Julius Rodenberg
Die Grandidiers
Julius Rodenberg

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Die neue Heimat

Am andern Morgen, sehr früh schon, war Matthias Glöcklin bei seinem Freunde, der nun in gewisser Weise sein Brotherr werden sollte. Der bereits alternde Mann, dem im Leben so wenig geglückt war, schreckte vor diesem Gedanken nicht zurück. Er hatte sich darein ergeben, nichts weiter zu sein als ein Arbeiter; er hatte kein anderes Verlangen als nach der tröstenden Kraft der Arbeit, welche er oft genug erprobt und welche ihm während der letzten Zeit versagt worden war. Er war einer der Menschen, von denen die Welt sagt: sie haben kein Glück; aber die Welt weiß nicht oder bedenkt nicht, daß unter diesen Fehlschlägen und Mißerfolgen sich zuweilen eine Fähigkeit erhält, der bescheidenen Geschenke des Tages, vor allem der erfüllten Pflicht froh zu werden, welche mit dem Besitze großer und glänzender Stellungen nicht immer verbunden ist. Und am Ende – was ist das Glück? Besteht das Glück nicht ebensosehr in der Resignation als im Genuß – vielleicht, wie das Leben einmal ist, mehr noch in jener als in diesem?

Übrigens tat Herr Grandidier alles, um seinem Freunde den Verlust der Selbständigkeit sowenig als möglich fühlbar 159 zu machen; er hatte ihm die Stellung eines Direktors seiner weitläufigen Fabrikanlage zugedacht und sich vorgenommen, ihn durch nichts daran zu erinnern, daß er von ihm abhängig sei – ein Entschluß, der ihm durch seine gegenwärtige Gemütsverfassung sehr erleichtert wurde. Denn was ihn auch bestimmt haben mochte an jenem Abend, an welchem er zuerst seiner Familie die hochherzige Absicht mitgeteilt, einem Sinkenden zu Hilfe zu kommen, jetzt, wo er da war, nach der veränderten Sachlage, brachte der Gerufene ihm mehr mit, als er ihm erwidern konnte. So frühe schon sollte sich eine Tat belohnen, die der reinsten Empfindung, fern von jedem Eigennutz, entsprungen war. Was er dem alten Kameraden bot, war nur ein Feld erneuter Tätigkeit; aber dieser gab ihm dafür die Gesinnung des Freundes, deren er in seiner Vereinsamung bedurfte, und die Ehrlichkeit und Treue des Werkmeisters, dessen er bald ebensosehr bedürfen sollte.

Denn eine merkliche Veränderung, die niemand entgehen konnte, wenn er sie sich selbst auch nur zögernd gestehen mochte, war mit Herrn Grandidier geschehen. Er kam sich, wenn er aufrichtig gegen sich selbst war, in einzelnen Momenten zuerst, dann aber immer häufiger verarmt vor gegen sonst. Ihm war zumute, wie wenn er von der Höhe seines früheren Glücks und aus seiner Sicherheit herabgestürzt sei. Er hatte das Vertrauen in die Zukunft und noch mehr zu sich selbst verloren. Er kämpfte dagegen an; aber dieser Zustand bemächtigte sich seiner immer dauernder und ausschließlicher. Er wunderte sich, daß die Welt immer noch ihren gewohnten Schritt fortgehe, nachher wie vorher; er erschien sich plötzlich so klein gegen jenen Willen, über welchen der seine keine Macht gezeigt hatte – nicht demütig war er, aber gedemütigt. Sein Stolz gab nach wie etwas sehr Unzuverlässiges; er bot ihm keine Stütze mehr. Er kam sich einsam vor in seinem eigenen Hause. Seine Frau, seine Kinder – sie verstanden seinen Schmerz nicht; von ihm hatte sich Eduard losgerissen, nicht von jenen. Mochten sie den Schritt des Sohnes, des Bruders milder oder strenger beurteilen, ihn verdammen oder entschuldigen: sie begriffen nicht entfernt, was er für den Vater gewesen. Sie lebten weiter mit etwas mehr oder weniger Kummer, wie sie bisher gelebt. Er aber faßte sich an den Kopf und fragte sich, ob dies noch die Welt von gestern sei? So verwandelt schien ihm 160 alles, obwohl im Grunde doch nur er es war. Wie wenig verstand ihn seine Umgebung; jetzt noch weniger als vordem. Den unruhigen, polternden Herrn Grandidier glaubten sie gut genug gekannt zu haben, der stille, geduldige war ihnen ein Rätsel. Sie wußten nicht, und er selber wußte vielleicht noch nicht, daß weder Reue noch Kummer ihn beherrschte, nicht einmal Bitterkeit, sondern nur Wehmut – das unaussprechlich tiefe Weh der Verlassenheit. Er sagte sich nicht, daß er durch ein Verschulden seinerseits diesen plötzlichen Zusammenbruch seiner Hoffnungen, seines Lebensglücks und seiner Zukunft herbeigeführt, er machte sich keinen Vorwurf und haderte mit niemand. Aber ihm war, als ob er erst jetzt inne werde, wie sehr er seinen Sohn geliebt, was er ihm hätte sein können; und obwohl niemand in seiner Gegenwart jemals von Eduard sprechen durfte, so waren seine Gedanken doch immer mit ihm beschäftigt. Der sonst so praktische Mann, der immer nur die nächsten, vor ihm liegenden Ziele verfolgte, wandte sich der Gegenwart ab und der Vergangenheit zu; sogar sein Geschäft, für welches er bisher alles geopfert, selbst seinen Sohn – es ist schwer zu glauben, aber auch sein Geschäft fing an, für ihn das Interesse zu verlieren. In dieser Stimmung traf ihn Matthias Glöcklin.

Zwar leuchtete noch hin und wieder das alte Feuer in Herrn Grandidier auf, und heute, an diesem Morgen, als er den Jugendfreund durch die weiten und ausgedehnten Räume seiner Fabrik führte, schien er wieder ganz der Mann, der allein für seine Tätigkeit lebt und dem über alles der Ruhm des Hauses geht. Matthias Glöcklin war voll Staunen und Bewunderung, als sie so von Saal zu Saal und von Stockwerk zu Stockwerk gingen; wenn er auch wohl wußte, was die Firma Grandidier bedeute: so groß hatte er sich das Etablissement dennoch nicht gedacht. Was war dagegen die Pariser Fabrik im Faubourg St. Antoine, in welcher sie vor vielen Jahren gearbeitet – sie beide damals arme, wandernde Gesellen! Und jetzt – was für eine Mann war Grandidier! Mit einer Art von Ehrfurcht ruhte sein Blick, den kein neidischer Nebengedanke trübte, auf dem erfolgreichen Kameraden. Dieser Fabrikgeruch, der sonst nichts Verführerisches hat, war ihm wie eine Heimatsluft und der Anblick Hunderter von fleißigen Händen wie die Verheißung eines neuen Heimatsrechts.

161 Herr Grandidier stellte seinen Freund den Arbeitern als ihren künftigen Direktor vor, und in ihrer eigenen Sprache und nach ihren eigenen Bräuchen tauschte Herr Glöcklin den Handwerksgruß mit ihnen aus, so daß sie, die von seiner Ankunft schon vorher unterrichtet gewesen, einander billigend zuriefen, indem er mit Herrn Grandidier weiter ging: »Es scheint ein recht netter Mann zu sein!«

»Und was mich wundert,« setzte einer von den Altgesellen hinzu, indem er mit einer ungeheuren Bürste in seiner Hand einen Augenblick Pause machte; »was mich wundert, das ist seine Sprache.« Der Mann hieß Haberecht, der alte Haberecht genannt. Aber nie hat ein Mensch seinen Namen mit weniger Grund geführt; denn weit entfernt, recht haben zu wollen, war er vielmehr seelenfroh und wünschte sich nichts Besseres, als anderen recht geben zu können – so viel recht als sie nur wollten. Es gab im weiten Reiche der Schöpfung keine sanftere, friedfertigere Kreatur. Er hatte das Gemüt einer Taube, wiewohl er in seinem Äußeren mehr dem Bilde des Fuchses glich, gelblich rote Haare, einen gelblich roten Bart, und seine Augen, obgleich sie vielleicht nicht gelblich rot sein mochten, sahen doch so aus. Außerdem trug er eine kolossale Lederschürze, die wegen der Beize, mit der er immer zu tun hatte, gleichfalls gelblich rot geworden war und auf irgendeine Weise untrennbar wie die eigene Haut zu ihm zu gehören schien. Der alte Haberecht konnte daher nicht für das Muster eines schönen Mannes gelten. Allein trotzdem sein Name und auch sein Aussehen darauf berechnet war, seine Mitmenschen zu täuschen, war er doch ein ehrlicher und treuer Gesell und schon seit vielen Jahren in dieser Fabrik, die er hatte wachsen sehen bis zu ihrer heutigen Größe.

»Wieso denn, was meinst du denn eigentlich, Haberecht?« warf ein junger Kamerad ein, dessen Lederschürze, wenn man so sagen darf, einen etwas zierlicheren Schnitt hatte, der überhaupt mehr auf sein Äußeres zu halten schien, jeder Bewegung, sogar der seines Bügeleisens, einen gewissen angenehmen Schwung zu verleihen wußte und dabei von einer so fröhlichen Gemütsart war, daß er unter seinen Kameraden nur der »fröhliche Karl« genannt wurde – Familienname dem Verfasser dieses Romans unbekannt. – »Ich möchte man bloß wissen, wie der Mann sonst sprechen sollte, damit du dich nicht zu wundern brauchtest.«

162 »I,« versetzte der alte Haberecht mit einem Blick, der viel schlauer aussah, als er in der Tat gemeint war – denn dies war nun einmal das von der Natur ihm bestimmte Los – »ich habe doch gehört, daß der Mann aus Frankreich her sein soll.«

Da jedoch setzte der fröhliche Karl das Bügeleisen auf die Tischplatte und stemmte mit einer Eleganz, die nur ihm eigen war, beide Arme in die Seiten. Der fröhliche Karl war nämlich ein großer Patriot, und in seinem Herzen war nicht nur für die hübschen Mädchen, blond, braun und schwarz, sondern auch für das ganze deutsche Vaterland Platz. Nicht umsonst war er Mitglied des Turnvereins »Deutsche Eiche« und des Sängerbunds »Lyra«. Mit gehobener Figur und Stimme sagte er daher: »Das willst du Frankreich nennen? Straßburg soll französisch sein? Nimmermehr,« und dabei ergriff er das Bügeleisen wieder und hob es in die Luft mit ausgestrecktem Arme, wie es dem Turner ziemt, »solange ich lebe, bleibe ich dabei: Straßburg ist deutsch!« Und bei dem letzten Wort stieß er das Bügeleisen wieder auf den Tisch, daß die halbfertigen Hüte ringsherum zitterten.

Der alte Haberecht wich ein paar Schritte zurück; denn seine Sache war die Bürste und nicht das Eisen. »Karl, echauffier dich nicht!« sprach er. »Was hab' ich denn anders gesagt, als es wundert mich, daß sie in Straßburg Deutsch sprechen und nicht Französisch.«

»Ist dir denn das noch nicht genug?« rief der fröhliche Karl außer sich. »Das ist ja der deutlichste Beweis für meine Rede, daß Straßburg deutsch ist und nicht französisch! Und wenn ich in Bismarcken seiner Stelle gewesen wäre, so hätte ich mir im vorigen Jahre die gute Gelegenheit mit Luxemburg nicht so entwischen lassen. Immer druf! hätte ich gesagt.«

Der fröhliche Karl war von einem äußerst erregbaren Temperament, und er konnte in so gut wie gar keiner Zeit der zornige Karl werden, besonders in der Politik, und dann sah er fürchterlich aus. Er war sich mit beiden Händen durchs Haar gefahren und hatte eine Stellung angenommen, die etwas Außerordentliches ankündigte, wenn sich auch noch nicht vorhersagen ließ, worauf es eigentlich hinauslaufe.

»Meinswegen,« lenkte der alte Haberecht ein, »mir jeht et nischt an und dir ooch nich.«

163 Da war jedoch der Moment gekommen. Die beiden Arme fest auf den Tisch gestemmt, den rechten anliegend an der Hüfte, ohne Ansatz und mit geschlossenen Füßen vollführte der fröhliche Karl den großen Sprung, der ihn unmittelbar und ohne daß diesem Zeit geblieben wäre, Sicherheit aufzusuchen, dicht vor den alten Haberecht brachte. Dieser Sprung war es, auf welchen der fröhliche Karl sich am meisten einbildete; er war in der Tat bewunderungswürdig, und keiner in der ganzen Turngemeinde kam ihm darin gleich. »Was?« rief er, indem er sich mit der flachen Hand einen Schlag vor die männliche Brust versetzte, »mir soll et nischt anjehn? Wem denn? Et jeht mir was an und et jeht dir was an und et jeht dem janzen deutschen Vaterland was an, und laß de Franzosen sich man bloß noch eenmal mausig machen – dat erste, was wir uns wieder holen, is Straßburg, das deutsche Straßburg! So, nu weeßt et!« schloß er, und dann, auf die Linke gestützt, schwang er sich mit derselben Grazie wie vorhin wieder über den Tisch zurück, konnte sich aber nicht enthalten, mit dem Bügeleisen noch einmal zur Bekräftigung seiner Worte heftig aufzuschlagen.

»Stille doch!« ermahnten ihn seine Kameraden, »der Chef ist da!«

Dieser war in der Tat mit Glöcklin auf der oberen Galerie erschienen, von welcher man in den Saal hinabsehen, so wie man von dort aus gesehen werden konnte.

»Er kann's hören, wenn er will,« versetzte der fröhliche Karl. Er war zu aufgeregt. Dinge von patriotischer Tendenz hatten immer diese Wirkung auf ihn; und wenn es seinen Freunden gelungen war, den Turner in ihm zu beschwichtigen, so hatten sie darum noch keine Macht über das Mitglied des Sängerbundes. Dieses vielmehr erwachte nun unaufhaltsam, erst leise summend, dann immer deutlicher und lauter – und hier fiel einer ein und dort einer, und endlich – denn der deutsche Gesang hat nun einmal diese Gewalt! – ward es zum vollen Chore, und von vielen kräftigen Männerstimmen gesungen, brauste durch den Arbeitssaal das herrliche Lied mit den wehmütig ergreifenden Worten und der herzbewegenden Melodie: »O Straßburg, o Straßburg, du wunderschöne Stadt . . .«

In diesem Augenblick, während der Gesang verhallte, war Herr Grandidier an die Brüstung der Galerie getreten, 164 und sich in den Saal hinabneigend, rief er: »Kinder, wenn das Lied meinem Freunde hat gelten sollen, so danke ich euch in seinem Namen.« Neben ihm in der Höhe stand Matthias Glöcklin; er hatte sich halb abgewendet und hielt die Hände vor die Augen.

Die beiden alten Herren waren indessen nicht allein auf ihrem Rundgange durch die Fabrik. Der kleine George begleitete sie. Zu Hause hatte man ihn nicht halten können; er wollte mit dem Großvater gehen, und nun in den langen und hohen Räumen lief er unermüdlich hinter ihm her, durch dunkle Höfe, helle Galerien, über schmale Treppen, von denen einige, mit Gittern versehen, außen herum von Stockwerk zu Stockwerk, und über kleine Brücken, welche quer durch die Luft von einem Flügel zum andern führten. Die gewaltigen Kessel und tiefen Fässer, alle die Dinge, die der Knabe bisher niemals gesehen, versetzten ihn in das höchste Maß von Erstaunen. Das Hämmern und Pochen überall, die tausendfältige Bewegung, wohin immer er blickte, machte seine Augen heller glänzen. Er war ein wißbegieriges Kind und wurde nicht müde zu fragen: »Was ist das?« und: »Warum ist das so?« Die eine Frage folgte der andern mit solcher Regelmäßigkeit wie die Bewegungen irgendeiner von den Maschinen, die der Kleine so sehr bewunderte. Der Großvater verwies es ihm, denn er störte mit seinem ungeduldigen Eifer das ernstere Gespräch der beiden Männer, aber Herr Grandidier hatte seine Freude daran. Er erklärte ihm die einzelnen Gegenstände, nannte ihm die Namen und beschrieb die Verrichtungen derselben, und es war beinah, als ob er über das Gespräch mit dem Knaben den eigentlichen Zweck seines heutigen Besuchs der Fabrik vergessen habe.

So erreichten sie den Teil des Gebäudes, wo in mächtigen Speichern die großen Vorräte lagerten. Das war ein Anblick für George!

»Parbleu!« rief er und klatsche vor Vergnügen in die kleinen Hände, »in der ganzen Welt gibt es nicht so viel Hüte wie hier! Und wie schön sie sind! Schöner als auf den Boulevards von Paris!«

In seinem Leben war Herrn Grandidier kein unverfälschteres Lob zuteil geworden; aber niemals auch hätten seine Hüte sich in einem vorteilhafteren Lichte zeigen können. 165 Da standen sie zu Hunderten, ja zu Tausenden in allen Sorten, von hochfein, fein und mittel, aber jeder das Beste, was in seiner Gattung sich leisten ließ, jeder mit seiner eigenen Physiognomie, mit einem Ausdruck von Individualität und Vollendung, welche nur das Herz des Sachverständigen ganz zu würdigen wußte, wiewohl auch das Publikum sie durch seine Gunst vollkommen anerkannte. Mit einer Art von wehmütigem Wohlgefallen ruhte der Blick des Herrn Grandidier auf seiner Schöpfung, wie sie frisch und noch unberührt vor ihm stand; und die Frühlingssonne schien herein durch die hohen, halb geöffneten Fenster der Halle und lieh den breit ausgeschweiften Krämpen, über denen die weißen Papierhüllen in die Höhe gezogen waren, den Anflug eines verschmitzten, weltmännischen, zurückgehaltenen Lächelns, wie es sich für Hüte ziemt, die der neuesten Mode huldigen. Für einen Moment war Herr Grandidier wieder der alte Grandidier, wie man ihn früher gekannt und gern gesehen; sein in den letzten Wochen eingesunkenes und bleich gewordenes Gesicht bekam Farbe und erschien dadurch voller, und ein zufriedenes Schmunzeln spielte um seine Lippen. »Monsieur,« sagte George, indem er sich an Herrn Grandidier wandte, »ich möchte wohl auch so schöne Hüte machen können!«

Es war ein Tag wie der heutige, derselbe Raum und fast dieselbe Stelle, an welcher vor vielen Jahren Eduard sich widerspenstig gegen seinen Vater benommen hatte. Das Bild kam in Herrn Grandidiers Erinnerung zurück. Er sah seinen Sohn vor sich stehen, wie jetzt George vor ihm stand, ungefähr in demselben Alter wie damals Eduard. Sein Zorn wollte wiederum aufwallen; aber es war, als ob eine Hand sich ihm auf die Brust lege, sanft und unwiderstehlich und die Bewegung niederdrückend.

»George,« sagte er, den Knaben mit freundlicher Milde anblickend, »wenn du größer bist, sollst du's lernen.«

»Aber dann möcht' ich wenigstens einen so schönen Hut haben und aufsetzen und immer darin umhergehen!« Seine Bewunderung für die Hüte war wirklich von einer sehr aufrichtigen Beschaffenheit.

Herr Grandidier mußte laut auflachen. »Für so kleine Jungen wie du gibt es noch keine Hüte. Damit mußt du warten, bis du konfirmiert wirst. Aber inzwischen will ich dir etwas anderes schenken, was dir nicht weniger gefallen wird.«

166 Er nahm hierauf den Knaben an die Hand und ließ ihn nicht eher von sich, als bis sie das Gebäude verlassen und wieder draußen im Freien waren.

Später am Nachmittage ging Herr Grandidier in die Stadt und brachte ein Paket zurück, mit welchem unter dem Arm er sich sogleich in das Nachbarhaus begab. Die Familie Glöcklin saß in dem Wohnzimmer des ersten Stockes beisammen, an dessen Fenstern der kleine Lindenbaum sein Haupt hin und her wiegte, so daß ein angenehmer Wechsel von Licht und Schatten, vermischt mit dem Geruch von frischem Grün hereinfiel.

»So!« rief Herr Grandidier, nachdem er eingetreten war und die Anwesenden begrüßt hatte, »nun wollen wir einmal sehen, was in diesem Paket sein mag!« Und er legte dasselbe mit vieler Umständlichkeit auf den Tisch.

Jubelnd war George ihm entgegengesprungen. »Ah, sieh doch, Mama, wie gut Herr Grandidier ist! Er hat mir ein Geschenk mitgebracht!«

Mit allerlei Vorbereitungen, welche deutlich bewiesen, wie sehr Herr Grandidier sich darauf gefreut, den Knaben zu überraschen, löste jener den Bindfaden, entfaltete dann Papier nach Papier, bis zuletzt eine allerliebste kleine Mütze zum Vorschein kam, eine Soldatenmütze, wie die Knaben in Berlin sie tragen, mit einem roten Streifen und einer schwarzweißen Kokarde.

Der Knabe war außer sich vor Entzücken. »Ah, comme c'est joli, comme c'est joli!« rief er und wollte eben die Mütze auf den Kopf setzen, als seine Mutter sich erhob, sie ihm entriß und geringschätzig auf den Tisch zurückwarf.

»Nimmermehr!« sagte sie.

Herr Grandidier konnte eine gewisse Bitterkeit nicht unterdrücken.

»Madame,« sagte er mit so viel Höflichkeit, als ihm unter den Umständen möglich war, »ist es erlaubt, zu fragen, warum?«

»Mein Sohn ist ein Franzose,« erwiderte sie gemessen, »und nimmermehr werde ich dulden, daß er eine preußische Soldatenmütze trage . . . Führe den Kleinen hinaus!« rief sie der Schwester zu, als der Knabe zu weinen begann; und Bärbel gehorchte dem Befehl, indem sie beim Fortgehen den Schluchzenden zu trösten suchte.

Die Leidenschaftlichkeit, die sich in den Worten und 167 Zügen Helenens ausdrückte, kontrastierte seltsam mit ihrem blonden Haar, ihren blauen Augen, den sanften Linien und dem weichen Oval ihres Gesichtes. Es war ein Widerspruch darin; fast etwas Widernatürliches, als ob das Blut dieser Adern sich gegen sich selber empört und aufgelehnt habe. Herr Grandidier ward aufs neue höchst unsympathisch berührt. Er fühlte sich von Helenens Wesen ebenso abgestoßen, wie dasjenige Bärbels ihn anzog. Es war dieselbe Wahrnehmung wie gestern abend schon, nur noch verstärkt und deutlicher. Aber er faßte sich dennoch zusammen.

»Was hat Ihnen Preußen getan, Madame?« fragte er.

»Nichts, mir nichts,« erwiderte Helene kalt und mit einiger Gleichgültigkeit; »es müßte denn sein, daß es mir eine Wohltat aufzwingt, gegen welche mein Herz sich sträubt.«

»Ah so,« sagte Herr Grandidier; aber er biß sich auf die Lippen, um nicht mehr zu sagen.

»Meine Tochter ist dir für deine hochherzige Tat nicht minder dankbar, als wir anderen es sind, warf Glöcklin besorgt und begütigend ein; »sie findet nur nicht immer die rechten Ausdrücke – du mußt Nachsicht mit ihr haben, George!«

»Ich wollte, ihr hättet mich in Frankreich gelassen!« rief Helene statt jeder Antwort und bedeckte mit beiden Händen ihr Gesicht.

Glöcklin trat zu ihr und streichelte ihr das blonde weiche Haar. »Ich will dich nicht daran erinnern, Helene,« sprach er sanft; »du weißt es ja, was uns von Frankreich trennt.«

»Was euch von Frankreich trennt!« rief sie bitter, ihr blondes Haar über die pochenden Schläfe zurückwerfend, »oh, ich fürchte, daß es mich nur zu bald von euch trennen wird! Denn heilig sind die Bande zwischen Kind und Vater, aber heiliger zwischen Kind und Vaterland! Und jetzt, in meinem tiefen Leide, fühle ich mich ihm inniger verwandt als einst in den Tagen meines Wohlergehens; ich fühle, daß all mein Trost bei ihm liegt, dort, in der Heimat, die meine Sprache spricht und mein Herz versteht. Was soll ich hier in dem fremden Land – heute fremd und morgen vielleicht mein Feind? Aber wie ich, wenn einst der Tag käme, mein Vaterland nicht verlassen könnte in seinem Unglück, so hätte das Vaterland auch mich nicht verlassen in dem meinen. Warum habt ihr mich von ihm losgerissen – warum, warum?«

168 »Du vergissest, meine Tochter,« versetzte Glöcklin ernst, »daß wir dich nicht von ihm losgerissen haben, sondern daß es dich von sich gestoßen hat!«

»Halt ein, mein Vater!« fiel Helene rasch und entschieden ein; »du verleumdest Frankreich. Es war eine Desertion und – wenn du mir's zu sagen erlaubst – eine feige Desertion. Unsere Flucht hat den Tyrannen gerechtfertigt und die Stirne desjenigen, der nur sein Opfer war, mit dem Zeichen der Schmach und des Verbrechens gestempelt. Nicht deine Ehre, nicht meine Ehre, nicht unseres Hauses Ehre – Frankreichs Ehre war getroffen; und ein treuerer Sohn Frankreichs – o mein Vater, warum zwingst du mich, es hier noch einmal zu sagen! – hättest du bleiben und jenen Tag erwarten sollen, der nicht ausbleiben kann und das Brandmal des Geächteten in eine Glorie der Freiheit verwandeln wird!«

»So glaubst du noch immer, armes Kind!« sagte der Vater mild und schmerzlich.

»Wenn ich nicht glaubte, lebte ich nicht mehr,« entgegnete Helene.

»Gleichwohl ist dir nicht unbekannt, welches Los der Verfolgung das unsere war; wie man uns mit Unwürdigkeiten überhäuft, und wie man zuletzt, mein Unglück noch beschimpfend, mich einen Agenten Preußens und Bismarcks genannt hat!«

»Und um zu beweisen, wie sehr sie sich geirrt, bist du nach Preußen und in die Stadt Bismarcks gegangen,« sagte Helene.

»Du zwingst mich,« entgegnete der Vater, streng verweisend, »die Rücksicht beiseite zu setzen, welche du nicht anerkennen zu wollen scheinst. Gut denn; wem galt diese beleidigende Scheu, dieses kränkende Zurückweichen bis zu gänzlicher Vereinsamung? Helene, wenn du gerecht sein willst – wem galt es und von wem ging es aus, und wer hätte diese Luft noch länger atmen können?«

»Die Luft des Gefängnisses! Schon mehr als einmal ist aus ihr das Morgenrot der Zukunft emporgestiegen, und um die Zukunft leiden – ist es nicht von je das Los der Besten gewesen? Fluchbeladen wird der Kerkermeister untergehen; aber ewig leben werdet ihr zwei – die Freiheit und Frankreich!«

»Und doch – wo waren sie, wo hat sich auch nur eine Hand helfend, tröstend ausgestreckt, da wir nichts verlangten 169 als eine Stätte, um unser Haupt zu verbergen, unser Brot zu gewinnen, zu arbeiten und zu vergessen? Wo war Frankreich, als ich – täglich abgewiesen, täglich aufs neue kam, um Gnade zu finden, wo nicht Gerechtigkeit – als ich von dem goldbetreßten Pförtner des Palastes zuletzt zurückgeworfen ward, indem er aus meiner bäurischen Gestalt und meiner ländlichen Sprechweise ein Beiwort für mich machte! O du, meine geliebte, teure Heimaterde, mein Elsaß – auch dich habe ich in mir, dem ärmsten deiner Söhne, verhöhnen lassen müssen! Dies alles hab' ich ertragen – und wo – Helene, sprich – wo unterdessen war Frankreich? Und als ich zum Wanderstabe griff, um draußen in der Fremde zu suchen, was die Heimat mir verweigert – Helene, ich frage dich noch einmal, wo war da Frankreich?«

»Dort!« erwiderte Helene, indem sie gegen den Westen wies, aus welchem der Glanz der untergehenden Sonne bis hier herein in das Zimmer fiel. »Die Nacht steigt herauf und verhüllt es eine Weile; doch der kommende Tag wird es wieder finden!«

Stillschweigend hatte Herr Grandidier dem Gespräche bis jetzt zugehört.

»Mich dünkt,« begann er nun, »wo von Frankreich die Rede, da darf auch ich ein Wort mitsprechen. Dort an den Ufern der Seine hat die Wiege meiner Väter gestanden und dort, in der Erde von Paris, liegen meine Voreltern begraben – sie, deren Namen ich noch heute mit Stolz führe – mit einem Stolze, den nichts in mir verringern kann, nicht die Gewalttat eines einzelnen, noch einer ganzen Nation. Wenn wir das französische Wort hören, hier im Hause des Herrn, und den französischen Choral von vielen Kinderstimmen gesungen; wenn wir unsere Kirchenältesten und Armenpfleger sehen, die noch immer mit den alten französischen Namen genannt werden, wie drüben in dem Land, aus dem unsere Vorfahren gekommen; wenn wir die großen und prächtigen Häuser betrachten, in welchen unsere Armen gespeist und unsere Waisen erzogen werden, und mitten in dieser deutschen Stadt uns ihre französischen Inschriften entgegenleuchten – wenn wir vor dem Denkmal des großen Friedrich stehen und auf den Erztafeln, die dasselbe schmücken, ebenbürtig zwischen all' den Herzögen, Prinzen und Grafen unsere eigenen französischen Helden erblicken, welche dazu 170 beigetragen haben, Preußen im Felde groß und im Frieden glücklich zu machen – wem schlüge dann das Herz nicht höher, indem er der alten Heimat gedenkt? Aber wer kann sich dann auch der Tatsache verschließen, daß Frankreich das Land war, das unsere Väter vertrieben, und Preußen das Land, das sie gastlich aufgenommen hat? Ja, wohl ist Frankreich groß und es kann auch edelmütig sein. Aber eins kann Frankreich nicht sein – gleichmäßig gerecht. Der Tyrann steckt in jedem Franzosen, und selbst die Freiheit wird in der Hand des Volkstribunen zum Werkzeug der Gewaltherrschaft und Schreckensregierung. Denn nur da, wo Duldsamkeit ist, wird Freiheit sein – nicht ein glänzendes Wort, eine Phrase, sondern in Wirklichkeit die Freiheit der Entwicklung, die Freiheit für jeden einzelnen, die Grundbedingung der Freiheit für alle. Das ist es, Madame,« und hier wandte sich Herr Grandidier an Helene, »was ich zu sagen für nötig hielt. Denn Preußen ist mein und der meinen Vaterland, deren Familie französisch war zu einer Zeit, wo die Ihres Vaters noch lange deutsch gewesen; und Frankreich, wenn ich es recht erkenne, hat sich seit der Zeit nicht geändert.«

Helene sah ihn mit einem vollkommen leeren Blick an, in dem weder Zorn, noch Überraschung, noch Widerspruch zu finden war. »Mein Herr,« sagte sie, »ich habe Sie nicht verstanden und hoffe nicht, daß wir uns über diesen Gegenstand jemals verstehen werden.« Dann kehrte sie sich nach der Tür, durch welche der kleine George hereintrat, von Bärbel mit Mühe zur Ruhe gebracht.

Glöcklin benützte diesen Augenblick, um den Freund ans Fenster zu ziehen, dessen Ränder von dem scheidenden Lichte des Tages rötlich gefärbt waren. »Du mußt es ihr nachsehen,« sagte er; »wir können es nicht ändern und müssen das Beste von der Zeit erwarten. Ihr Schmerz ist zu tief und noch zu frisch. Du glaubst nicht, welche Geduld wir mit ihr haben müssen. Sie glaubt fest, daß jener Unselige, welcher das Verhängnis über uns heraufgeführt hat, schuldlos leide; in dem Manne, dem Beamten, der die kaiserliche Kasse bestohlen, sieht sie den politischen Märtyrer. Krankhaft hält sie diesen Gedanken aufrecht und mit einer an Wahnsinn grenzenden Bestimmtheit berechnet sie im voraus den Tag und die Stunde der Vergeltung. Gott schütze mein armes Kind! Aber da siehst du die Früchte des gegenwärtigen Zustandes in Frankreich!« 171

 


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