Julius Rodenberg
Die Grandidiers
Julius Rodenberg

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Die Freudenbotschaft

Die Mitteilung war bald gemacht, indem die beiden durch die Straßen und über die Plätze gingen, welche stiller und leerer wurden, je weiter sie kamen und je später es ward, und in welchen zuletzt die langen Reihen von Lichtern fast nur noch einsam brannten.

Seit einigen Monaten hatte über sämtlichen Bewohnern des Hauses in der Krausenstraße das Schicksal der Kündigung geschwebt, von welcher niemand härter betroffen worden wäre als der junge Klempnermeister, der sich eben erst, seinen veränderten Umständen gemäß, in demselben eingerichtet und in der damaligen Zeit so leicht keine andere für ihn passende Wohnung gefunden hätte. Das Gerücht ging, daß Fräulein Aurelie Huncks sich verheiraten werde; und die Sache hatte einige Wahrscheinlichkeit für sich. Sie war einmal, um ihr Haus einer Durchsicht zu unterziehen, in einem Aufzug erschienen, welcher jeden Zweifel beseitigen mußte. Sie trug nämlich an jenem Tage schwarze Flechten. Dieses Zeichen der Verjüngung war so auffällig, daß selbst Frau Brandt – eine feine Kennerin weiblicher Herzen – nicht umhin konnte, der Nachricht Glauben zu schenken. Und das machte den Triumph von Fräulein Aurelie Huncks vollständig.

So standen die Dinge, als nach seiner langen Abwesenheit der Oberst heimkehrte. Große Bestürzung herrschte bei den Mietsleuten des Hauses in der Krausenstraße, die das alte, liebgewordene Nest in kurzer Frist verlassen sollten. Aber auch in der Rosmarinstraße, bei Fräulein Aurelie Huncks, zu welcher sein nächster Weg ihn führte, fand er nicht alles, wie es hätte sein sollen. Aurelie war wieder grau geworden; und das sagte ihm genug.

Doch der Oberst wußte Rat. Er versprach die Sache definitiv zum Abschluß zu bringen unter der Bedingung, daß sie den Mietern ihres Hauses die Frist bis zum nächsten Sommer verlängern wolle. Freudig ging Fräulein Aurelie auf den Vorschlag ein, und alsdann ließ der Oberst sich die verschiedenen Dokumente zeigen, auf welche sie ihre Ansprüche gründete, prüfte dieselben und erklärte, daß alles in bester Ordnung sei. Hierauf ward eine zweite Zusammenkunft verabredet, für welche das Fräulein die Gegenwart des 230 Professors zusagte; was allerdings bei dem unsteten Leben, welches dieser Herr jetzt noch mehr als zuvor führte, seine Schwierigkeiten hatte. Doch gelang es zuletzt, die gewünschte Konferenz zustande zu bringen; und der arme Mann, der hier vor seinem Richter erschien, sollte wenig Freude davon haben. Als er des Obersten ansichtig ward, da kannte er sein Schicksal. Er dachte sich, daß einem, der in alten Zeiten vor die heilige Feme geladen worden, so zumute gewesen sein müsse, wie ihm zumute war. Er gab nicht mehr viel auf sein Leben. Seine Kraft war gebrochen. Der Oberst dagegen tat sein Werk mit der ausgesuchtesten Höflichkeit und vollendeter Courtoisie. Es war etwas in ihm vom eleganten Juristen, als er die beiden zusammengab, das Ehegelöbnis in bündiger Form aufsetzte, die Ehepakten entwarf. Alles verlief in dem herkömmlichen, gesetzmäßigen Stile. Fräulein Huncks gab ihren Namen, ihren Stand, sogar ihr Alter an; und jetzt wandte sich der Mann des Rechtes an den Bräutigam in spe.

»Herr Professor,« sagte er, indem er ihn mit jener Miene anblickte, die ihm von seiner kurzen Laufbahn am Stadtgericht noch zu Gebote stand, »wie soll ich schreiben? Herr Professor . . .«

»Die Leute nennen mich zwar so . . .«

»Wie sie mich Oberst nennen. Dergleichen muß man sich gefallen lassen. Allein ich muß Sie in meiner gegenwärtigen Eigenschaft als Ihr Rechtsbeistand doch daran erinnern, daß neuerdings auf Grund ministerieller Verfügung die Polizei angewiesen worden ist, strenge darüber zu wachen, daß sich Gewerbetreibende keinen Titel fälschlich beilegen . . .«

Das war zuviel für den entthronten Professor, selbst in dieser seiner völligen Resignation. Der Mann der Welt war tot, und er war auch ganz willens, ihn ruhen zu lassen, aber der Künstler in ihm, der lebte bis zuletzt.

»Herr!« rief er in einem Tone, der Aurelie noch einmal zittern machte, »ich verbitte mir den Gewerbetreibenden!«

»Sondern?«

»Künstler!«

»Also: Herr –«

»Wilhelm Bestvater!«

»Herr Wilhelm Bestvater, Künstler,« und nun ward alles übrige gut und ohne weitere Störung zu Ende geführt. Aurelie Huncks unterschrieb und »Wilhelm Bestvater, Künstler« 231 unterschrieb – aber doch mit einer gewissen Erregung in den Schriftzügen, welche von dem erwähnten Zwischenfall übriggeblieben und sich mit dem letzten, aber ohnmächtigen Widerstande der Verzweiflung in dem Worte »Künstler« zusammengerafft zu haben schien.

Der Oberst indessen legte kein besonderes Gewicht auf diesen Umstand; und als alles geordnet war, ward festgesetzt, daß die Hochzeit im nächsten Sommer gefeiert werden solle, da das Haus in der Krausenstraße nicht früher fertig sein könne zur Aufnahme des neuen Ehepaares und der Göttin der Mode, welche mit diesem einzog. Denn das Fräulein beabsichtigte, das Geschäft nun erst recht auf einen großen Fuß zu bringen, mit einem hübschen Laden und Spiegelscheiben und allem, was dazu gehört; und zu diesem Zweck mußte viel umgestaltet und umgebaut werden. Doch sollte der Oberst auf alle Fälle seine durch die Zeit und das Herkommen geweihte Wohnung darin behalten; und auch die beiden anderen Mietspartien sollten wohnen bleiben, solange die baulichen Veränderungen es nur irgend gestatteten. Das Glück macht nachgiebig; und es war auch das wenigste, was das Fräulein für den Begründer desselben tun konnte.

Der Oberst in der Freude seines Herzens eilte, die gute Botschaft seinen Hausgenossen zu überbringen. Keiner war froher darüber als die kleine, hübsche Frau Klempnermeisterin, und gar zu gern hätte sie's auch ihrem Mann gegönnt, von dem Glück gleich zu hören. Allein ihr Mann sei nicht zu Hause, sagte sie; nicht genug, daß er den ganzen Tag vor Arbeit nicht wisse wohin, habe er auch noch am Abend Geschäftsgänge zu machen. Er sei nun schwer zu finden; der einzige Ort, an welchem er vielleicht – aber sie könne dafür nicht einstehen – getroffen werden könne, sei die »Norddeutsche Bundeshalle«. Dort pflege er sich zuweilen im Vorübergehen eine Stärkung zu gönnen. Aber sie sei keineswegs sicher; und sie hätte doch so sehr gewünscht, daß er der Sorge nun auch ledig werde, wie sie selber!

Der Oberst sagte, da wolle er doch gleich einmal nachsehen; und da fand er denn wirklich den vortrefflichen Mann in der beschriebenen Gesellschaft und gerade beschäftigt, die Ehre des beleidigten Vaterlandes zu rächen – ein Vorhaben, welches leichtlich für alle Beteiligten bedenkliche Folgen hätte haben können. Glücklicherweise jedoch ward es, wie wir 232 erzählt, durch die Dazwischenkunft des Obersten verhindert; welcher, nachdem auch hier alles ins gleiche gebracht worden war, endlich Zeit fand, seinen Hausgenossen mit dem Ereignis bekanntzumachen.

Wer war glücklicher als der Klempnermeister Messing!

Sie waren während ihres Gesprächs quer über den Dönhoffsplatz geschritten, welcher jetzt, in der mitternächtlichen Stunde, wie ausgestorben dalag. Ringsum brannten die Gaslaternen, aber die beiden waren fast die einzigen, denen sie noch leuchteten.

»Wollen wir vielleicht noch ein Gläschen auf das Wohl des Brautpaares trinken?« sagte der gesellige Klempner, als der Oberst vor einem Haus am oberen Ende der Krausenstraße stehenblieb.

Es war die Gastwirtschaft zum roten Adler, ein Haus, welches insonderheit von den Marktleuten des Dönhoffsplatzes begünstigt wird. Die Tür stand noch offen, so daß man bis in den Hof und auf diesem die verschiedenen Wagen, Frachtkarren und anderes Gefährt erblicken konnte. Neben der Tür befand sich ein Gemälde, auf welchem ein schöner blauer Wagen abgebildet war, mit einem altmodisch gekleideten Kutscher vornauf und mehreren altmodisch gekleideten Herren und Damen im Innern und der Umschrift: »Schesen und Frühdroschken.«

Der Oberst erwiderte mit einem Lächeln die freundliche Einladung des Klempners. »Es hat freilich Mühe gekostet, die beiden zusammenzubringen,« sagte er, »aber ich denke, wir lassen es für ein andermal, das frohe Ereignis zu feiern. Ich wollte hier nur im Vorübergehen nachsehen, wie sich der Major, der Leutnant und der Korporal befinden. Aber da alles still ist, so werden sie wohl schlafen.«

»Ah so,« sagte Messing. Er verstand. Es war nämlich das gastliche Dach, unter welchem der Oberst seinen Diener, sein Pferd und seinen Hund einquartiert hatte.

Nicht weit davon war ihr eigenes Haus, welches sie bald in seinen – und was diesen Abend betraf – schwererkämpften und wohlverdienten Frieden aufnahm.

Aber frühe schon am anderen Morgen war der Oberst wieder auf dem Posten. Denn es ist gar nicht zu sagen, wieviel er immer zu erledigen hatte, mit Besuchen, mit Wegen hin und her, und Bestellungen und Erkundigungen und allen 233 möglichen Arten von Dingen, die ihn eigentlich nichts angingen. Denn er hatte das Bedürfnis, jedem, soweit es irgend in seiner Macht stand, etwas Gutes zu tun oder zu sagen, Frieden zu stiften, Freundschaft zu stiften, Menschen zusammenzubringen, zuweilen auch solche, die gar nicht zusammen sein wollten, Grüße zu bestellen, zuweilen von gänzlich unbekannten Leuten, und Empfehlungsbriefe zu schreiben, zuweilen an Leute, die mittlerweile längst gestorben sein mochten. Sein Hauptgeschäft aber war, angenehme Nachrichten mitzuteilen; und man kann sich daher denken, wieviel er zu tun hatte, wenn er am Ende des Sommers von seinen Reisen nach Berlin zurückkam. Ordentlich ein Luftzug ging vor ihm her, wenn er mit dem Herbste wieder einrückte; und in halb Berlin, wo Bekannte einander begegneten, riefen sie sich zu: »Wissen Sie schon? Fritz Scharf ist wieder da!« Und alle freuten sich mit ihm und allen war er willkommen; er war ihnen ein sicheres Vorzeichen und eine gute Verheißung für den Winter, jene Zeit des Jahres, welche – sage man, was man wolle – für unsere Breitengrade die gemütlichste, die heimatlichste ist, mit ihrem warmen Ofen und traulichem Lampenschein, ihrem duftigen Tee oder dampfenden Grog.

Sein erster Weg am anderen Morgen, nachdem er am Abend vorher die Ehe zwischen Fräulein Aurelie und dem Künstler Wilhelm Bestvater gestiftet und hierauf spät in der Nacht noch dem jungen Meister Messing die Freudenbotschaft überbracht hatte, war zu der Straßburger Familie, von der er seit vielen Monaten nichts mehr gesehen und gehört hatte.

Der Morgen war trüb und rauh; so recht ein Morgen, der uns die Schauer des Herbstes schon empfinden läßt. Aber ein Hauch von immerwährender Schönheit und Anmut und Wärme des Lebens, ein Duft wie von unvergänglichem Frühling war, wo Bärbel waltete; und dieser Eindruck empfing den Obersten, als er in das kleine saubere Haus zu Neu-Kölln am Wasser eintrat. Schon unten auf der Schwelle wehte der Geruch von Levkoien und Reseda ihm entgegen, und in dem Wohnzimmer, eine Treppe hoch, war Bärbel die erste, welche jubelnd ausrief: »Ah, Herr Scharf! Herr Scharf! Das ist brav! Das ist gar so brav, daß Sie wieder da sind!« Sie klatschte vor Freude in die 234 Hände, und als der Oberst ihr die seine zum Gruß reichte, da sagte sie: »Nein, ich tu's nicht anders!« und bot ihm die Wange zum Kuß.

Der Oberst ward ganz rot. Wahrhaftig, er fühlte sich beschämt; er hatte nicht recht den Mut, ein so reizendes Mädchen zu küssen. Wäre sie weniger schön, ja wäre sie geradezu häßlich gewesen, so würde er sich gewiß nicht so lange besonnen haben, schon um sie's nicht empfinden zu lassen. Aber sie war so schön, so überaus lieblich!

»Kind,« sagte er, nachdem er mehr die Luft in der Nähe ihrer Wange als die Wange selbst mit seinen Lippen berührt hatte, »kleines Mädchen, wie groß bist du geworden und wie hübsch!« Dabei stellte er sie mit beiden Händen so vor sich hin, betrachtete sie mit einer Art von Rührung und sagte noch einmal: »Wie hübsch!«

»Gelt?« sagte sie, das so natürlich gespendete Lob auch ganz natürlich findend, indem sie sich von dem Obersten losmachte und die beiden braunen dicken Zöpfe über die Schultern zurückwarf.

Jetzt erst fand der alte Glöcklin, der diese gefällige Szene nicht stören wollte, Zeit, seinen Gast herzlich zu begrüßen; und dieser, indem er sich zur Seite wandte, sah nun auch Madame Helene, die bisher still am Fenster gesessen.

»Mein Gott,« rief er, indem er sogleich zu ihr trat und ihre beiden Hände in die seinigen nahm, »wie bleich Sie sind, Madame! Sie haben viel gelitten, ich weiß es.«

Mit einer Innigkeit, die ihr fast fremd war, oder fremd geworden war, erwiderte sie den Händedruck; denn sie wußte, daß es die Hand eines Freundes sei. Wie sonst niemals hatte sie ein Gefühl der Sicherheit und des Vertrauens in der Gegenwart dieses Mannes, der in das traurige Geheimnis ihres Lebens eingeweiht war, der Alfons kannte und gleich ihr an dem Glauben festhielt, daß er unschuldig und das Opfer einer politischen Intrige sei. Heute wirkte die unerwartete Erscheinung des Freundes ganz besonders belebend auf sie, denn er kam von Frankreich. Er brachte durch seine bloße Gegenwart etwas mit sich, was sie tröstlich berührte; etwas aus der Heimat, die sie liebte, etwas von der heimatlichen Luft und den heimatlichen Klängen.

»Setzen Sie sich, mein Herr,« sagte sie mit einem schwachen Lächeln, indem sie mit der Hand auf einen Stuhl deutete.

235 »Wie ganz anders sie plötzlich aussieht!« flüsterte der Vater Bärbel ins Ohr; »wieviel frischer und wohler, als seit all der langen Zeit!«

»Ach, Vater!« erwiderte Bärbel, »wenn's nur nicht so rasch wieder entschwände!«

Der Oberst setzte sich Helene gegenüber und schaute dieser mit einem solchen Ausdruck ehrlicher Teilnahme ins Auge, daß sie wohl fühlte, wie gut er's meine und wie sehr er sie verstehe! Sie war in ein weites Gewand von heller Farbe gehüllt und sah darin aus wie eine Kranke, die nicht auf Genesung hofft. Die Wangen waren von der Erregung des Wiedersehens leise gerötet; aber die Schläfen und die Stirn schimmerten von einem fast durchsichtigen Weiß. Das Profil hatte noch die großen, edlen und schönen Linien, aber sie traten schärfer heraus, und um die Augen lagerte jener kummervolle Zug, welcher um Schonung zu bitten scheint und selbst dem Fernestehenden Achtung einflößt.

»Madame Helene,« sagte der Oberst, der ihr gegenüber unwillkürlich seine sonst so laute Redeweise herabgedämpft hatte, »und so finden Sie sich noch immer nicht ganz in Ihre neue Umgebung?«

Mit einer ablehnenden Bewegung hob sie die Hand. »Wie sollte ich?« sagte sie, ohne vom Boden aufzublicken; »mein Platz ist nicht hier.« Sie sagte das ohne jede Bitterkeit, es war nichts Vorwurfsvolles mehr in ihrer Art zu sprechen. Es war, als ob die Schwäche des Körpers auch ihre Seele milder gestimmt habe.

»Sie sehen aus, Madame,« fuhr der Oberst teilnehmend fort, »als ob Sie zuviel im Zimmer säßen und sich zu wenig Zerstreuung machten. Das ist nicht recht, Madame; Sie sollten mehr hinaus in die Luft – Sie haben die Linden, Sie haben den Tiergarten – oh, Berlin ist wirklich nicht arm an schönen Promenaden . . .«

Ihr Haupt blieb noch immer gesenkt. Langsam, mit bekümmerter Miene nahte der Vater und legte leise die Hand auf ihre Schulter. »Hörst du, liebe Helene,« begann er, »was Herr Scharf sagt? Und du weißt doch, wie gut er's mit dir meint! . . . Ach,« wandte er sich dann an diesen, »sie ist immer eine so brave, so gehorsame Tochter gewesen, aber ich habe keine Macht mehr über sie – sie scheint vergessen zu haben, daß wir sie nicht können leiden sehen, ohne mit 236 ihr zu leiden, und daß es uns schier das Herz bricht, ihr nicht helfen zu können, weil sie Hilfe von uns weder begehrt, noch annimmt. Und doch – wenn sie bedächte, daß an ihrem Wohlergehen, an ihrer Gesundheit, an ihrem Leben –« es klang wie ein unterdrücktes Schluchzen in der Stimme des Mannes, als er dieses Wort aussprach, und er mußte sich fassen, um fortzufahren, »daß an ihrem Leben unser ganzes Glück hängt! – Zweifelst du denn auch an mir, Helene?«

Sie wandte das Antlitz zu ihm empor, und ein schwaches Lächeln glitt über dasselbe. »Mein teurer Vater,« sagte sie, »das Glück – oh, wie weit ist das von uns!« Dann, als befürchte sie, zuviel gesagt zu haben und um es wieder gutzumachen, nahm sie die Hand des Vaters und drückte sie fest an sich.

»Ja, wollen Sie's wohl glauben, Herr Scharf,« mischte sich nun Bärbel wieder in das Gespräch, »daß meine Schwester – liebes Lenel,« unterbrach sie sich, »ich muß es dir sagen und ich sag' dir's hier grad heraus in der Gegenwart unseres besten Freundes . . . Ist es nicht unrecht von ihr, Herr Scharf, ist es nicht unrecht – nicht einmal in der Kutsche der Grandidiers hat sie spazieren fahren wollen, obwohl der Arzt es dringend gewünscht und die gute Frau Grandidier es ihr Tag für Tag angeboten hat. Aber sie mag den Herrn Grandidier nicht, sie mag ihn nicht.«

Forschend war das Auge des Obersten auf Helene gerichtet, forschend und vorsichtig, als ob er, ohne sich zu verraten, aus jeder noch so leisen ihrer Bewegungen ein Geheimnis erraten wolle, welches für ihn von hoher Wichtigkeit sei. Die Nähe der Unglücklichen hatte für ihn etwas Ehrfurchtgebietendes, und seine Sympathie für sie war so groß, daß er sich fortgesetzt den äußersten Zwang antat, sacht aufzutreten; vielleicht weil er dies für das geeignetste Mittel ansah, Teilnahme zu beweisen, vielleicht auch aus einer natürlichen Besorgnis, etwas zu wecken, was besser schlummerte. Doch der Name Grandidier war mächtiger als sein Vorsatz; und mit einer Stimme, so laut als man sie nur jemals an ihm gehört hatte, rief er: »Sie mag ihn nicht, und sie hat wohl Ursache dazu! – Denken Sie nicht, Herr Glöcklin, daß aus mir die verletzte Eigenliebe spreche. Von einer solchen Schwäche weiß ich mich, der Himmel sei gelobt, frei, denn ich habe lange genug in der Welt gelebt, um zufrieden mit 237 ihr zu sein, wenn ich zufrieden mit mir bin. Wofür auch Dank verlangen? Hilfreich sein ist des Menschen Pflicht – und wollte Gott, daß wir mehr daran dächten, uns das Dasein untereinander bequem und freundlich zu machen, anstatt es einander zu verbittern! Welch ein Paradies könnte diese Erde sein und wie glücklich jede Kreatur, wenn wir nur halb soviel Witz und Mühe darauf verwenden wollten, einander liebzuhaben, als einander zu hassen, einander Gutes zu tun, als einander Böses zuzufügen! Ach, Herr Glöcklin, Sie wissen, was ich für diesen Mann getan habe! Nicht an Sie denk' ich in diesem Augenblick, noch an mich – kein Wort, mein lieber Herr Glöcklin! Kann zwischen uns davon die Rede sein? Wenn ich in diese Augen rings um mich her hineinblicke, so habe ich das Gefühl, unter guten Menschen zu sein; und etwas Besseres, etwas Schöneres wünsch' ich mir nicht. Aber dieser Mann, für welchen ich mehr gewagt und mehr unternommen als für irgendeinen anderen in meinem Leben – wie hat er mir gelohnt! Haben Sie denn auch ermessen, welche Verantwortlichkeit für die Zukunft seines Sohnes ich auf mich lud, als ich diesen bestimmte, das Haus des Vaters zu verlassen und eine neue, ungewisse Laufbahn zu beginnen? Glaubt Herr Grandidier, daß ich so leichtsinnig oder so unverständig sei, das Gewicht eines solchen Entschlusses nicht zu fühlen? Aber ich schreckte dennoch nicht zurück; ich sah, daß es keinen anderen Ausweg gebe zwischen Vater und Sohn – ich schlug ihn mit dem vollen Bewußtsein der Konsequenzen ein, und ich bedaure nicht, was ich getan. Denn Eduard wird mich rechtfertigen.«

»Eduard!« fiel Bärbel ein, die lange an sich gehalten, und ihre Augen leuchteten, indem sie den Namen aussprach. »Wie selig wird die Mutter sein, wenn sie das erfährt.«

»Du,« rief Glöcklin der Tochter unwillig zu, »schweig!«

»Nein,« sagte der Oberst, »reden Sie, Bärbel, reden Sie vielmehr laut und vernehmlich. Denn ich merke wohl, daß man auch in diesem Hause sich auf ein System des Vertuschens verlegen will und unangenehme Dinge aus der Welt zu schaffen meint, wenn man von ihnen nicht spricht.«

»Ich nehme dieses Wort Ihnen nicht übel, Herr Scharf,« sagte Glöcklin, »denn Sie haben mir durch die Tat gezeigt, wer Sie sind. Aber Sie kennen auch mein Verhältnis zu Grandidier. Sie besser als irgendein anderer. Sie weisen 238 meinen Dank zurück, aber meine Dankbarkeit wird dadurch nicht verringert; und ich werde niemals vergessen, niemals, daß Sie es gewesen sind, der nach vielen Jahren der Entfremdung uns wieder zusammengeführt hat. Herrn Grandidier freilich kennen Sie nicht oder Sie müßten wissen, daß er der edelste, der beste Mann ist, wenn ich ihn auch in dieser Angelegenheit nicht verteidigen kann, sondern nur beklagen will. Glauben Sie mir, er leidet nicht weniger, eher mehr als irgendein anderer; darum schonen Sie ihn und schonen Sie mich. Durch Heftigkeit werden Sie Schlimmes nur schlimmer machen.«

»Schonung!« unterbrach ihn der Oberst; »für wen ist sie? Für denjenigen, der unrecht tut, oder für denjenigen, der unrecht leidet; für denjenigen, der die Wahrheit sagt, oder für denjenigen, der sie nicht hören will? Es ist sehr leicht, der edelste, der beste Mann zu sein, solang alles nach unseres Herzens Wunsch und Willen geht. Aber wenn die berechtigten Ansprüche der anderen sich dawidersetzen – wenn jener Lebenskampf beginnt, in welchem sich Edelmut und Güte bewähren, indem sie – und Gott weiß, unter welchen Schmerzen zuweilen! – entsagen, dann wird die Sache doch etwas schwerer! Und ich sage Ihnen, in diesem Kampfe hat Herr Grandidier sich als der hartherzige Mann und Egoist gezeigt, der er ist!«

Bärbel hatte bei dem Verweis des Vaters vorhin das Köpfchen hängen lassen. Nun aber hob sie's wieder und trat einen Schritt vor, und sah den Oberst so liebreich und so flehend an, als ob sie für Herrn Grandidier bitten wolle. »Das ist es nicht,« sagte sie; »nicht hart ist sein Herz und sein Charakter nicht selbstsüchtig – o nein, Herr Scharf, gewiß nicht! Manchmal, wenn ich mit ihm bin und ihn so recht aufmerksam betrachte – denn ich habe ihn lieb, Herr Scharf, daß ich's Ihnen nur sage – dann ist mir, als ob er weit, weit von sich selber sei und einen Rückweg suche und ihn nicht finden könne. Oh, und wie er mir dann leid tut! Doch ich glaube, daß er ihn finden wird; ich glaube.«

Dann trat sie zurück, als ob sie nun alles gesagt habe, was sie zu sagen gehabt.

Aber der Oberst nahm ihren Kopf zwischen seine beiden Hände und blickte sie lang und freundlich an. »Liebes Kind,« sagte er dann, »aus dir spricht eine reine, gute Stimme und ich will sie gehört haben! Ich will vergessen, daß er mir das 239 Haus verbieten ließ – mir das Haus verbieten! – als ich vor Jahresfrist, aus Paris kommend, freudig zu ihm eilte, um ihm Nachrichten von seinem Sohn zu bringen. Ich will vergessen, daß er diesen Sohn verleugnet hat und lieber sein Haus veröden sah, als dem Gesetze der Natur sich zu fügen; und ich will nicht wünschen, daß er in seinem Trotz verharre, bis diese dunkle, geheimnisvolle Macht, welche gewaltig ist über dem Menschen, ihn gänzlich zu Boden geschmettert hat. Denn es ist ja noch nicht alles verloren. Noch steht es bei ihm; und was ich etwa tun kann, ihm den Schritt zu erleichtern, das will ich gewiß nicht versäumen, obwohl es mich nicht wenig Selbstüberwindung kosten wird. Und nun, mein liebes Mädchen, sind Sie mit mir zufrieden? Und Sie, Herr Glöcklin – geben Sie mir die Hand! Nichts für ungut. Wenn ich nicht zuweilen mich selbst vergessen könnte, wofür wär' ich dann der Oberst?« Er lachte, strich sich den Schnurrbart und blickte sie hierauf alle drei der Reihe nach gutmütig an. Dann setzte er sich auf seinen Platz, Helene gegenüber, die wieder in ihre frühere Apathie gesunken schien.

»Madame,« sagte er, indem er aufs neue ihre Hand ergriff, als wolle er sie zur Teilnahme an den Dingen und Angelegenheiten des Lebens zurückrufen; und sie schlug ihr blaues, schwermutvolles Auge auf. »Sie wissen, daß ich in Paris gewesen bin . . .« Er zögerte, weiterzureden.

»Nun,« fragte Helene mit ihrem traurigen Lächeln, »was erzählen Sie mir von dieser Stadt, deren Namen mich an die glücklichsten und die traurigsten Ereignisse meines Lebens erinnert, und an die zu denken mir einen Trost gewährt – freilich einen solchen, der nur betäubt . . .«

Jede Wendung des Gesprächs, welche das Land ihrer Sehnsucht und ihres Schmerzes berührte, schien mitten in der Flucht und Wanderung ihrer Gedanken sie zu bannen. Sie horchte nun auf, nicht gespannt, aber mit einer gewissen ruhigen Erwartung, als ob alles, was von dort komme, ihr ebensogut das Leben als den Tod bringen könne. Dem beobachtenden Blick des Obersten entging diese Wirkung nicht. Unmöglich, daß sie schon davon weiß! dachte er – und dann auf die vorhin an ihn gerichtete Frage Helenes einlenkend, sagte er: »Sie wünschen Neuigkeiten aus Paris, aber es gibt deren nicht viele; und diejenigen, die es gibt, werden für Sie keine Neuigkeiten mehr sein.«

240 »Für mich?« entgegnete Helene mit einem leisen, wehmütigen Zucken um den Mund. »Ich bin eine Verschlagene, mein Herr; ich lebe an einer fernen, fremden Küste, zu der kein Laut aus der Heimat dringt.«

»Auch keine Zeitung?« forschte vorsichtig der Oberst.

Helene schüttelte verneinend das Haupt. »Es wäre wohl süß, täglich von Paris zu hören. Aber in dieser Nahrung ist Gift –« sie sah dabei den Vater an mit einem Ausdruck, als wolle sie hinzufügen: »Und du willst ja, daß ich leben soll!«

Der Oberst war auffallend erregt. Er griff in die Brusttasche seines Reitfracks, aus welcher im Verlaufe dieser Erzählung schon so manches zum Vorschein gekommen ist, was von entscheidendem Einfluß auf das Schicksal ihrer handelnden Personen war. Aber seine Hand war diesmal nicht sicher. Er zauderte; das, was er der Leidenden mitzuteilen hatte, war offenbar von einer erschütternden Natur – er fürchtete die Überraschung und suchte gleichsam tastend seinen Weg. »Der Dezembermann sitzt noch immer auf dem Throne,« sagte er; »aber er ist liberal geworden. Das ist seine neueste Maske.«

»Daß es seine letzte wäre!« rief Helene. »Wann wirst du dich erheben – wann wirst du frei, wann endlich wieder du selber sein, mein geliebtes Frankreich!«

»Auch ich,« versetzte der Oberst ernst, »wiewohl ein Fremder, liebe Frankreich. Welcher Freund der Freiheit könnte vergessen, daß es Frankreich war, welches der Welt einst die Freiheit gab? Und dieser, wenn der vornehmste, ist doch nicht der einzige Anspruch, welchen es auf unsere Dankbarkeit hat. Welcher gebildete Mann möchte die französische Literatur, die französische Kunst, dieses verfeinernde Element, entbehren, welches Frankreich der allgemeinen Kultur mitgeteilt hat? Wer, der jemals unter Franzosen gelebt, kann anders als mit Entzücken von der Urbanität ihrer Formen, der Liebenswürdigkeit ihres Umgangs und der Höflichkeit ihrer Herzen sprechen? Ach – hätten wir in Deutschland nur etwas, nur so viel als einen Geschmack davon. Aber diese lange, traurige Kaiserzeit hat tiefe, verderbliche Spuren gezogen. Ein Volk wird nicht zwanzig Jahre lang von einem Meineidigen regiert, ohne daß sein Charakter darunter litte. Der Geist der Unwahrheit ist mächtig geworden in Frankreich, und die Verbannung und der Kerker haben das übrige getan . . .«

241 »Aber ein Tag wird kommen,« entgegnete Helene mit immer größerem Eifer, »an welchem mit der Freiheit auch die Wahrheit ihr Haupt wieder erheben kann; ein Tag, an welchem die Verbannten heimkehren und die Kerker sich öffnen . . .«

Der Oberst erhob sich. Der Augenblick war gekommen, und jetzt holte er das Zeitungsblatt wirklich hervor. Die Umständlichkeit, mit welcher er sonst dergleichen Bewegungen auszuführen pflegte, nahm etwas Feierliches an, indem er, aufrecht vor Helene stehend, sie mit den Worten anredete: »Ein Kerker wenigstens hat sich geöffnet.«

Es war, wie wenn ein Blitz die Dunkelheit zerreißt, so daß man in einem Moment und mit einem Blick Nahes und Fernes übersieht. Helene, mit dem geschärften Sinne derjenigen, die sich immer nur mit einem Gegenstand beschäftigt haben, begriff sogleich alles.

»Alfons!« rief sie mit durchdringendem Aufschrei. Es war das erstemal, daß dieser Name innerhalb dieser Wände genannt worden. Auf beide Lehnen des Sessels gestützt, hob sie sich zu ihrer ganzen Höhe, die Pulse klopften, die Schläfen bewegten sich, der Busen wogte; es war, als ob ein neues, starkes Lebensfluidum die ganze Gestalt durchströme, und statt der gebrochenen Erscheinung stand, wie durch Verwandlung, ein schönes Weib da, das Auge voll Feuer, die Seele voll Leidenschaft – jede Sehne gespannt, alles an ihr zitternd in stürmischer Erwartung.

»Alfons ist frei!« sagte der Oberst.

Da ward ihr Gesicht wieder bleich. Ihr schwindelte. Sie konnte sich nicht aufrechterhalten. Sie sank zurück in den Sessel; das Haupt neigte sich gegen die Brust . . . man würde sie für leblos genommen haben, wenn nicht ihre Lippen sich bewegt hätten, leise stammelnd, Wort für Wort: »Alfons – ist –frei!«

Bärbel stürzte zur Schwester hin und warf sich an ihrer Seite nieder. »Helene,« rief sie schluchzend, »teure, teure Schwester!« Und sie barg das Antlitz, von Tränen überströmt, im Schoße der allmählich zum Bewußtsein Zurückkehrenden.

Nur gewaltsam beherrschte Glöcklin seine Bewegung. »Alfons ist frei . . .« wiederholte er, und ein leises Vibrieren in der Stimme des vom Schicksal so vielfach Geprüften verriet allein, welchen Widerstreit von Empfindungen diese 242 Nachricht in seinem Innern hervorrief – Liebe zur Tochter, Kummer um den Verlorenen und ein unsäglich banges Vorgefühl von kommendem Unheil. »So ist er vom Kaiser begnadigt worden?« fragte er zuletzt zögernd.

Der Oberst vermied, direkt darauf zu erwidern. »Ich habe damit begonnen,« sagte er, »Ihnen das Gute mitzuteilen; machen Sie sich nun gefaßt, auch das andere zu hören.«

»Das Gute?« rief Helene mit einem Tone großer Sicherheit und Zuversicht; »gibt es denn noch etwas Besseres? Oder gibt es etwas, und sei es noch so schlimm, was diese Tatsache wieder aufheben kann? Alfons ist frei – Alfons lebt! Das ist genug für mich, um auch wieder zu leben.«

Sie setzte sich ruhig hin, um zu hören. Sie war ein anderes Wesen geworden. Die Erschütterung des ersten Momentes war gewichen; aber nicht die Abspannung war ihr gefolgt, sondern das Gleichmaß und die Stetigkeit der wieder erwachten Lebenskraft.

»Nein, Herr Glöcklin,« wandte sich der Oberst nun zu diesem, »Alfons ist nicht begnadigt worden. Aber er steht gerechtfertigt vor Frankreich da, seitdem dieses Blatt hier gesprochen hat.«

Und er öffnete die Zeitung, in welcher man sogleich eines von den Organen der äußersten Linken erkannte, welche, wie man weiß, in jener Phase des Scheinliberalismus in Paris auftauchten und den Sturz des Kaisertums so wirksam vorbereiten halfen.

»Freilich,« sagte der Oberst, »man sagt nicht ungestraft die Wahrheit in Frankreich, und dieses Blatt hat es zunächst die Konfiskation und alsdann die Suspension auf sechs Monate gekostet. Aber ganz Frankreich weiß doch, was es gesagt hat; und Sie sollen es jetzt auch wissen.«

Hierauf schlug er das große Blatt auseinander und las wie folgt:

»Man erinnert sich eines Kriminalprozesses, welcher vor ungefähr anderthalb Jahren –«

Der Oberst unterbrach sich. »Das Blatt ist vom Mai dieses Jahres,« sagte er; »so lang ist es her, seitdem alles dies sich zugetragen, und Sie haben nichts davon vernommen?«

»Nichts,« erwiderte Helene; »doch fahren Sie fort.«

»Eines Kriminalprozesses, welcher vor ungefähr anderthalb Jahren ungemeines Aufsehen erregt hat. Ein junger, bis 243 dahin unbescholtener Mann, kaiserlicher Beamter, Namens Alfons Grandidier, war wegen Diebstahls, begangen an einer öffentlichen Kasse, zum Bagno verurteilt worden. Die näheren Umstände dieses Falles drangen damals nicht in das Publikum; aber Gerüchte verlautbarten, denen zufolge politische Motive mitgewirkt haben sollten, sowohl an der Schuld wie an der ungewöhnlich harten Strafe, mit der man sie geahndet. Diese Stimmen wurden freilich bald zum Schweigen gebracht, und der Unglückliche, der seine Haft im Bagno verbüßte, ward vergessen. Doch ein außerordentlicher Umstand trat ein, welcher ihn in das Gedächtnis Frankreichs zurückrufen sollte. Das Dunkel eines entsetzlichen Geheimnisses hellte sich auf.

Vor kurzem fand man in seiner Wohnung, Rue Geoffroy-Marie, einen Mann erhängt, welcher, solang er gelebt, für ein ergebenes Mitglied unserer Partei gegolten hatte. Dieser Mann hatte, als unser Delegierter, den Friedens- und Freiheitskongressen beigewohnt, welche in Bern unter Bakunins Leitung stattfanden und eine Rolle auf denselben gespielt; er besaß so sehr unser Vertrauen, daß uns selbst ein gewisser übertriebener Eifer nicht auffiel, mit welchem er beständig zu gefährlichen Unternehmungen drängte, daß wir vielmehr nur suchten, ihn von dergleichen zurückzuhalten. Aber immer war er geschäftig in unserer Sache, seine Verbindungen reichten weit und waren vielfach verzweigt. Nichts Verdächtigendes gegen ihn lag vor; und erst bei seinem Tode sollte die ganze schreckliche Wahrheit ans Licht kommen. Er hatte seine Rolle meisterhaft gespielt, aber er war ihr zuletzt nicht mehr gewachsen. Sie erdrückte ihn; er endete, von seinem Gewissen übermannt, als Selbstmörder. Und vielleicht würden wir auch jetzt noch ohne Schlüssel zu dem Verbrechen seines Lebens sein, denn auf die Nachricht seines Todes war die Polizei sogleich zur Stelle, um alles zu beseitigen, was sie kompromittieren könne. Doch ein Brief, von dem Manne geschrieben, kurz bevor er Hand an sich gelegt, und an einen hervorragenden Führer unserer Partei gerichtet, gelangte an seine Adresse; und in diesem Briefe, welcher, wenn erforderlich, produziert werden wird, klagte jener sich an, im Solde der geheimen Polizei des Kaiserreiches gewesen zu sein und sich in unsere Freundschaft eingeschlichen zu haben, um uns zu verraten. Lang war die Liste jener Fälle, in denen er als »Mouchard« 244 oder »Agent provocateur« mitgewirkt, groß die Zahl seiner Opfer, und unter ihnen war Alfons Grandidier. Keine seiner Handlungen scheint ihm so tiefe Reue verursacht zu haben, weil keine so teuflisch erdacht, so ganz aus der Lust am Unheil hervorgegangen war als diese. Jeder andere, der ihm in die Hände fiel, hatte gewissermaßen den hohen Einsatz gewagt aus freiem Entschluß und mit einer bestimmten Absicht. Aber die Seele dieses Unglücklichen war rein und unerfahren wie die eines Kindes, und wenn man ihn zu einem Verbrecher machen wollte, so mußte man ihn in das Verbrechen hineinstoßen. Und das war es, was jener Erbärmliche tat. Aus seinen Geständnissen geht hervor, daß er sich in einen Kreis junger, republikanisch gesinnter Männer eingedrängt hatte, welche harmlos genug waren, durch seine aufreizenden Reden sich so weit hinreißen zu lassen, um ein Attentat gegen das Leben des Staatsoberhauptes zu planen und sich zu diesem Zweck in den Besitz kleiner explodierender Körper, sogenannter Handgranaten, zu setzen. Es war ein trauriges und hoffnungsloses Unternehmen, zu welchem, nach den Erfahrungen, die wir gemacht, nur noch junge, abenteuerliche Köpfe sich gebrauchen lassen; denn wann hätte ein solcher Versuch zum Ziele geführt, wann wäre er nicht verraten und – mehr noch! – wann nicht angestiftet worden von denen, die, nach dem sicheren Mißlingen, Vorteile gegen die Freiheit daraus zu ziehen gedachten? Der Hauptschuldige, derjenige, der die Granaten anfertigte, ein Chemiker, war der intime Freund Alfons Grandidiers, und durch ihn glaubte man auch diesen in jenes Abenteuer verwickeln zu können; allein er widerstand – er lehnte jede Teilnahme von sich, er brach sogar den Verkehr mit dem Freunde, nachdem er ihn vergeblich zu warnen versucht, ab. Das war zu viel für den Mann, der nicht gewohnt war, auf halbem Wege stehenzubleiben; wenn er sich vergeblich an den Ehrgeiz gewandt hatte, so versuchte er es nun mit dem Herzen Alfons Grandidiers, und diese Berechnung täuschte – leider! – nicht.

Eines Tages, im Februar 1868, ward Paris beunruhigt durch die Nachricht, daß eine Verschwörung entdeckt worden sei – Verhaftungen wurden vorgenommen, Haussuchungen angeordnet, und bei dem Haupte der Verschworenen fand man in der Tat einen Kasten, gefüllt mit einer neuen Art von Orsinibomben; der Verfertiger war verschwunden, 245 aber die ganze Polizei war in Tätigkeit, um seiner habhaft zu werden. Da klopfte es in einer späten Stunde der Nacht an Alfons Grandidiers Haus – man öffnet, und ein Mann erscheint, welcher in größter Aufregung den Herrn zu sprechen verlangt. Nicht lange, so stehen sich die beiden gegenüber, die sich bei einer jener Zusammenkünfte gesehen haben – der einzigen übrigens, welche Monsieur Grandidier besucht. Der Mann kommt als Bote des Verfolgten, dessen Leben auf dem Spiele steht. Nur noch diese Nacht gehört ihm – morgen, wenn es ihm nicht gelingt, zu entfliehen, wird sein gegenwärtiges Versteck ihm keine Sicherheit mehr gewähren. Aber ihm fehlen die Mittel zur Flucht. Alfons ist in Verzweiflung. Er ist kein reicher, nicht einmal ein wohlhabender Mann, und die Frist ist so kurz bemessen, daß er auch keine Schritte tun kann, um die Summe herbeizuschaffen, die er selber nicht besitzt. Die beiden beratschlagen; der Mann, der sich auf dergleichen versteht, dringt in ihn – und am anderen Morgen entnimmt Monsieur Grandidier die Summe, deren der Freund zu seiner Rettung bedarf, der ihm anvertrauten öffentlichen Kasse. Das Ende kennt der Leser: Am Abend desselben Tages ward der eine der Freunde in Havre de Grace und der andere in Paris verhaftet. Jener war der Glücklichere; von dem Schiffe, welches sich schon in Bewegung gesetzt, um ihn nach England zu bringen, stürzte er sich ins Wasser, und mit dem Gelde, welches seinen Freund ins Unglück gebracht, ertrank er vor den Augen seiner Verfolger; dieser ward zum Bagno verurteilt.

Die Enthüllungen des Verworfenen, welcher in seinem Leben diejenigen betrog, die ihm vertraut, und in seinem Tod diejenigen, die ihn bezahlt, sind nicht ohne Folgen geblieben. Wir wagen keinen direkten Zusammenhang anzunehmen, aber die Tatsache ist, daß es vor kurzem dem Sträfling des Bagno gelang, aus seiner schmählichen Haft zu entkommen. Ob auch an anderer Stelle das Gewissen sich geregt? Ob man durch Begünstigung seiner Flucht einen Teil der Schuld abzutragen gedacht? Wer weiß es? Wir wissen nur, daß Alfons Grandidier frei ist, und unsere besten Wünsche begleiten ihn bis zu dem Tage, wo wir es auch sein werden.«

Der Oberst schwieg, und auch die anderen schwiegen; aber jener war der erste, der das Wort wieder ergriff, um sich zu entschuldigen, daß er mit der Mitteilung dieser 246 Nachricht so lange gezögert. Er habe geglaubt, daß sie längst unterrichtet seien und aus erklärlicher Rücksicht nicht davon sprechen mögen, bis sie mit ihm davon gesprochen hätten. Er konnte nicht begreifen, daß Alfons nicht geschrieben, daß er seinen jetzigen Aufenthaltsort nicht angegeben und ein regelmäßiger Verkehr zwischen den Getrennten auf diese Weise wieder begonnen habe. »Daß er sicher nach London gelangt ist,« sagte der Oberst, »das steht fest, denn aus der dortigen Flüchtlingskolonie habe ich Nachricht über seine Anwesenheit erhalten. Als aber die französische Regierung – welche ihre Konnivenz wahrscheinlich nicht so weit treiben wollte, wenn sie überhaupt beteiligt gewesen, woran ich zweifle – denn wo hätte diese Regierung ein Gewissen? . . . als sie, sage ich, die Auslieferung verlangte, welche die englische Regierung nicht hätte verweigern können, weil es sich ja nicht um einen politischen Flüchtling handelte, da verließ Alfons London, um nach den Vereinigten Staaten auszuwandern, und dort ist seine Spur verschwunden. Aber Sie sollten es doch wissen, Madame Helene!«

»Nein,« sagte diese, »ich weiß es nicht, und so wie ich Alfons kenne, wird er auch für mich verschollen bleiben. Er ist zu stolz, und er fühlt in allem, was die Ehre betrifft, zu fein, um vor mich hintreten zu mögen, solange das Brandmal einer Schuld, derentwegen man ihn noch immer verfolgt, nicht von ihm, von unserem Namen hinweggenommen ist. O mein Alfons, mein Geliebter, wo weilst du nun?« – Sie bedeckte das Gesicht mit den Händen. »Aber du lebst, du lebst!« – so brach der Jubel aufs neue hervor, den Schmerz besiegend – »mein Leben hat wieder einen Zweck, und mein Herz sagt mir, daß ich dich wiederfinden werde.«

In diesem Augenblick ließ sich draußen von der Treppe her eine helle, frische Knabenstimme vernehmen. Es war George, der aus der Schule heimkam. Mit dem Tornister auf dem Rücken, der Mütze in der Hand, ein Bild der Gesundheit und Jugendlust, stürmte er ins Zimmer.

»Mama!« rief er, sich kaum Zeit lassend, seine Bürde abzuwerfen, »sieh, was ich dir heute bringe!« Dabei hielt er ein blaues Schreibheft hoch empor als Zeichen irgendeines Triumphes, den er heute in der Schule gefeiert.

Helene, als sie des Knaben ansichtig ward, eilte ihm entgegen, drückte ihn leidenschaftlich an die Brust und überhäufte 247 ihn mit Küssen. »Jetzt darfst du wieder Vater sagen,« rief sie; »jetzt hast du wieder einen Vater, George! Dein Vater lebt! Dein Vater ist frei!«

Wer möchte sich indessen über das Herz eines Kindes täuschen? Derjenige, den die Mama »Vater« nannte, war für ihn ein Unbekannter, einer, dessen er sich kaum noch erinnerte. Wohl mußte er den »Vater« allabendlich in sein Nachtgebet einschließen, aber er hatte dadurch, daß er ihn bei Tag niemals erwähnen, niemals von ihm sprechen hörte, für ihn um so mehr etwas Fremdes, ja Unheimliches erhalten – etwas, wovor er sich fürchtete. Er brach daher bei dem Ungestüm der Mutter in Tränen aus. Dann stand er ratlos da, dann verstummte er, und dann suchte er an der Brust der Mutter Schutz vor dem unbekannten Etwas, das ihn ängstigte – vor dem Vater!

Helene jedoch schloß ihn heftig an sich und ließ ihn nicht mehr aus ihrer Umarmung; und wer sie nun sah, das Pfand ihrer Liebe fest umschlingend, mit energischem Gesichtsausdruck und die feinen Umrisse der Gestalt mit elastischer Kraft gefüllt, der konnte sich wohl sagen, daß die Flamme, die dem Erlöschen so nahe schien, nur neuer Nahrung bedurft habe, um wieder hoch emporzuflackern. Die Hoffnungslosigkeit würde sie getötet haben. Die Aussicht auf Kampf gab sie dem Leben zurück.

 


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