Julius Rodenberg
Die Grandidiers
Julius Rodenberg

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Was man in der Jugend wünscht –

Der Leser wird bemerkt haben, daß der Professor bei Frau Grandidier auf einem ziemlich weiten Umwege zu seinem Ziele zu gelangen suchte und obendrein gleich im Anfange stecken blieb. Nicht besser erging es ihm mit Herrn Grandidier; ja, da kam er noch nicht einmal so weit. Der alte Herr war verdrießlich.

»Essen Sie Ihre Oderkrebse und bekümmern Sie sich nicht um Dinge, die Sie nichts angehen,« hatte dieser ihm gesagt, so oft er nur aus der Entfernung sein Thema berühren wollte. Viel Umstände hatte Herr Grandidier mit dem Professor Bestvater niemals gemacht. Darin war er sich gleichgeblieben; und jener, als er von der verunglückten 191 Expedition heimging, mußte sich mißmutig eingestehen, daß er auch hier nichts mehr zu erwarten habe.

Was übrigens Frau Grandidier von ihrem Manne gesagt, daß dieser jetzt ganze Tage lang außer dem Hause zubringe, war leider nur zu wahr. Es war, als ob er keine Ruhe mehr finde in dem alten Hause, in welchem er doch den besten Teil seines Lebens glücklich und erfolgreich verbracht; ja, als ob er alle Lust und Freude verloren an dem ausgebreiteten Geschäft, welches einst den ganzen Inhalt seines Lebens ausgemacht. Wenig interessierten ihn noch die großen Aufträge, die von Tag zu Tag einliefen; immer seltener kam er in die Fabrik oder das Kontor, und in die Läden fast gar nicht mehr. Es war daher ein Glück, daß er gerade jetzt einen Mann hatte wie Glöcklin, auf den er sich verlassen konnte, der mit Umsicht und Gewissenhaftigkeit seine Stelle vertrat in dem vielverzweigten Etablissement, ja zuletzt seinen Platz so vollkommen ausfüllte, daß Herr Grandidier kaum noch vermißt wurde. Dieser aber war wie umgewandelt. Ein Geist des Unfriedens beherrschte ihn, der sich nicht wie sonst in lautem Poltern Luft machte, sondern in sich verschwiegen ihn quälte und hin und her trieb. Je stiller er ward, desto mehr fühlte er sich vereinsamt. Wem auch hätte er sich anvertrauen mögen? Wer hätte ihn verstanden? Jetzt zuweilen und immer öfter kam ihm der Gedanke, daß es – wenn das Unglück ihn in einer anderen Gestalt heimgesucht – einen gegeben hätte, der ihn verstanden haben würde – einen, dessen Andenken ausgewischt . . . Er wollte diesem Gedanken am allerwenigsten nachhängen; und doch war es unmöglich, sich davon loszumachen. Immer, wo er ging und stand, verweilte seine Erinnerung auf jenen Nachmittagen, wo er ihm einst, vor Jahren, die Denkmäler der Stadt gezeigt und die Geschichte der Väter erzählt hatte. Mit wem in seiner ganzen übrigen Familie hatte er jemals davon gesprochen oder nur sprechen mögen? Sie hätten ihn alle nicht verstanden – nur einer war da, der mit ihm in diesen Empfindungen, die für ihn etwas Heiliges hatten, übereinstimmte – der sie begriff, der sie teilte ja, mit seinem jugendlichen Enthusiasmus noch verschönte – und diesen einen hatte er von sich stoßen müssen! Er seufzte tief und schmerzlich auf, wenn er sich ausmalte, was ihm dieser eine hätte werden, was er ihm hätte sein können – er suchte nach einem Trost, aber er fand keinen. 192 Und so geschah es, daß er sich in der Einsamkeit und Stille seines Herzens fortwährend mit demjenigen unterhielt, dessen Name von anderen in seiner Gegenwart nicht laut genannt werden durfte.

Beständig in dieser schönen Sommerzeit war er auf der Wanderung. Schnellpfeffer hatte anspannen wollen. Doch er sagte: »Bleiben Sie mit den Pferden nur zu Haus.« Was waren für Herrn Grandidier jetzt Kutscher und Pferde? Ihm war alles zuwider, was ihn an die Gegenwart erinnerte. Er versetzte sich am liebsten in seine Knabenzeit und pilgerte zum Schlesischen Tor hinaus, zu der Allee von alten dunkeln Bäumen, die nach Treptow führt und die schon alt war, als er, noch ein Knabe, sich in ihr mit den Genossen seiner Jugend an den freien Mittwoch- und Sonnabendnachmittagen getummelt hatte. Oder auf dem anderen Ufer nach Stralau, dem alten Fischerdorfe, das am Sonntag so belebt und am Wochentag so still ist, in die Dorfstraße, dunkel von Linden, deren Äste auf die bemoosten Strohdächer herabhängen – den Sandpfad hinab zu dem ehrwürdigen Kirchlein, dessen Turmspitze die Pappeln überragt – zu dem friedlichen Dorfkirchhof, der es wie ein Garten umgibt, und auf dessen dichtumgrünten Gräbern damals wie heute rote Geranien glühten und blaue Zenerarien leuchteten – zu der Wiese davor, duftig von hohem Gras und mannigfaltigen Kräutern, und dem Fluß dahinter, der, sich hier spaltend, die Wiese, die Kirche, den Kirchhof und das Dorf mit seinen beiden Wasserarmen umschließt. Wie oft, mit einer bunten, sonntäglichen Menge, hatte er selber hier auf dem blumigen Rasen oder an dem schilfbewachsenen Ufer gelagert! Tausend Bilder aus jener fernen Zeit tauchten vor ihm auf; wie sie hier in der Pfingstwoche Kalmuswurzeln schnitten, aus denen Flöten gemacht wurden, und wie sie Maien mit nach Hause brachten und das Ladenfensterchen und Ladenschild in der kleinen Mauerstraße damit schmückten, und wie sie dem alten Mann nebenan, dem Milchhändler, auch davon gaben, so daß dieser am Pfingstsonnabend nicht anders ausfuhr, als seinen kleinen Wagen, sowohl den Wagen als den Hund, der ihn zog, ganz mit duftigem Laube bekränzt. An alle diese Dinge dachte Herr Grandidier, als er am Ufer der Oberspree die alten Jugendpfade ging, zuweilen, nach Tagen anhaltender Sommerdürre, bis an die Knöchel im Sande watend – der Pfad nachgebend 193 unter den Füßen, der Acker durstig und die Wiese mager. Aber ein Wechsel in der Atmosphäre und Beleuchtung veränderte das Bild, und so erreichte er eines Tages gegen Abend eine Stelle, an der er lange, vielleicht seit seiner Kindheit nicht gewesen. Es war ein hügeliger, mit Moos und Heide bewachsener und mit Kiefern bestandener Boden.

Von dieser Stelle aus gesehen, nimmt die vielfach gekrümmte Spree den Umfang und die Gestalt eines nicht unbeträchtlichen Sees an, in welchen vom anderen Ufer ein hoher und dichter Kiefernwald, mit hier und dort einer Birke dazwischen, einsam und still und träumerisch herabschaut. Es war ein schwüler Tag gewesen, und goldenes Gewölk baute sich nun, von der westwärts gegen die Stadt hinsinkenden Sonne bestrahlt, über dem dunkeln Wasser auf. Es war das schönste, was man sehen konnte, diese phantastischen Formen, von Purpur flammend, der weite Himmel, dessen Wölbung hier kein Haus, kein Schornstein mehr unterbricht, an seinen Säumen zauberisch glühend, und der Kiefernwald gegenüber ganz in einen Duft von Abendrot getaucht. Herr Grandidier konnte sein Auge nicht davon abwenden, und wie er saß und sah und sah, von all diesem Glanz und Licht des Sommerabends umgeben, da war ihm, als käme plötzlich, wie aus längst vergangener Zeit, dort aus dem Wasser und aus dem Wald herauf ein Traum – eine Vision – und er erinnerte sich, wie er einst als Knabe hier gesessen und wie er, an die Zukunft denkend, zu sich selber gesagt: Ich will ordentlich arbeiten und mir rechte Mühe geben, und wenn ich einmal ein reicher Mann geworden und alt bin, dann will ich mir dort in dem Walde drüben und dicht am Wasser ein schönes Haus bauen! – Lange noch saß er in diese Betrachtung seines Jugendtraumes versunken; dann, mit einer Art von freudiger Erregung und neuem Impulse, wie er ihn lange nicht mehr gefühlt, sprang er empor von dem Heideboden, auf welchem er zu Füßen eines starken Eichbaums gesessen, und das bisher dunkle Wasser, als er es von hier aus noch einmal sah, schimmerte weit hinaus von dem Widerschein des Himmels, und weit ausgespannte Segel, die den letzten Strahl auffingen, wandelten hindurch, und in der Ferne die Wälder leuchteten noch einmal auf, und die Vögel, die darin nisten, jubilierten, und noch lange, nachdem das dumpfe Häusermeer der Stadt ihn wieder aufgenommen, war ein Abglanz und Nachklang 194 von all dem, was er draußen gesehen und gehört hatte, in seiner Seele.

An diesem Abend sagte er seiner Frau noch nichts. Aber am anderen Morgen stieg er im ganzen Haus herum, polterte in den alten Kammern, in denen er seit Jahr und Tag nicht mehr gewesen, kramte in den alten Sachen und kam zuletzt mit einem ganz glühenden Gesicht wieder herunter.

»Du, Luise Dorothea,« sagte er, nachdem er sich ein wenig ausgeruht, »ich werde bauen.«

»Was wirst du tun?« fragte die Frau, in hohem Grade verwundert. Denn sie war auf alles vorbereitet, nur nicht auf einen solchen Entschluß.

»Bauen,« erwiderte Herr Grandidier ganz gelassen, indem er zugleich eine kleine Pause machte. »Siehst du, Luise Dorothea,« fuhr er dann fort, »ich muß etwas um die Hand haben. Mit der Fabrik und dem Geschäft mich abzugeben habe ich keine Lust mehr –«

»Tu, was du nicht lassen kannst,« versetzte Frau Grandidier ziemlich kurz; »aber ich weiß eine Zeit, wo du jemand aus dem Hause gestoßen hast, der dir dasselbe gesagt – daß er keine Lust zur Fabrik und zum Geschäft habe – nicht mehr und nicht weniger . . .«

»Frau!« sagte sanfter als je zuvor, wenn man ihm widersprochen, Herr Grandidier, indem er sich erhob und die Hand seiner Gemahlin ergriff. »Willst du mir auch Vorwürfe machen? Willst du mir das letzte nehmen, was mir vielleicht helfen kann?«

»Da sei Gott vor!« erwiderte die weichmütige Seele, schon ganz entwaffnet von dem ungewohnten Entgegenkommen ihres Gemahls. »Was hast du denn?«

Und nun setzte Herr Grandidier in einer so ruhigen und vernünftigen Weise, wie diese beiden sich in ihrem Leben selten unterhalten, seiner Frau auseinander, was er gestern gesehen und beschlossen habe. Er erzählte ihr, daß es ein Lieblingswunsch seiner Jugend gewesen, an der Stelle der Spreeheide, die er ihr ganz genau schilderte, ein Haus zu haben, wenn er jemals in die Lage kommen sollte, die es ihm möglich mache, und daß nun die Zeit gekommen. »Wir haben lange genug gearbeitet, Luise Dorothea,« sagte er, »wir dürfen uns endlich Ruhe gönnen; dort, in der Gegend am Wald und am Wasser, die ich als Kind schon geliebt, 195 werden wir in einem schönen Hause sorglos leben und unsere Tage friedlich beschließen. Unsere Kinder . . .« er stockte, dann fuhr er fort, »unsere Kinder werden uns besuchen, und mich wird man hier nicht mehr vermissen. Das Geschäft wird in Glöcklins Hand geradeso gut aufgehoben sein als bisher in der meinen, und sobald ich mit ihm geredet und seine Einwilligung habe, gehe ich ans Werk.«

Frau Luise Dorothea begriff zwar nicht gleich, was ihrem Manne plötzlich in den Kopf gefahren, und sah den Nutzen davon nicht ein. Indessen würde sie, wenn es zu seinem Glücke beigetragen hätte, mit ihm sogar nach Köpenick gezogen sein; warum nicht nach der Spreeheide?

Desto mehr staunte Glöcklin, als Grandidier ihn von seinem Vorhaben unterrichtete und ihm zugleich den Vorschlag machte, ihn als leitenden Direktor der Fabrik und alleinigen Prokuraträger des Geschäfts in das Firmenregister eintragen zu lassen.

»Du täuschest dich, Grandidier,« sagte Glöcklin, der den Entschluß des Freundes mit einer richtigeren Einsicht in seine Motive beurteilte als vorhin die Frau. »Gern will ich dir jede Last abnehmen, soweit es zu deiner Erleichterung beitragen kann. Allein du solltest dich nicht vollständig von der langgewohnten Tätigkeit zurückziehen, ganz abgesehen davon, daß der Ruf deines Hauses darunter leiden würde.«

»Was das betrifft, so bin ich sicher,« sagte Grandidier, indem er den Freund auf die Schulter klopfte. »Da steht ein Mann, der's ebensogut vermag wie ich. Und dann, es soll dein Schaden nicht sein; ich garantiere dir . . .«

»Ich bitte dich,« versetzte fast beleidigt Glöcklin, »sprich mir nicht davon. Für kein Geld in der Welt würde ich etwas tun, was auch nur den leisesten Zweifel aufkommen lassen könnte.«

»Das ist's eben,« lenkte gutmütig lächelnd Herr Grandidier ein, »daß du dich niemals auf deinen Vorteil verstanden hast. Man kann auch die Ehrlichkeit zu weit treiben. Indessen diesmal ist es wirklich mein ernstlicher und unumstößlicher Wille.«

»Du wirst ihn dennoch bereuen! Jemand, der vierzig Jahre lang gearbeitet, kann nicht auf einmal, mitten in seiner vollen Kraft und Rüstigkeit, müßig gehen.«

»Und wer sagt dir, daß ich es will? Ist Bauen nicht auch ein Geschäft?«

196 »Freilich; aber das Haus wird doch einmal fertig werden und dann?«

»Dann . . . dann . . . nun, dafür laß Gott sorgen! Dann gibt's wieder was Neues.«

»Höre, Freund,« sagte Glöcklin bedenklich, »du bist auf einem abenteuerlichen Weg, und ich fürchte, du hältst es nicht aus.«

»Und wenn dem so wäre? Vorläufig bist du mein gesetzlicher Stellvertreter; und wenn mich die Sehnsucht nach der alten Profession ergreifen sollte – was würde mich alsdann hindern, wieder mit Hand anzulegen? Aber ich glaub's nicht. Es müßte denn sehr merkwürdig kommen.«

»Und wann soll's geschehen?«

»Sogleich – heute – noch in dieser Stunde!«

»Du hast's ja sehr eilig, Grandidier.«

»Ja!« rief dieser, »daran erkennst du den alten Grandidier,« und ein Strahl der früheren Energie leuchtete in seinen Augen. »Wenn der einmal etwas beschlossen hat, so heißt's: Frisch ans Werk, und durch, gerade durch . . . Er biß sich in die Lippen und verschwieg den Rest seiner ehemaligen Sentenz.

»Nun aber, begann er nach einer kurzen Pause wieder, »wie die Sachen liegen, und da du mein Anerbieten annimmst, scheint mir eines im höchsten Grade ratsam, wenn nicht notwendig – ich scheue mich fast, es dir zu sagen, aber ich muß es dir sagen – daß du nämlich preußischer Untertan und Berliner Bürger wirst.«

Glöcklin senkte den Blick zu Boden, dann ihn wieder zu Grandidier erhebend, sagte er:

»Meinst du wirklich, daß es mir so schwer würde, diesen Schritt zu tun? Entweder beurteilst du mich oder das gegenwärtige Frankreich besser als wir es verdienen. Von diesem Frankreich habe ich mich innerlich längst losgesagt. Mein Frankreich war das Frankreich meiner Väter – das Frankreich der Revolution – jenes große und freie Frankreich, welches uns Elsässern gestattete, unbehelligt in unserer Sprache, unserer Sitte und unserer Religion zu leben. Ich weiß wohl, daß ich viele Landsleute habe, Elsässer, die französischer als die Franzosen sind und trotz aller Vergewaltigung an Frankreich hängen mit ganzem Herzen und ganzer Seele, von Anfang an war viel Künstliches, viel Gemachtes und Gezwungenes dabei, doch die Zeit hat es ausgeglichen und 197 gewissermaßen geheiligt und in immer weitere Kreise vererbt, so daß ich in Wahrheit sagen muß, die meisten sind so. Dennoch gibt es eine kleine Minorität im Elsaß, die den Stammesunterschied noch immer fühlt und ihn niemals ganz verwinden wird – Männer, die durch Verrat niemals deutsch werden möchten, in deren Herzen aber auch niemals das Verlangen nach Deutschland, das Gefühl aussterben wird, daß ihre wahre Heimat in Deutschland sei – und zu dieser Minorität gehöre ich!«

»So bist du ganz unser?« rief Grandidier freudig bewegt, indem er dem Freunde die Hand hinstreckte.

»Ich war es von dem Tage an, wo du mich gastlich auf diesem Boden aufgenommen und mir die Möglichkeit gegeben hast, nie mehr nach Frankreich zurückzukehren!«

»Das ist ein Freudentag!« sagte Grandidier, »das ist ein Festtag! Wir wollen eine Doppelfeier veranstalten – mein neues Haus und mein neuer Mitbürger sollen leben, vivat hoch!«

»Ach,« versetzte Glöcklin traurig, »ein freudiges Ereignis ist es nicht und ein Anlaß zur Feier auch nicht – es ist dennoch ein Aufgeben und Losreißen . . . denk an meine Tochter Helene!«

»Ja,« sprach Grandidier, als ob er sich jetzt auf etwas besinne, was er vorher vergessen, und griff in die Brusttasche seines langen braunen Rockes, den er immer nur bei bedeutenden Gelegenheiten anzulegen pflegte und auch heute trug. »Rufe doch deine beiden Töchter herein!«

Nicht lange, so kamen beide mit dem Vater, die ältere still und in sich gekehrt, wie sie stets erschien, die jüngere heiter und erwartungsvoll.

»Madame Helene,« begann Grandidier, »und du, mein liebes Bärbel, ich habe euch mitzuteilen, daß der Vater eingewilligt hat, in ein festeres Verhältnis als bisher zu mir und zu meinem Geschäft zu treten, und daß er daher auch in ein festeres Verhältnis zu der Stadt und dem Lande treten wird, in welchem ihr jetzt lebt. Er hat sich geprüft und ist bereit.«

»Was soll das heißen?« fragte beunruhigt Helene.

»Nichts anderes, liebe Tochter,« erwiderte sanft, aber bestimmt Glöcklin, »als daß ich entschlossen bin, das Band zu zerschneiden, welches uns noch an Frankreich fesselt . . .«

»Uns?« unterbrach ihn heftig die Tochter; »das Band, 198 welches mich und meinen Sohn an Frankreich fesselt, wirst du nicht zerschneiden – es ist mein Heiligtum und kann nur mit dem Leben selber enden.« Sie erhob die Hand und das Haupt wie zum Schwure. Ihre langen blonden Haare flossen hernieder auf die Schultern, und in ihre blauen Augen spiegelte sich ein fester Entschluß. »Ihr werdet mich nicht zwingen wollen, den Preis eurer Gastfreundschaft so teuer zu bezahlen. Es wäre zu viel, und bei Gott! ich würde sonst vorziehen zu gehen . . .«

»Gehen, du armes Kind!« sagte Glöcklin, indem er voll Erbarmen die Hand der Leidenden ergriff, denn sie war immer leidend, ihr Gesicht bleich, ihr Wesen müd. »Du wolltest gehen – und wohin?«

»Weiß ich's? . . . Fort, fort . . . betteln in Frankreich!«

Tiefbewegt preßte der Vater seine Tochter an sich, und er bemerkte, wie die schlanke, hohe Gestalt zitterte.

»Mein Kind, mein Kind!« rief er, und ihn ergriff eine Vorahnung von etwas, dem er keinen Namen zu geben wußte, wiewohl es auf einmal dunkel und formlos und furchtbar vor ihm erschien. »Bleibe bei mir, Helene,« sagte er; »verlaß mich nicht, Helene! Wo meine Heimat ist, wird auch die deine sein!«

»Sie war es. Heute scheiden sich unsere Wege – o Vater, Vater!« sie sank schluchzend an seine Brust; und Glöcklin, an ihrer Schwere fühlend, daß ihr die Kraft schwinde, ließ sie sanft in einen Sessel nieder.

»Es geht mir besser,« sagte sie nach einer Weile, schwach lächelnd, indem sie dem Vater die Hand reichte. »Sorge dich nicht meinethalben. Ich bin eine Fremde. Laß mich eine Fremde bleiben – mich und meinen Sohn.«

»Und du?« redete Herr Grandidier Bärbel an, während Glöcklin noch mit Helene beschäftigt war, welche, die Stirn auf die feine, fast durchsichtige Hand gestützt, im höchsten Grade schön und rührend aussah, da keine Bitterkeit, wie sonst, ihrem Schmerze beigemischt war, sondern nur Wehmut, tiefe Wehmut. »Und du, Bärbel,« wiederholte Herr Grandidier, »was sagst du?«

Diese, die Händchen über die Brust zusammengefaltet und das Köpfchen gesenkt, hatte der Schwester ängstlich zugeschaut. Jetzt, bei Herrn Grandidiers an sie gerichteter Frage, wie erwachend, sagte sie, noch halb verwirrt: »Werden wir denn nimmer nach Straßburg kommen?«

199 »O ja,« gab dieser zurück, »warum denn nicht? Straßburg liegt nicht außer der Welt. Aber deine Heimat und dein Haus sollen hier sein; und damit es euch recht wohnlich und heimatlich darin werde, habe ich etwas mitgebracht –« und dabei griff er abermals in die Brusttasche und brachte diesmal ein kleines, viereckiges rotes Samtkästchen daraus hervor.

»Was mag es sein?« rief Bärbel, bei der die Neugier gleich wieder alle anderen Empfindungen in den Hintergrund drängte.

Herr Grandidier öffnete den Verschluß, und mit einem Tone, dem man die Bewegung seines Innern anhörte, sagte er: »Das Bild deiner Mutter!«

Es war jenes Porträt, welches er vor dreißig Jahren aus Paris mitgebracht, ein kleines Pastellbild, aber vortrefflich gemalt in jenen weichen, man könnte sagen seelenvollen Farben, welche von der Zeit allerdings leiden, aber nur, um dafür einen neuen Ausdruck von Vergeistigung zu empfangen. Ein junger Maler, damals in kümmerlichen Umständen, der gleich ihm in dem Hause von Roses Eltern verkehrte, hatte es verfertigt, und Grandidier hatte es von ihm erstanden. Als der kurze Traum seiner Liebe vorüber, hatte er es mit anderen Papieren und Andenken seiner Wanderschaft zusammengepackt und zuletzt auf die Bodenkammer gebracht. Seitdem hatte er es nicht mehr gesehen. Kaum noch daran gedacht. Heute morgen aber, bei seiner Wanderung durch das Haus, war es ihm plötzlich wieder in die Hände gefallen, und er hatte sogleich beschlossen, es Roses Kindern zu geben. Da es nun auf einmal wieder vor ihm war, seine vorige Frische leicht verblaßt, seine frühere Lebendigkeit sanft herabgestimmt – da überkam ihn – er wußte selbst nicht, welches deutliche Empfinden der Vergangenheit. Es zog der Gedanke rasch an ihm vorüber, daß sie dreißig Jahre lang im Grabe gelegen und jetzt wieder auferstanden sei, nicht älter geworden, aber trauriger – das neckische Lächeln, das ihr ehedem eigen, wehmütig gedämpft, die dunklen Augen sinnend, wie über ein Rätsel, das braune Gelock um Stirn und Nacken, der bronzierte Anhauch der Wangen mit all der Unregelmäßigkeit des Gesichts, das dennoch so lieblich war, wie durch einen feinen Schleier gesehen. Auch die bunten Schleifen, Bänder und Puffen des altmodischen Gewandes waren etwas verblichen, aber doch in Übereinstimmung mit dem Ganzen.

200 Der erste Eindruck auf Bärbel war der der Betroffenheit, beinahe des Schrecks. So hatte sie die Mutter nie gekannt. Ihr kam es wie ein fremdes Gesicht vor – und doch so vertraut, als ob es ihr eigenes sei.

»So war sie,« sagte Glöcklin, indem er hinzutretend das Bild in stiller Wehmut betrachtete. »So sah deine Mutter aus, als sie in deinem Alter war, Bärbel.«

»Da schau dir die Mutter auch an, Helene,« sagte sie, das Porträt der Schwester hinreichend.

Diese hob den Kopf ein wenig, und ein Strahl der Freude, welcher bald wieder verschwand, belebte die müden Augen. »Es ist, als ob's dein Porträt wäre, Barbe. Und doch ist eine Verschiedenheit darin – nicht das Gewand allein, es ist die Seele des Bildes, die mich so ganz anders anschaut. Deine Mutter war eine gute Französin, Barbe! . . .«

»Wie du nur sprechen magst, Helene! Bin ich nicht eine gute Elsässerin, und ist das etwa weniger?« Dann das Bild stürmisch an die Brust drückend, rief sie: »Nun ist dieses Haus wirklich unser Haus, geliebte Mutter, da du bei uns bist; und du sollst einen schönen Platz haben, hier, an der Wand – da kommt die Abendsonne zu dir, die du immer so gerne hattest – und da hast du einen Nachbar und einen Gesellschafter –« und bei diesen Worten hielt sie das Bild über einem Käfig aus schwarzem Korbgeflecht, in welchem ein Kanarienvögelchen lustig auf und ab hüpfte, bald in den Futterbehältnissen pickend, bald in das weiße Badenäpfchen tauchend, bald auf der unteren Stange sitzend, bald auf der oberen, und unterdessen immer einen kurzen, vergnügten Laut von sich gebend, bis es nun auf einmal bei der Annäherung Bärbels in ein lautes, frohes Schmettern ausbrach. »So recht, Matz,« rief das Mädchen, »du grüßest die Mutter – oh, wie oft hat sie dir etwas zugute getan, als sie noch lebte und wir noch in Straßburg waren!« Bärbel hatte den Vogel zu ihrem zehnten Geburtstag erhalten und seitdem treulich gepflegt wie ihren allerbesten Freund, und als sie die alte Heimat verließen, da war er das einzige, von dem sie sich nicht trennen wollte, sondern nahm ihn mit auf die Reise nach Berlin. Hier schien ihm die Luft nicht weniger wohl zu bekommen wie seiner Herrin, die ihm außerdem noch bei erster Gelegenheit ein mit Efeu umflochtenes Gestell geschenkt hatte, in welchem er nun hing und zuweilen hin und her schwankte wie in einer 201 kleinen grünen Laube; und obwohl für seine Verhältnisse kein Jüngling mehr und über die Jahre des Liederfrühlings hinaus, sah er doch Bärbel mit seinen kleinen, listigen braunen Äuglein wie ein Verliebter an und empfing sie, so oft sie nahte, mit jubelndem Gesang. »Matz, Matz,« sagte sie, indem sie das Bild an der Wand befestigte, »nun seid ihr zusammen, und du singst ihr von den alten, schönen Kindertagen, und ich hör' dich alleweil bei der Arbeit, und wenn wir nicht zu Hause sind, so seid ihr immer noch da, und wenn wir heimkehren, so heißt ihr uns willkommen, ihr beiden! . . . Und nun, lieber Herr Grandidier,« damit wandte sie sich an den entfernt Stehenden, indem sie ihn vor das Bild führte, »sehen Sie sich's an, ob es so recht ist!«

»Hierher gehört es,« sagte dieser, »und alles, was Liebes, Gutes und Schönes an ihr war, soll mit ihr in dieses Haus gekommen sein.«

Hierauf nahm er seinen Hut, und beide Männer gingen, um ins Werk zu setzen, was sie vorhin verabredet hatten.

 


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