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XV

An einem frühen Sommermorgen anderthalb Jahre später fuhr der Kopenhagener Dampfer nach einer ruhigen Fahrt über das Kattegat in die Randers-Förde hinein. Es saß nur ein einziger Mann auf dem Promenadendeck, ein Mann, der mit einem schwermütigen, traumfernen Blick über das Land hinaussah. Es war Johannes Gaardbo.

Er befand sich auf dem Wege zu einer kirchlichen Versammlung in Aarhus, und wenn er es vorgezogen hatte, die Reise mit dem Dampfer über Randers zu machen, so geschah dies teils, um die übrigen Kopenhagener Teilnehmer an der Versammlung zu vermeiden, namentlich Pastor Stensballe. Außerdem aber hatte er gehört, daß man auf der Fahrt in die Förde hinein so dicht an Favsingholm vorüberkam, daß man das Schloß sehen konnte.

Es erging ihm jetzt so, wie es dem Bruder ergangen war, als dieser zum erstenmal hier einfuhr. Er mußte an die Koldinger Förde denken und an die Heimatsreisen in der glücklichen Studentenzeit. Und die Erinnerungen überwältigten ihn. Er saß da mit einem schläfrig schweren Gefühl, als sei er viele Jahre von sich selbst fort gewesen. Die Küste der Kindheit zeigte sich ihm im Traum. Er fuhr an dem Gaardboer Strand vorüber. Und die Stadt, die dort im Morgennebel auftauchte, war nicht Randers, sondern jene andere kleine Provinzstadt, wo einstmals Rosalie lächelnd auf der Brücke stand und ihm mit ihrem Schleier zuwinkte.

Zu einer Liebesbegegnung reiste er jetzt nicht. Die Zusammenkunft in Aarhaus war zusammengebracht, weil das Land wieder vor einem Wahlkampfe stand, und es war Stensballes Absicht, Tyrstrup zu stürzen und Hochschulvorsteher Aleksandersen auf den Ministersessel zu bringen. Aber gerade als Enslevs Prophezeiung von dem Reich der Macht und der Ehre seiner Erfüllung nahe schien, waren die alten Zwistigkeiten innerhalb der Geistlichkeit überall im Lande mit neuer Kraft aufgeflammt. Unter dem Schein von Uneinigkeit über konfessionelle Fragen lag man einander schon in den Haaren und kämpfte um die Beute.

Für Johannes Gaardbo, der gehofft hatte, alle Völker der Erde unter dem Zeichen des Kreuzes brüderlich vereint zu sehen, waren die letzten Jahre eine bittere Enttäuschung gewesen. Diese Streitigkeiten hatten ihm wie ein Spiegel ein abschreckendes Bild seines eigenen Lebens gezeigt, und namentlich hatte ihm die Bekanntschaft mit Stensballe die Augen dafür geöffnet, wie unheimlich aller Machtstreit um die Seelen der Menschen ist. Er hatte jetzt beschlossen, seinen Reichstagssitz aufzugeben. Außerdem dachte er aber ernstlich daran, sein Amt niederzulegen und als Wanderprediger den Fußspuren seines Erweckers zu folgen. Er wollte es jetzt auf den Ausfall der bevorstehenden Versammlung ankommen lassen, wo er mit Stensballe und den übrigen »Ablaßkrämern und Gnadenhändlern«, wie Mads Vestrup sie genannt hatte, abzurechnen gedachte. –

Es wurde ein stiller, sonniger Tag, einer von diesen farbenfreudigen Tagen unmittelbar vor dem Herbst, an denen es scheint, als ruhe die Natur, um sich über ihr vollbrachtes Werk zu freuen. Auf Favsingholm fuhr man das Wiesenheu ein. Die Doktorfamilie, die jetzt die Alleinherrschaft auf dem Gute hatte, wohnte noch immer in der alten Gutsverwalterwohnung, wo Meta es noch einmal erlebt hatte, ein neugeborenes Kind an die Brust zu legen. Ungefähr gleichzeitig war auch Grete Mutter geworden. Sie und ihr schulterbreiter Mann waren auf Dihmers Wunsch in das Waldhäuschen hinaufgezogen, und man sah unten auf dem Gut nicht mehr viel von ihnen. Kjeld war keine gesellige Natur. Er lebte mit seiner Grete wie ein Ansiedler, bestellte die kleine Ackerwirtschaft und holte im übrigen seine Nahrung aus dem Walde, da ihm Dihmer zur Belohnung für seine Tat in der Brandnacht auf Lebenszeit das Jagdrecht verliehen hatte. »Der große Pan« nannte ihn Paul Gaardbo, weil man ihn zuweilen da oben auf seiner Flöte spielen hörte.

Das Schloß, mit Ausnahme des Rittersaales, war nach Torbens testamentarischer Bestimmung Gelehrten vorbehalten, »die das Studium der sympathisch-organischen Harmonie zwischen den einzelnen Menschen und dem Weltall wiederaufnehmen wollten«. Ein solcher Sterndeuter hatte sich vorläufig noch nicht gemeldet.

Der Rittersaal, der in seiner früheren Schönheit wieder aufgeführt war, diente als Festsaal für alle Bewohner des Gutes. Hier versammelte man sich des Sonntags zu einer gemeinsamen Mahlzeit. Hier wurden Hochzeiten und andere Feierlichkeiten abgehalten.

In diesen warmen Sommerwochen verbrachte Frau Meta fast den ganzen Tag in einer offenen Laubhalle am Ende des Gartens, wo sie die größeren Kinder beaufsichtigen konnte, die sich draußen auf der Wiese tummelten. Die kleinsten hatte sie um sich, und wenn Grete zu Besuch kam und ihren kleinen Jungen mitbrachte, war da ein Gezwitscher wie in einem Vogelnest.

Eines Tages während der Mittagsruhe saß auch der Doktor da draußen und las seine Zeitung. Meta hatte Jyttes Kind auf dem Schoß, einen schönen kleinen Jungen, mit schweren braunen Augen.

Eins der Mädchen kam heraus und sagte, es sei ein Mann da, der mit dem Herrn Doktor sprechen wolle.

»Wer ist es?«

»Ich kenne ihn nicht. Er ist nicht hier aus der Gegend. Er ist gewiß von Randers hierher gegangen.«

Aber jetzt kam Hedwig herausgestürzt. Sie war in der Küche gewesen, um Wasser zu trinken. Das Kind war ganz blaß vor Erregung und Interesse und rief schon von weitem:

»Vater! ...Mutter! ... Der Oheim Johannes ist gekommen!«

»Was ist das für dummes Zeug! Wie kommst du auf den Gedanken?« fragte der Vater und packte sie hart am Arm.

»Au, Vater! Ich kenne doch Onkel Johannes noch.«

Paul und Meta starrten einander lange an, und als Hedwig sah, wie bewegt sie waren, wurde sie bange und schmiegte sich an die Mutter.

»Hätt' ich es nicht sagen sollen?«

Am andern Ende des Gartens saß Johannes Gaardbo zusammengesunken auf einer Bank im Schatten eines Baumes. Er kam als geschlagener Mann hierher. Sein Antlitz war blaß, die Augen lichtscheu. Als er den Bruder auf sich zueilen sah, erhob er sich langsam und ging ihm einige Schritte entgegen.

»Ja, ich bin es, Paul!«

Der Doktor sah ihn unsicher an.

»Du bist doch nicht krank, Johannes?«

»Nur ein wenig müde und ein wenig einsam. Du hast ja eine Art Asyl hier. Willst du mir für eine kleine Zeit einen Platz gewähren? Ich habe das Bedürfnis, ein wenig zur Ruhe mit mir selbst zu kommen.«

»Ach, Johannes! Dann bist du wirklich aus dem Totenreich zurückgekehrt?«

Oben aus der Waldhütte vernahm man in der Stille Kjeld Borgens Schalmeientöne.


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