeiten des Anfangs rasch hinwegzuhelfen. Er hatte Herrn Süchier seit Jahr und Tag nicht mehr gesehen und war trotz des gegenseitigen Wohlgefallens, welches sie beim ersten Begegnen aneinander gefunden, nur selten in dessen Haus gekommen. Denn eine große Entfremdung hatte sich doch geltend gemacht, als man erfahren, in welchem Zusammenhang der Oberst mit der Flucht Eduards stand. Freilich dachte Herr Süchier über dieses Ereignis nicht so hart als sein Schwiegervater; allein es war und blieb ein unangenehmer Gegenstand, über den man sich allerseits eine Art von konventoniellem Stillschweigen gelobt zu haben schien; was Herrn Süchier auch das vernünftigste dünkte. Denn er war ein Mann, der die Ruhe liebte, besonders wenn an den Dingen doch nichts zu ändern war. Man kann sich daher denken, wie sehr er sich über die plötzliche Erscheinung freute. Der Oberst, in diesem Moment, war fast noch schlimmer als eine telegraphische Depesche.

»In dieser Witterung sind Sie gekommen?« sagte Herr Süchier; »und nicht einmal in einer Droschke?« Wobei er mit den Augen den Spuren folgte, welche des Obersten Ankunft auf dem Flurteppich zurückgelassen.

»Wo werde ich mich in eine Berliner Droschke setzen, wenn ich einer Angelegenheit komme, die keinen Aufschub erduldet?« erwiderte der Oberst, indem er mit der ihm eigentümlichen rechteckigen Bewegung in die Brusttasche griff, die seine Geheimnisse barg, aber so viel davon und in solcher Unordnung, daß er jedesmal, wenn er etwas suchte, das ganze Arsenal auskramte – die rote Brieftasche, verschiedene quittierte Rechnungen, ein Paar Handschuhe, sorgfältig in Papier gewickelt, diverse Briefe von politisch kompromittierten Persönlichkeiten, mehrere Zeitungen in neugriechischer und rumänischer Sprache – zuletzt fand er das richtige Blatt, welches er dem Herrn Süchier entgegenhielt. Es war eine telegraphische Depesche.

Eine telegraphische Depesche und der Oberst – das war vielleicht zuviel für Herrn Süchier. Er wandte sich unwillig ab.

»Sie verlangen doch nicht, daß ich sie lesen soll? Der 253 Wagen steht vor der Tür, wir sind im Begriff, in eine Gesellschaft zu fahren . . .«

»Um so besser,« sagte der Oberst. »Sie sehen, wie wohl ich tat, mich nicht auf eine Droschke zu verlassen. In weniger als zwanzig Minuten bin ich von der Krausenstraße hierhergelaufen – und da bin ich. Scharf! habe ich zu mir gesagt, das ist keine Nachricht, die du für dich allein behalten darfst; der erste, der das auf der Stelle wissen muß, ist mein Freund Süchier –«

Die gute Laune des Herrn Süchier drohte, ganz gegen seinen Willen, wiederzukehren. »Mein Freund Süchier!« rief er, zwischen Ärger und Lachen kämpfend; »das ist gut, das ist sehr gut!«

»Mein Freund Süchier,« wiederholte der Oberst, »und seine Frau, Berta Süchier.«

»Wenn Sie nur nicht so laut sprechen wollten, mein lieber Herr Scharf,« sagte der ängstliche Mann, dem auf der Welt nichts so zuwider war als eine Szene; »Sie bringen mir ja das ganze Haus in Aufruhr. Wissen Sie was? Treten Sie mit mir in eines dieser Zimmer . . .«

Aber des Obersten Aufmerksamkeit war schon auf einen anderen Punkt gerichtet. Oben auf der Treppe, von ihrem Gemahl unbemerkt, war Frau Süchier in voller Toilette erschienen, und es ist schwer zu sagen, ob Neugier, zu hören, was unten vorgehe, oder die früher ihr zuteil gewordene Ermahnung sie so rasch – was man in einem solchen Falle rasch nennen kann – damit hatte zustande kommen lassen. Sie sah reizend aus. Aus der dunklen Umhüllung, die sie noch nicht fest geschlossen, schimmerte das Blau ihres Gewandes, und die Kapuze, die sie über den Kopf gezogen, umrahmte mit weichem Flaum das Oval ihres Antlitzes.

»So habe ich mich nicht getäuscht,« sagte sie, indem sie sich leicht und anmutig über das Treppengeländer neigte;»ich habe Sie gleich an Ihrer Stimme erkannt. Wer auch,« fügte sie mit einem gewissen koketten Spott hinzu, »hätte diese Stimme des Herrn Obersten einmal gehört und könnte sie jemals wieder vergessen?«

»Das will ich meinen,« schmunzelte der Oberst und ging, indem er sich den Schnurrbart strich, der schönen Frau entgegen, welche, das Kleid ein wenig hebend, über den weichen Teppich die Stufen zierlich herniederstieg.

254 »Guten Abend, Herr Scharf,« sagte sie und streckte dem Obersten die feine, weißbehandschuhte Hand entgegen, wobei sich ihr schöner, voller Arm einen Augenblick sehen ließ.

»Frau Berta Süchier,« erwiderte der Oberst ihren Gruß, »ich bin sehr froh, daß ich Sie noch zu Hause getroffen habe.«

Sie ging ihm ins Zimmer voran.

»Und was verschafft uns die – ich will ganz aufrichtig bekennen – so ganz unerwartete Ehre Ihres Besuchs?«

Statt jeder Antwort reichte der Oberst ihr die Depesche.

Das Blatt zitterte fast unmerklich in ihrer Hand, als sie es nahm.

»Es steht doch nichts Unangenehmes darin?« fragte sie mit einem leisen Schwanken in der Stimme, als ob sie sich vor etwas fürchte, was sie allenfalls von sich abwenden könne.

»Berta!« sagte der Oberst, fast vorwurfsvoll, »wenn ich es Ihnen bringe!«

Herr Süchier hatte tapfer gegen eine gewisse Versuchung angekämpft, der er, wie er aus Erfahrung wußte, zuweilen ausgesetzt war. Er hatte getan, was ein Mann in seiner Lage tun kann. Er rief alle möglichen ernsten oder traurigen Vorstellungen zu seiner Hilfe, vergegenwärtigte sich Unglücksfälle, die ihn in der Vergangenheit betroffen hatten und in der Zukunft noch einmal betreffen konnten; ging mit sich ins Gericht und fand sich schuldig; tat ein Gelübde, dem ersten besten armen Manne, der ihm begegnen würde, fünf Silbergroschen zu schenken – doch umsonst! Heraus wollte es und heraus kam es – ein Anfall von Gelächter, ein so außerordentliches Gelächter, daß Herr Süchier selbst davor erschrak und einen Augenblick stille ward.

»Berta!« rief er, »er nennt sie Berta – Berta, schlichtweg Berta, Berta . . .« Und da Geschehenes nicht mehr ungeschehen zu machen war, so tat er sich auch weiter keinen Zwang mehr an, sondern lachte, bis ihm Tränen über die Wangen liefen und sein ganzes Gesicht rot war.

Aber die Strafe blieb nicht aus; ein so böser Blick – allerdings aus den schönen braunen Augen seiner Gemahlin, und ein so vorwurfsvoller Ausruf: »Süchier! Süchier!« daß er ganz zerknirscht zurückwich, zuerst in das grüne Zimmer, dann in das rote Zimmer, bis in die alleräußerste Ecke desselben, wo er in dem allerletzten Sessel Platz nahm, um sich in der Verborgenheit Vorwürfe zu machen und dazwischen immer 255 wieder auszurufen: »Er nennt sie Berta – Berta schlichtweg – er ist doch ein ganz famoser Kerl!«

Inzwischen hatte sich Frau Süchier dem Tische genähert und hielt das Blatt, das noch immer in ihrer Hand zitterte, gegen das Licht. Doch kaum, daß sie den Inhalt desselben überflogen hatte, so bemächtigte sich ihrer eine heftige Bewegung, von der es schwer zu sagen gewesen wäre, ob es Schmerz sei oder Freude – das Papier glitt aus ihren Fingern auf die Tischplatte herab, und mit lautem kurzem Aufschrei entrang sich ihrer Brust der Ruf: »Eduard! Eduard!« So fremd klang ihr selbst der Name, da er zum erstenmal wieder über ihre Lippen kam, wie von etwas Verlorenem, Totgeglaubtem, das nun plötzlich wieder da ist. Das Herz der Schwester, welches so lange geschwiegen oder so lange hatte schweigen müssen, brach sich unaufhaltsam Bahn. Sie tastete noch einmal nach dem Blatte, doch sie konnte es nicht finden, vor Tränen – sie schwankte nieder in einen Sessel, beugte den Kopf auf den Tisch und begann laut zu weinen.

Kaum daß Herr Süchier dies von weitem vernahm, so war er wieder auf dem Platze. Denn er war auch von einer außerordentlich weichen Gemütsart; und wenn er es nicht vermochte, seiner eigenen Fröhlichkeit Herr zu werden, wenn sie gerade über ihn kam, so vermochte er noch viel weniger standhaft zu bleiben, wenn seine Frau weinte. Dies überwältigte ihn jedesmal. »Bertchen!« rief er, indem er aus seinem Versteck zum Vorschein kam, »liebes Bertchen, einziges Bertchen, wer hat dir etwas getan? Willst du es mir denn nicht sagen – Berta, liebe Berta . . .« Plötzlich, mit einem Blick auf den Obersten, welcher ernst und unbeweglich dastand, hielt er an sich und setzte dann mit einem schwachen Lächeln hinzu: »Sie werden entschuldigen, Herr Scharf, wenn ich meine Frau ›Berta‹ nenne . . .«

Dieser aber verzog keine Miene, sondern wies, streng wie das Schicksal, auf die Depesche hin, welche sie mit ihrem Arme halb bedeckte.

»Ja so!« sagte Herr Süchier, der, sich rasch besinnend, mit der Hand durchs Haar fuhr. Aber er zögerte dennoch, das Blatt aufzunehmen. Tausend Möglichkeiten standen vor ihm, keine von ihnen sehr erbaulich, aber jede mit der Gewißheit in sich, daß dieser Abend auf dem besten Wege sei, höchst ungemütlich zu werden. »Warum schreiben die Leute nicht 256 lieber?« rief er ärgerlich, als ob ihm persönlich ein großes Unrecht widerfahren sei, »warum müssen und müssen sie telegraphieren, auch wenn ein Brief dieselben Dienste tun würde? Doch es gibt solche Leute, ich kenne solche Leute . . .« Und dann, mit dem Ausdruck des Mannes, der sich in das Unvermeidliche fügt, zugleich aber geleitet von einer dunklen Vorstellung, als ob Unangenehmes auf Umwegen etwas weniger unangenehm werde, wandte er sich an den Oberst mit den Worten: »Lesen Sie!«

Der Oberst nahm hierauf das Papier, brachte es in die gehörige Distanz von seinen Augen und sprach mit einer Stimme, die gut genug gewesen wäre für einen richterlichen Bescheid oder einen Armeebefehl:

»Scharf, Krausenstraße, Berlin. Ich komme heute abend mit dem Kölner Schnellzug, und mein erster Weg ist in mein Elternhaus.

Eduard Grandidier.«

Herr Süchier wurde bleich. Sein erster Gedanke war, aufzuwallen. Aber wie von dem Klange des lange nicht mehr gehörten Brudernamens geweckt, fuhr seine Gemahlin auf und warf sich an die Brust des Gemahls, als ob sie da vor ihrer inneren Bewegung Schutz suchen oder sie ihm mitteilen wolle. »In mein Elternhaus,« flüsterte sie mehrere Male leise, doch so, daß er es deutlich hören, ja beinahe fühlen konnte; denn sie zitterte heftig am ganzen Körper. Er umschlang sie mit den Armen, und sie richtete nun das verweinte, aber immer noch so hübsche, rosige Antlitz zu ihm empor. Wie ein Sonnenstrahl flog es darüber hin, eine Träne noch hing an den Wimpern, und ihre lieblichen Lippen bebten. »Teure Berta!« sagte Herr Süchier, und indem das blühende Weib sich an ihn schmiegte, begegnete sein Mund zärtlich und treuherzig dem ihrigen.

»Das ist brav!« rief der Oberst vergnügt.

Aber der muntere Fabrikant, der sich jetzt auch in die Situation gefunden, erwiderte: »Sie werden entschuldigen, Herr Scharf, daß ich meiner Frau einen Kuß gegeben habe.«

Alle lachten.

»Es war das Beste, was Sie unter den Umständen tun konnten,« sagte der Oberst. »Aber lassen Sie uns nicht länger zögern, damit wir zur rechten Zeit an Ort und Stelle sind.«

»Wie! Sie wollten uns begleiten?« brachte nun Herr Süchier doch ein wenig bänglich hervor.

257 »Freilich, ich war Zeuge des Abends, an welchem Eduard Grandidier den Entschluß faßte, das Elternhaus zu verlassen, ich habe mir darum vorgenommen, auch an dem Abend nicht zu fehlen, an welchem er in das Elternhaus wieder zurückkehrt.«

»Aber Sie kennen doch meinen Schwiegervater!«

»Ich kenne ihn; aber ich fürchte ihn nicht.«

»Nun, so mag Gott uns in Gnaden bewahren,« sagte Herr Süchier, indem er an der Schelle zog, worauf sogleich der Diener erschien, um die Türe zu öffnen.

Eine scharfe Luft wehte ihnen entgegen, als sie hinaustraten und in den Wagen stiegen. Der Regen hatte aufgehört, der Wind sich nach Nordost gedreht; er trieb mit eisigem Hauche die Wolken vor sich her und trocknete den Boden, über welchen mit klirrendem Hufschlag alsbald die Pferde dahinflogen.

Das alte Haus in Neu-Kölln am Wasser war festlich erleuchtet; denn man feierte darin, wie an diesem Abend in allen anderen Häusern der französischen Kolonie zu Berlin, die sogenannte »Fête du refuge«, zum Andenken an den 29. Oktober 1685, an welchem Tage der Große Kurfürst das berühmte Edikt von Potsdam erlassen und den heimatlosen Hugenotten eine sichere und freie Aufnahme in allen Landen und Provinzen seiner Herrschaft dargeboten hatte. Dieser Erinnerungstag wird noch immer, nach fast zweihundert Jahren, als Stiftungsfest der Kolonie in hohen Ehren gehalten. Die Prediger gedenken seiner, wenn er nicht selbst auf einen Sonntag fällt, am vorhergehenden Sonntage in den französischen Kirchen Berlins, die Schulen haben frei, die Kinder in den Waisenhäusern werden festlich gespeist, Sammlungen für die Armen finden statt, Gastmähler für die Wohlhabenden, und in Herrn Grandidiers Hause war man niemals hinter dieser ehrwürdigen Sitte der Kolonie zurückgeblieben. Streng, wie er an dem Glauben und den Überlieferungen seiner Väter hing, und ein wenig altmodisch in solchen Dingen, hatte er immer verlangt, daß an diesem Abend alle seine Kinder und Familienangehörigen um ihn versammelt seien; denn er sang das alte Lied der Kolonie, welches bei dieser und jeder anderen Festlichkeit gesungen wird, das berühmte

»Où peut-on être mieux,
Qu'au sein de sa mamille -
«

258 nirgends lieber als in seinem eigenen Hause, umgeben von den Seinen. Es war dies daher stets ein Familienfest gewesen von ganz besonders altväterischem Charakter, und obwohl es nicht in der Bibel stand, doch erfüllt von biblischem Geiste, welcher nichts so eindringlich predigt als Ehrfurcht vor den Eltern, Liebe zu den Kindern, Eintracht untereinander und Dankbarkeit für das Glück, welches ein solches Beisammensein gewährt.

Als Frau Süchier in das hell erleuchtete Gesellschaftszimmer eintrat, waren Schwester und Schwager Kanzleirat schon anwesend. Sie saßen steif und feierlich auf zwei Stühlen mit geraden Lehnen und zwischen ihnen, in dem herkömmlichen Lehnsessel, saß die Mutter in einem schwerseidenen Kleide. Doch Berta, strahlend von dem Geheimnis, welches ihre Lippen nur mühsam bewahrten, flog auf den Vater zu. Er schien milder und ruhiger gestimmt, als man ihn lange zuvor gesehen. Eine gewisse Resignation und Abspannung war auf seinem Gesichte wahrzunehmen. Seine Enkel und der kleine George von nebenan, Helenens Sohn, waren dagewesen und er hatte ihnen zusammen die Geschichte dieses Tages erzählt. Der kleine George hatte mit flammenden Blicken zugehört und mehrmals während der Erzählung: »Ha, les scélérats!« ausgerufen, wenn von den Verfolgern, und: »Oh, ces pauvres!«, wenn von den Verfolgten die Rede gewesen war; wobei die drei kleinen Kanzleiräte sich gegenseitig anstießen und kicherten.

Als Herr Grandidier den Auszug der Hugenotten aus der Heimat und ihre Wanderung nach Berlin schilderte, wo der Große Kurfürst gleichsam als ihrer aller Vater sie aufgenommen, da rollten Tränen über die Bäckchen des fremden Knaben, während die drei Berliner Jungen ganz lustig an den Äpfeln kauten, welche die Großmama ihnen gegeben. Der Großvater bemerkte ihre Gleichgültigkeit und tadelte sie deswegen, worauf aber der Älteste sofort erwiderte: »Na, so was! Das ist ja schon solange her!« Endlich schlug der Großvater vor, mit ihnen nach der Brücke zu gehen, wo er ihnen das Denkmal zeigen wollte. Doch auch dazu hatten sie keine Lust. »Das können wir alle Tage sehen,« meinten sie. Mit Dunkelwerden verabschiedeten sich die Kinder. »Ich weiß nicht, was ich mit ihnen machen soll,« hatte Herr Grandidier zu seiner Frau gesagt; »ich gebe mir alle Mühe mit ihnen, 259 aber es schlägt nicht an. Es ist in ihnen kein Tropfen vom Blute der Grandidiers.«

Er war nicht heftig geworden, wie früher bei solchen Anlässen, sondern eher still und nachdenklich; und so traf ihn seine Tochter am Abend.

»Vater!« rief sie, indem sie ihn stürmisch umarmte, »wer kommt! Wer kommt!« – Aber plötzlich sich besinnend, fuhr sie zurück und legte die Hand auf den Mund.

Indessen hatte sich die Tür wieder geöffnet, und in derselben präsentierte sich der Oberst, welchem Herr Süchier zögernd folgte. Der Oberst trug den kurzen Rock, die knappe Weste, die straffen Beinkleider, die schwarze Krawatte mit dem weißen, hinten sichtbaren Knopf und die hohen Vatermörder, die vorn spitz zuliefen – alles, wie man es an ihm und an sonst keinem anderen Menschen in Berlin kannte. Sein Aussehen war völlig unverändert; trotzdem erregte, nach dem unbedachten Ausruf der Frau Süchier, der alle sehr neugierig gemacht, sein Erscheinen weder besondere Befriedigung, noch große Freude.

Doch war der Oberst in dieser Beziehung von einer außerordentlichen Anspruchslosigkeit. Er war wie eines jener bescheidenen Blümchen, die überall fortkommen, sogar an Felsen; er brauchte nicht viel Erde und war mit jeder Art von gutem oder schlechtem Wetter zufrieden.

»Ah, guten Abend, Frau Grandidier,« sagte er, indem er der Dame des Hauses die Hand bot, ohne vielen Wert darauf zu legen, daß sie dadurch in die äußerste Verlegenheit geriet. »Und hier Frau Lottchen und mein Freund, der Kanzleirat.«

Dieser räusperte sich gewaltig. »Bitte zu bemerken . . .« sagte er.

»Weiß schon, weiß schon,« versetzte der Oberst, indem er in die bewußte Tasche griff und das rote Buch hervorzog. »Da steht's. Und was da steht, das ist so sicher, wie das Firmament mit Halbmond und Sternen.«

Das pergamentene Gesicht des Kanzleirats zuckte seltsam und wetteiferte für einen Augenblick mit dem feurigen Rot des Buches, auf welches der Oberst angespielt, dann aber ward es wieder das fahle, gesetzte Schreibergesicht, welches für gewöhnlich gar keinen Ausdruck und so gut wie gar keine Farbe zeigte.

Herr Grandidier, sprachlos über das Erscheinen und das 260 Benehmen des ungebetenen Gastes, war vor dem Eingetretenen förmlich zurückgewichen; und sein Schwiegersohn Süchier war ihm gefolgt, um seine Unschuld an dem einen wie an dem anderen zu beteuern und ihn zu versichern, daß er es mit dem besten Willen nicht habe verhindern können. Es war ein peinlicher Moment für alle, mit Ausnahme des Herrn Fritz Scharf.

»Sieh da,« rief dieser, als er des Herrn Grandidier endlich im Hintergrunde des Zimmers ansichtig ward, »mein alter, ich sollte sagen: Freund – aber ich kann es nicht, ich bringe das Wort wahrhaftig nicht aus mir heraus. Entschuldigen Sie, Herr Grandidier!«

»Ich hätte diese Entschuldigung kaum für nötig gehalten nach dem, was zwischen uns vorgefallen,« gab Herr Grandidier trocken zur Antwort.

»Und doch,« versetzte der Oberst, »bin ich nicht unversöhnlich, weder in der Politik, noch in der Freundschaft. Hier meine Hand!«

Herr Grandidier nahm sie nicht an. »Sie scheinen versöhnlich zu verwechseln mit – zudringlich,« sagte er, das letzte Wort stark betonend.

Der Oberst lächelte mit einem Anflug von Bitterkeit. »Zudringlich!« rief er. »Meinen Sie denn, daß dieser Gang zu Ihnen ein so besonderes Vergnügen für mich gewesen wäre, oder daß ich, als ich ihn unternahm, etwas für mich dabei bezweckte? Sie werden sich erinnern, weswegen ich zum erstenmal in dieses Haus gekommen bin; es geschah nicht meinetwegen, Herr Grandidier, sondern Ihretwegen. So bin ich auch heute wieder gekommen – und es mag sein, daß es das letztemal ist – nicht meinetwegen, Herr Grandidier, sondern abermals Ihretwegen.«

»Ich wüßte nicht, wer oder was Ihnen das Recht dazu gegeben . . .

»Kein Recht, Herr Grandidier, ich beanspruche nur Erfüllung einer Pflicht. Vielleicht war es Zufall, vielleicht war es Bestimmung, die mich gerade heute hierhergeführt. Sie feiern ein schönes und bedeutsames Fest. Wen aber wollen Sie darüber täuschen, daß mehr als an jedem anderen Tage heute sich's auf dem Grunde Ihrer Seele und in den Seelen aller hier Anwesenden regen muß, wie ein Wort, das niemand auszusprechen wagt, wie ein Name . . .«

261 »Halten Sie ein!« rief mit rasch aufflammendem Zorne Herr Grandidier.

»Lassen Sie mich ausreden,« fuhr der andere mit vollkommener Ruhe fort; »Sie sollen mir später einmal nicht den Vorwurf machen können, daß ich feige zurückgewichen, daß mir in einer Sache, die ich für gut erkannt, der Mut gefehlt habe, sie bis zum äußersten zu vertreten. Wohl, ich bin ein Eindringling, hier und an diesem Abend, wie ich es an jenem Abend war, als Sie mir so dankbar die Hand drückten. Ich bin derselbe wie damals, nicht besser, nicht schlechter, hoffe ich, und meiner Vergangenheit treu, doch Sie, Herr Grandidier, sind Sie es noch der Ihren und der Ihrer Väter? Sie rufen diese Vergangenheit an, die ohne Zweifel ruhmwürdig ist, und reich an Taten der Opferfreudigkeit und selbstlosen Liebe. Dem Monarchen, welcher in hartnäckiger Verblendung seine Kinder von sich stieß, weil sie nicht glauben wollten, glauben konnten an seinen Glauben, gehören Ihre Verwünschungen, und Ihre Segenswünsche dem anderen, welcher die Fliehenden in seine Arme nahm und an sich zog. Wem aber von den beiden gleichen Sie, Herr Grandidier? Etwa dem großen und guten Manne, dessen Leben, wenn es überhaupt etwas für Sie bedeutet, Ihnen vor allem hätte zeigen müssen, wie man das Unrecht nicht nur nicht tun, nein, wie man es nicht einmal dulden dürfe!«

Dabei wies er auf ein Bild, welches, von dem darauffallenden Kerzenschimmer hell beleuchtet und mit einem frischen Kranze geschmückt, von der dunklen Seitenwand sich lebendig abhob. Es war ein alter französischer Kupferstich aus der Zeit des Großen Kurfürsten selber, und es stellte diesen dar in der ganzen Kraft und Fülle seiner Züge, die breite Stirn, die kühn geschwungenen Brauen, die starke Nase, den schöngeformten Mund, das wohlgerundete, mächtig vortretende Kinn, mit einem Ausdruck von Ernst, Festigkeit des Vorsatzes und Wohlwollen in den Augen, ein Schnauzbärtchen über der Oberlippe und das Haupt umwallt von einer stattlichen Allongeperücke, deren Locken zu beiden Seiten bis auf die Schultern und den Hermelin herabfielen. Das Bild, ein Erbstück der Grandidiers, und wer weiß, von ihnen vielleicht schon aus Paris mitgebracht – war in einen kunstreich geschnitzten Rahmen von schwarzgebeiztem Eichenholz gefaßt, der oben einen Kurhut und des Kurfürsten 262 Sinnspruch: »Mit Gott« in Silberbuchstaben zeigte, während unten die Verszeile eingegraben stand: »Tel est de ce héros le portrait et le visage.«

Es wäre schwer zu sagen gewesen, welchen Eindruck dieser Vorgang auf Herrn Grandidier gemacht oder zu welchem Entschluß er sich hätte fortreißen lassen, wenn nicht in diesem Augenblick Glöcklin eingetreten wäre, welcher gleichfalls zum Fest eingeladen worden war. Sogleich ging ihm der Hausherr hastig entgegen, und ehe der Erstaunte noch ein Wort der Begrüßung vorbringen oder entgegennehmen konnte, fuhr jener ihn hart an: »Ich hoffe, daß du nicht auch in diesem Komplott gegen mich begriffen bist!«

Frau Grandidier, welche mit ängstlicher Spannung der Entwicklung der Szene gefolgt war, konnte nicht länger schweigen. Sie sah jetzt auf der Stirne ihres Mannes jenes unheilvolle Gewölk sich sammeln, welches sie lange nicht mehr gesehen, aber noch so wohl erkannte! Seine Gesichtsadern schwollen, und das Blut stieg ihm zum Kopfe. Besorgt und erschreckt hob sie sich von ihrem Sitze und näherte sich dem Gemahl mit dem Ausruf: »Um Gottes willen, George, was hast du gesagt?« Sie suchte nach seiner Hand.

Aber heftig machte er sich von ihr los. »Geh, Luise Dorothea,« sagte er kurz, »geh!« Und als sie dennoch blieb, stampfte er mit dem Fuße zornig auf den Boden.

Weinend wandte die ratlose Frau sich ab.

»Und wo ist Bärbel?« fragte Herr Grandidier mit einer Stimme, der man wohl anmerkte, daß er sich nur noch mit der äußersten Gewalt beherrsche.

Glöcklin war so betroffen von dem Empfang, der ihm geworden, daß er gar keine Worte fand. Erst allmählich, nachdem er die Anwesenden unterschieden und Fritz Scharf erkannt hatte, der noch immer abseits von den übrigen vor dem Bilde des Großen Kurfürsten stand, ging ihm eine Vermutung über den Sachverhalt auf. Er erinnerte sich jetzt seiner eigenen letzten Unterredung mit diesem Manne, der, wenn er zu sprechen sich einmal vorgesetzt, nicht eher schwieg, als bis das letzte Wort gesagt war; und aus der allgemeinen Bestürzung ging nur zu deutlich hervor, daß er seine Absicht ausgeführt hatte.

»Ich habe dich gefragt, wo Bärbel sei?« wiederholte Herr Grandidier.

263 »Meine Tochter entschuldigt sich,« versetzte Glöcklin; »sie hat die Schwester nicht verlassen mögen.

»So!« sagte Herr Grandidier, mit einer Art von bitterem Hohn, »auch das Kind im Komplott . . . hahaha, man hat es heut abend auf mich abgesehen . . . man hat die Zeit und den Ort gut gewählt. Aber ihr werdet merken, daß ich mich wehren kann . . .«

Sein Gelächter wirkte fast noch erschreckender als vorhin der Ausbruch seines Zornes. Es war etwas Schneidendes, Heiseres, unheimlich Drohendes darin.

»Ich verstehe dich nicht,« suchte Glöcklin ihn zu begütigen. »Wovon redest du nur? Und wer ist in einem Komplott gegen dich . . .«

»Du – sie – alle miteinander! Ah, der Anschlag ist geschickt geplant – und die Rollen sind vortrefflich ausgeteilt . . . Aber schafft mir Bärbel herbei . . . ich will Bärbel sehen . . . schickt hinüber zu ihr, und sagt, ich wolle sie sehen . . . Sacre nom de Dieu! Wie weit ist es mit mir gekommen! Man hört mich nicht mehr . . . man verlacht mich, man verspottet mich, man verhöhnt mich – hier in meinem eigenen Hause!«

»Nein,« sagte Glöcklin, »so ist es nicht gemeint. Wenn du es wünschest, so gehe ich selber, um sie zu holen . . .« und er entfernte sich mit den schlimmsten Befürchtungen.

Diese waren in der Tat nur zu sehr gerechtfertigt. Denn eine fixe Idee schien sich des Herrn Grandidier bemächtigt zu haben, und es war ein trauriger Anblick, ihn dagegen ankämpfen zu sehen. Fiebernd am ganzen Körper durchmaß er das Zimmer nochmals, und niemand wagte, sich ihm in den Weg zu stellen.

»Noch bin ich Herr im Hause,« brachte er zwischen den krampfhaft sich übereinander schließenden Zähnen hervor. »Heda! heda! Wir wollen zu Tisch!« . . . Und mit dem Fuße stieß er die Flügeltüren des Speisesaals auf, daß sie weit auseinander flogen und die strahlenden Kronleuchter, die festlich gedeckte Tafel und die flimmernde Pracht der Wände gar schaurig mit dem Zustande des tobenden Mannes kontrastierten. Sodann stürzte er an den Glockenzug und schellte so stark und anhaltend, daß es durch das ganze Haus gellte, bis der Draht riß und die Schnur in seinen Händen blieb.

In demselben Augenblick aber hielt draußen ein Wagen, 264 und ein durchdringender Schrei ließ sich von der Einfahrt her vernehmen.

Starr vor Entsetzen drängten alle nach der Türe, nur Herr Grandidier rührte sich nicht von der Stelle. Man öffnete, man hörte Fußtritte auf der Treppe und die Stimme des alten Dieners, welcher zugleich zu weinen und zu lachen schien. Dann wurde die Flurtür des gegenüberliegenden Zimmers aufgetan und in derselben stand die Gestalt von Eduard Grandidier.

Festgehalten von dem natürlichen Bangen, welches jeder großen Entscheidung vorangeht, und vorwärts gezogen von den stürmischen Empfindungen seines Herzens: so sah man ihn eine Weile schwanken. Niemand kam ihm entgegen, um ihm diese letzte und schwerste Strecke seines Weges zu erleichtern. Kein Willkommen empfing ihn, obwohl die Räume festlich erhellt waren und im Spiegelsaale die fernen Wunder seiner Kindheit leuchteten. Ein Gefühl der Einsamkeit und Öde, so gewaltig und niederdrückend wie niemals in der Fremde, bemächtigte sich seiner, und die Kraft, die gereift war unter Entbehrungen und Gefahren, drohte ihn jetzt zu verlassen bei dieser Wiederkehr ins Elternhaus. Die ganze Kluft, die ihn von demselben trennte, tat sich vor ihm auf, und wie ein Schwindelnder drückte er beide Hände gegen die Augen, die sich zu verdunkeln anfingen. Mehr dem Instinkte gehorchend als einer bewußten Absicht, tastete er sich weiter und war unter den Seinen.

»Oh!« rief er aus, »ist denn kein Vergessen bei euch und kein Verzeihen? Gibt es nirgends Versöhnung und habe ich wirklich keine Heimat mehr?«

Da fühlte er sich plötzlich von zwei Armen umschlungen; sein Gesicht ward von Küssen und von Tränen bedeckt und unter Schluchzen vernahm er die Worte: »Hier . . . hier ist deine Heimat . . . und wenn sie dich alle verleugnen . . . ich . . . ich kann es nicht!«

Es war seine Mutter. Sein unerwartetes Erscheinen mitten in dem leidenschaftlichen Auftritt, der seiner Ankunft vorangegangen war, hatte etwas so Unglaubliches für sie, daß es ihr beinahe wie eine Täuschung vorkam; aber der Ton seiner Stimme löste jede Fessel, welche bisher ihren Schmerz und ihre Liebe zurückgehalten. »Eduard! Eduard!« rief sie, wie wenn sie sich nicht hätte sattsprechen können an 265 diesem Namen, den sie solange in ihrem tiefsten Herzen verschweigen mußte. »Bist du's denn, mein Sohn, und soll ich dich noch einmal wiedersehen . . . Und wie in einem seligen Traum berührte sie seinen Kopf und sein Gesicht und seine Arme und seine Hände . . . Ihr war in diesem Augenblick, als ob sie mit ihm allein in diesem Zimmer, in diesem Hause, ja allein auf der Welt sei.

»Mutter,« sagte er, indem er ihr mit einem schönen Lächeln ins Auge sah, »ja, ich bin es! Und ich bin wiedergekommen aus der Fremde, wo doch kein Herz für mich schlug wie das deine, wo kein Wort der Liebe mich jemals erreichte. Mutter, du weißt gar nicht, was ich alles erlebt, was ich gesehen und durchgemacht habe bis zu diesem Augenblick . . .

»Ja,« sagte die Mutter, indem sie freudig zu ihm aufsah, wie er vor ihr stand, kräftig und breitschulterig, das leicht gebräunte Gesicht von der Fülle des dunklen Haares umgeben, »du bist ein rechter Mann geworden.«

»Das wollt' ich nicht sagen, Mutter,« erwiderte er mit anmutigem Erröten; »ich meinte nur, daß ich meine Zeit nicht versäumt, die Welt gesehen und etwas in ihr gelernt habe. Ich komme nicht leer zurück, wie ich gegangen bin; und, oh! – wie wollte ich euch Freude machen, wenn ihr mir verzeihen könnt . . . wenn ihr mir verzeihen könnt!«

Und abermals zog er die Mutter an sich, welche im Stolz ihres Herzens und in der Wonne des Wiedersehens gänzlich vergaß, unter welchen Umständen es stattfand.

»Aber nun sieh dich auch einmal um, Eduard,« sagte sie, indem sie die Hand des Sohnes ergriff »hier ist deine Schwester Lottchen und hier ist deine Schwester Berta . . .«

»Und hier ist Fritz Scharf, genannt der Oberst,« sagte dieser, welcher für sein Temperament und seine Neigung schon viel zu lange den Zuschauer hatte spielen müssen.

»Mein Freund, der Oberst . . . mein alter Oberst!« rief Eduard mit einem Ausdruck freudiger Überraschung, als ob die Gegenwart dieses Mannes ein gutes Zeichen für ihn sei.

»Und hier ist dein Schwager Süchier und dein Schwager Kanzleirat . . . und hier . . .« Die Stimme der guten Frau Grandidier ward plötzlich unsicher. Wie aus einem Rausche erwachte sie, und die herbe Wirklichkeit der Dinge stand vor ihr. Sie mußte sich zusammennehmen. »Und hier . . .« brachte sie mühsam hervor, »hier ist dein Vater . . .«

266 Herr Grandidier hatte bisher hinter einem hohen Sessel gestanden, die Hand auf der Lehne, wie wenn er sich damit verteidigen wolle gegen den Sturm, der auf ihn eindrang. Das Blut floß in immer höheren Wellen gegen sein Gehirn, er fühlte ein Ebben und Fluten und Pochen, es wirbelte ihm vor den Augen, und was außer ihm und um ihn vorging, war wie ein wirres Durcheinander von Phantomen und Spukgestalten. Erst das Nahen seiner Frau gab ihm für einen Augenblick die Herrschaft über sich selbst und das schwindende Bewußtsein zurück.

»Das also war's! Das!« rief er mit einer erschreckend heiseren Stimme, »das war der Plan, den ihr euch ausgedacht . . .«

»Ich schwöre dir's, George, daß ich selber bis zu dieser Stunde nichts davon gewußt habe,« versetzte Frau Grandidier und suchte die Hand des Gatten zu ergreifen.

Doch dieser stieß sie zurück. »Fort,« rief er, »fort,« indem er sich mit der Rechten krampfhaft an dem Stuhl festhielt und mit der Linken in der Luft umherfuhr, denn das Dunkel kam wieder. »Ein schöner Plan, ein gutes Vorhaben! . . . Ihr kanntet meinen Zustand und wolltet ihn benützen . . . Ich bin euch zu lange schon im Wege gewesen . . . ich weiß es wohl, und nun soll die Sache beschleunigt werden . . . Er oder ich! Für beide war kein Platz in diesem Hause . . .«

»Vater!« unterbrach ihn Eduard, schmerzlich bewegt, »es war kein anderer Plan, als den ich selber ersonnen und für den ich allein verantwortlich bin. Ich dachte mir, daß die heiligen Erinnerungen dieses Abends für deinen verlorenen Sohn sprechen würden – daß du gedenken würdest der Zeiten der Väter, von deren Not und Elend und Herzensjammer und endlicher Errettung du mir einstmals erzählt . . . ich dachte mir, daß es auch für mich eine Fête du refuge gäbe . . .«

Jedoch sein Vater hörte ihn nicht mehr. Die Hand hatte die Kraft, der Körper den Halt verloren und rückwärts taumelte er gegen die Wand, an welcher das Bildnis des großen Kurfürsten hing. Dieses, von dem Stoß getroffen, fiel schmetternd zu Boden, so daß der Rahmen zerbrach und das Glas in Splittern umherflog. »Zertrümmert!« rang es sich dumpf aus der Brust des Leidenden, »zertrümmert!« . . . Dann sank auch er zu Boden.

267 Man hob ihn sogleich auf und trug ihn in den Sessel. Die Last seines Körpers war schwer und sein Gesicht verzerrt. Die Augen standen weit offen, und sein Atem war nur noch ein Röcheln.

»O du mein Gott im Himmel! Hilfe, Hilfe!« jammerte Frau Grandidier, indem sie sich mit den Armen über ihn warf.

Herr Süchier suchte sie sanft von dem Kranken hinwegzuziehen. »Ich eile zum Arzt,« sagte er, »und hoffe sogleich mit ihm zurück zu sein.«

Eine gewisse Scheu, die an Furcht grenzte, hielt die übrigen in einiger Entfernung. Aber jetzt stürzte Eduard zu ihm hin, und die kalte Hand ergreifend, die wie abgestorben über der Seitenlehne des Stuhles herabhing, kniete er vor dem Vater nieder. Er drückte die Hand, die sich ihm so lang und so grausam entzogen, fest an die Lippen. Doch das fliehende Leben schien sich unter dieser Berührung zu sammeln und selbst jetzt noch die Liebe des Sohnes zurückstoßen zu wollen. Es war nur ein schwaches, kaum fühlbares Wiederstreben, ein Zucken und Pulsieren, welches dem verzweifelnden Jüngling wie mit tausend Qualen das Herz zerriß. Doch er gab die Hand nicht frei. Er war wie gebannt an diese Stelle.

In der Erregung, in welcher alle nur mit dem Schwergetroffenen beschäftigt waren, hatte niemand bemerkt, daß Glöcklin in Begleitung seiner Tochter zurückgekehrt sei.

Sie war eingetreten, ohne zu wissen oder nur zu ahnen, was inzwischen vorgegangen. Doch ein Blick genügte, ihr die Verwirrung zu zeigen, die hier herrschte – die bestürzten Gesichter, den Schmerz, der sich, mit Ratlosigkeit gemischt, in ihnen ausdrückte – die festlichen Vorbereitungen, die vielen Lichter, die Blumen, die schwarzen Anzüge der Herren und den bunten Putz der Damen – sie selber in Rosa, das dunkelbraune Haar auf den entblößten Nacken herabfallend – und in dem Sessel den Kranken, den ein mit solchen Erscheinungen Unbekannter für einen Sterbenden halten konnte. Denn sein Gesicht war immer noch entstellt, namentlich der Mund, die Augen standen noch offen, aber kein Bewußtsein sprach daraus.

»O Herr Grandidier, Herr Grandidier,« rief sie, indem sie beide Arme erhob – doch betroffen und erschreckt wich sie zurück. Ein junger, unbekannter Mann, den sie bis jetzt nicht bemerkt, stand da, gesenkten Hauptes. Jetzt richtete er 268 sich auf und sah sie an – es durchzitterte sie wundersam . . . wie ein Lichtschein irrte es durch ihre Augen, wie ein schmerzhaftes Entzücken durch ihre Züge . . . »Eduard!« sagte sie leise.

Der Klang seines Namens, fragend und beklommen von der holden Unbekannten ausgesprochen, berührte seine Seele geisterhaft, wie das Echo einer fernen Welt, und so stand auch ihre liebliche Erscheinung vor ihm – fremd und doch wie sein vertrautestes Eigentum, wie ein Geheimnis, nun offenbar geworden. Seit seinen frühen Jünglingsjahren war das Bild dieses Mädchens seine treue Begleiterin gewesen, sein Traum, seine Sehnsucht; er hatte niemals bis jetzt geglaubt oder gedacht, daß sie sein könne. Tausend Erinnerungen bestürmten sein Herz, jede von ihnen zugleich süß und schwermütig, noch einmal rauschte die ganze Vergangenheit vorüber, mit starkem, mächtigem, betäubendem Flügelschlag, all ihre Seligkeit und Schwärmerei zusammengepreßt in den Raum eines Augenblicks – ach, dieses Augenblicks, so traurig und jeder Hoffnung bar! Ihm war in diesem Wirbelwind des Empfindens, als ob der Engel des Todes und der Engel des Lebens einander hier begegnet seien und in seiner eigenen Brust kämpften.

Der Arzt kam. Er war mit den Verhältnissen des Hauses bekannt und sagte, daß er diesen oder einen ähnlichen Ausgang gefürchtet habe. Der Gemütszustand des Patienten sei zu heftig, über alles Maß hinaus gespannt gewesen, und bei der sonstigen Körperbeschaffenheit desselben habe diese Krisis nicht ausbleiben können. Eine Veränderung habe eintreten müssen, und sie sei eingetreten. Ob zum Schlimmen oder zum Guten? Wer wolle das voraussagen. Vor allem sei Ruhe notwendig; vollkommene, tiefe Ruhe. Nichts – der Arzt sprach dies mit schmerzlich bewegter, aber sicherer Stimme – wenn er diesen Anfall überlebe, nichts dürfe ihn an den Grund des Übels erinnern . . . Ein Seufzer Eduards sagte ihm, daß er verstanden worden – ihm allein – denn die anderen waren zu sehr mit dem Kranken beschäftigt, welcher, bis das Schlafzimmer zu seiner Aufnahme bereit, in die dunkle Nebenstube getragen ward.

Der Arzt, ein bejahrter Mann und in Beziehung zu dem Hause, seit Kinder in demselben gewesen, nahte sich Eduard. Er hatte ihn als Knaben gekannt und geliebt, und es war ihm nicht verborgen, was später zwischen Vater und Sohn 269 getreten. »Eduard,« sprach er, indem er ihn zugleich herzlich und kummervoll anblickte, »wie sehr hätte ich gewünscht, Zeuge eines anderen Wiedersehens zu sein! Ich brauche Ihnen nicht zu sagen . . .«

»Nein,« versetzte dieser, den Druck der Hand dankbar erwidernd – ach! er war so dankbar für jedes Zeichen der Zuneigung – »ich weiß genug und werde gehen . . .«

»Nicht für immer, mein Sohn,« tröstete der gute Mann; »hoffentlich nicht für immer! Wo Leben ist, da ist auch Hoffnung.«

»Retten Sie meinen Vater!« rief Eduard mit einem Tone des Flehens, der aus dem Innersten seines Herzens zu kommen schien . . . so rührend klang es und so heftig – seine ganze Seele lag darin.

Eduards ältere Schwester, aus der Nebenstube zurückkehrend, hatte das Wort gehört. In einem Ausbruch des wilden Schmerzes oder vielleicht des Zornes fuhr sie den Bruder an. »Du wagst es, ihn so zu nennen!« rief sie, »hier, nicht drei Schritte von dem Sterbenden . . . Oh, wärest du nie wiedergekommen . . . du . . . du hast . . . ihn . . .«

»Still, Frau Kanzleirat, still!« fiel ihr der Arzt in die Rede; »dies ist nicht der Ort und nicht die Zeit, um Anklagen zu erheben . . .«

Aber Eduard sagte: »Du hast recht, Lottchen, du bist immer hart gegen mich gewesen, und du bist es auch jetzt, wo selbst der höchste Richter mir vielleicht Mitleid und Erbarmen nicht verweigert hätte. Oh, Mitleid! Erbarmen!« rief er, indem er das Gesicht mit beiden Händen bedeckte. – »Lassen Sie mich noch einmal zu ihm,« wandte er sich an den Arzt, »nur noch einmal möcht' ich ihn sehen und Abschied von ihm nehmen.«

»Es geschieht besser nicht,« lehnte der Arzt ab, milde, doch bestimmt.

»Ich verstehe Sie,« sagte Eduard. »Sie haben mein Urteil gesprochen.« Er schickte sich zum Gehen an; doch die Arme der Mutter umschlangen ihn. Es war ein schmerzliches Abschiednehmen nach kurzem, traurigem Wiedersehen.

»Lebe wohl, geliebte Mutter,« sagte Eduard mit unterdrücktem Schluchzen; »du kennst mich! Du fühlst mit mir; und du würdest nicht aufhören, mich zu lieben, auch wenn ich ein Verbrecher wäre . . . Diese unglückliche Stunde wird mir 270 einst vielleicht weniger trüb erscheinen, wenn ich bedenke, daß mich alles verlassen hat, nur nicht meine Mutter! Lebe wohl! Ich gehe zum zweitenmal, und Gott allein weiß, ob nicht für immer . . .«

Er konnte nicht weitersprechen. Er machte sich los von der Mutter. Neben ihm stand seine Schwester Berta. Sie sah mit verweinten Augen zu ihm hin. Ihr Herz verlangte nach dem Bruder, doch sie hatte nicht den Mut, ihrem Herzen zu folgen.

Und so ging er in die Nacht hinaus, über die Straße, auf der er als Kind gespielt, auf die Brücke, die noch war, wie sie in seiner Knabenzeit gewesen. Nichts hatte sich verändert; und doch war alles anders geworden. Auf der Brücke blieb er stehen. Nicht weit von ihm, unter dem Dunkel der Häuser, bewegte sich eine zweite Gestalt. Es war der Oberst, Fritz Scharf. Eduard wußte nicht, ob er sein guter oder sein böser Geist sei. Doch jener verließ ihn nicht in dieser Nacht. Der Wind hatte sich gelegt. Ein leichter Frost war eingetreten. Hier und da funkelten Sterne, der Mond trat aus dem Gewölk hervor und beleuchtete die wohlbekannte heimatliche Gegend, die Brücken, das Wasser, die Türme, die ringsum gelagerte Masse der benachbarten Straßen. Noch immer entfernte sich Eduard nicht, den Blick unverwandt auf das elterliche Haus gerichtet.

Endlich erloschen dort die Lichter, ein Fenster nach dem anderen ward finster, bis auf eines im oberen Stockwerk. Es war das Zimmer des Vaters, sein Schlafzimmer. Männer und Frauen erschienen unter dem Haustor. Einige Wagen fuhren vor, rollten fort. Alles war leer . . . nur noch eine Figur, eine zarte, feine, beugte sich in den Mondenschein hinaus, als ob sie noch irgend etwas suche . . .

Eduard bemerkte es, und aus dem Schatten der Brücke schritt er nun gleichfalls vor und nahte sich der Einsamen.

Es war Bärbel. Schüchtern und scheu blickte sie mehrere Male nach allen Seiten um sich, dann, rasch an ihn herantretend, flüsterte sie: »Ich dachte wohl, daß Sie noch da wären und wollte Ihnen nur sagen, daß es besser geht und daß er, will's Gott, leben wird.«

Hierauf huschte sie ins Dunkel zurück und war verschwunden.

»Habe Dank, du liebes Geschöpf!« rief, aus tiefster Brust aufatmend, Eduard, »habe Dank für diese Botschaft!«

271 In diesem Augenblick klang ein Ton durch die Luft, ein Ton, der ihn erschütterte und beseligte – ein Ton wie aus der Kinderzeit, ein Ton wie aus dem Himmel – ein zweiter folgte, ein dritter, eine Melodie ward daraus, der er in Andacht und Wonne lauschte – es war das Glockenspiel von der Parochialkirche – sanft und trostreich und feierlich zog der Choral durch die stille Nacht . . . »Stimme der Jugend!« rief Eduard, »Stimme der Hoffnung, Stimme der Liebe . . .« Tränen erstickten seine Worte; jetzt erst kam zum Ausbruch in ihm, was er dort in dem Kreise der Seinen – die nicht mehr die Seinen waren – in der Nähe des Kranken, welchem jede seiner Äußerungen Pein verursacht, gewaltsam zurückgehalten hatte. Jetzt erst kam ein Gefühl, nicht mehr der Verlassenheit und der Vereinsamung, sondern der Bitterkeit über ihn, als ob er erst jetzt zu dem Bewußtsein des ganzen Unrechts und all der Kränkung erwacht sei, welche man dort ihm zugefügt hatte. Noch immer klangen die Glocken, aber es war ihm eine Qual, sie zu hören. »Ihr redet noch mit mir, wie vordem ihr mit dem Kinde geredet« – murmelte er und bedeckte die Augen und gedachte der Zeit, da er an der Hand des Vaters über diese Brücke gegangen . . . aber es ward ihm unerträglich, daran zu denken. Und nun klang der Choral aus, mit einzelnen Glockenschlägen, wie er begonnen hatte, und nur noch ein Nachhall war in der Luft – aber ihm brachte diese Harmonie keinen Frieden, keine Versöhnung mehr. Denn in seinem Herzen war eine scharfe, schneidende Dissonanz; und als er wieder aufblickte, stand kalt und hell und weiß im Mondlicht das Elternhaus vor ihm.

Er wandte sich ab. »Aus jenem holden Kindermunde,« sagte er, »kann keine Täuschung zu mir gesprochen haben – er wird leben! Aber ich werde keinen Vater mehr haben . . . Kommen Sie,« rief er dem Freunde zu, welcher bisher im Dunkel geduldig auf ihn gewartet hatte – »jetzt bin ich wirklich ein Vertriebener! Aber niemals – das schwör' ich – niemals werde ich jenes Haus wieder betreten, bis derjenige mich heimruft, der mich daraus vertrieben hat!« 273

 


 


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