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IV

Einige Stunden später, als der Nebel und die Finsternis Kopenhagen wieder wie in eine unterirdische Welt versenkt hatten, und während ein Menschenstrom von neuem von den Vorstädten den Theatern und andern Vergnügungsorten der Stadt zuströmte, versammelte sich der von Gjärup veranstaltete politische Wohlfahrtsausschuß in einem älteren Hause in der Kronprinzensgade, einem ehemaligen Vereinsgebäude, das jetzt zu einem kleinbürgerlichen Gesellschaftslokal umgewandelt war.

Da die Zusammenkunft ganz privater Natur war und das Ergebnis vorläufig streng geheimgehalten werden sollte, hatte man diesen Versammlungsort den bekannteren Lokalen in der Stadt vorgezogen, wo es immer schwieriger war, sich dagegen zu sichern, nicht von den langen Ohren der Presse belauscht zu werden.

Gjärup hatte sich eine halbe Stunde vor der angesetzten Zeit eingefunden, um nachzusehen, daß alles der Verabredung gemäß in gehöriger Ordnung war. Er kannte den Wirt persönlich, der seine Lokale schon häufig zu diesen Zusammenkünften zur Verfügung gestellt hatte, bei denen Gjärup der leitende Geist war. Er wußte, welche Art von Sicherheitsveranstaltungen erforderlich war, und Gjärup äußerte denn auch seine Zufriedenheit mit der Anordnung.

Mitten in einem Saal, der den meisten Raum des Hauses einnahm, war ein langer Tisch mit Stühlen aufgestellt. Aber auch die anstoßenden Räume zu beiden Seiten waren den Teilnehmern der Versammlung vorbehalten.

Ein Unglück war indessen eingetreten. Ein Kurzschluß hatte im letzten Augenblick die elektrische Hauptleitung durchgebrannt. Um das Haus erleuchten zu können, hatte man in größter Eile alles zusammengescharrt, was an alten Petroleumlampen, silbernen Kandelabern und Laternen zu beschaffen war. Aber diese altmodischen Lampen und unruhig flackernden Stearinlichte breiteten eine Vergangenheitsstimmung über den Saal aus, von der sich Gjärup gerade angeheimelt fühlte, weil sie so recht den Erinnerungen entsprach, die im Augenblick sein kämpfendes Gemüt bewegten.

Er und Enslev waren Jugendfreunde gewesen. Sie kamen beide als arme Studenten vom Lande und hatten damals brüderlich zusammengehalten. Bei jenem fast historisch berühmten Fest im Studentenverein, wo Enslev gegen Ende der Nacht auf einen Stuhl sprang und unter fürchterlichem Tumult seine erste politische Rede hielt, hatte Gjärup den Freund mit seiner Person vor dem Überfall einiger halbtrunkener und erregter Menschen gedeckt, die ihn vom Stuhl reißen und ihn verprügeln wollten. Auch später gehörte er zu Enslevs uneigennützigsten Waffenträgern. Aber ihre Lebensschicksale waren sehr verschieden geworden. Obwohl Gjärup ein scharfsinniger Kopf mit einem ungewöhnlichen juristischen Wissen war, für das die Partei oft Verwendung hatte, war er stets in einem politischen Schattendasein niedergehalten worden, und die Presse der Partei selbst hatte ihn zu einer halb lächerlichen, halb zweideutigen Person gemacht, was er nicht ohne Grund Enslevs Einfluß zuschrieb. Von dem Augenblick, an dem sich die beiden Freunde im Reichstag begegneten, hatte Enslev ausschließlich den Pedanten in ihm gesehen; und da er ihn außerdem als Mitbewerber fürchtete, hatte er keine Bedenken getragen, ihn unschädlich zu machen.

Aber nun fühlte Gjärup, daß die Stunde der Rache gekommen war. Die Gerechtigkeit sollte endlich den großen Verbrecher einholen! Der Hochmütige sollte auf seinen Taten fallen und seine Tage als friedloser Mann enden!

Jetzt kamen einzelne von den Mitgliedern der Versammlung. Der Erste war der junge Hochschulvorsteher Aleksandersen in seinem charakterfest zugeknöpften Rock mit den ausgepolsterten Schultern. Bei dem Anblick des langen Tisches mit den vielen vorhistorischen Beleuchtungsgegenständen breitete er lächelnd die Arme aus, während sich sein Schatten arglistig hinter ihm als unheimlicher Hampelmann abzeichnete.

Genau auf den Glockenschlag kam Rektor Bohse zusammen mit Jörgen Höjbo und Lehrer Tanning. Und von nun an ging die Tür ununterbrochen. Einer nach dem andern oder mehrere zusammen wurden von den Dienern eingelassen, die sie, mit Lichtern oder Radlaternen in der Hand, die dunkle Treppe hinaufgeführt hatten.

Schließlich waren ungefähr fünfzig Männer versammelt, von denen die meisten Gesetzgeber waren. Die übrigen waren bekannte Parteigenossen außerhalb der aktiven Politik, ein paar Universitätsprofessoren, einige Minister und Redakteure, von denen man wußte, daß auch sie allmählich Abstand von Enslev und seiner Presse genommen hatten.

Sie waren eingeladen, um mit ihren angesehenen Namen die Bedeutung einer Protestadresse zu stützen, die Gjärup zur spätern Veröffentlichung zu einem passenden Zeitpunkt vorlegen wollte. Die Stimmung war bei den meisten sehr ernst. »Der fünfte Juni« hatte in seiner Abendausgabe die Regierung in einem Artikel angegriffen, der mit Verdächtigungen gespickt war. Das Blatt ging von Hand zu Hand, und die älteren Reichstagsbauern schüttelten den Kopf. Diese ehemaligen Kampfgenossen Enslevs gingen schweren Herzens an die Abrechnung mit ihrem alten Häuptling. Sie sahen mit Mißfallen Hochschulvorsteher Aleksandersen und einige jüngere Herren, die ihre Befriedigung, dieses Götzenbild einer dunklen Vergangenheit endlich wegräumen zu können, nicht zu verbergen vermochten.

Die meisten von den Ministern waren der Einladung gefolgt, darunter auch der Mann des Tages, Propst Broberg, der am selben Morgen aus Jütland herübergekommen war. Dieser Zwerg mit der grauen Mähne ging holdselig lächelnd umher, drückte den Leuten die Hand und nahm Glückwünsche entgegen. Schließlich fehlte nur noch Tyrstrup. Als man einige Zeit gewartet hatte, begann sich ein dunkles Zweifeln zu verbreiten, ob er überhaupt kommen würde. Das Mißtrauen zu dem Ministerpräsidenten hielt sich unverändert in der Partei, trotz der Zugeständnisse, die er den Kriegslustigen beständig gemacht hatte.

Gjärup und Lehrer Tanning steckten in einer Ecke die Köpfe zusammen und schienen unschlüssig. Allgemein machte sich eine Ungeduld im Saale bemerkbar. Nur Propst Broberg, der sich beständig als Mittelpunkt der Aufmerksamkeit fühlte, ging gleich strahlend umher und drückte den Leuten die Hand.

Jetzt aber öffnete der Wirt selbst die Tür, und Tyrstrup trat ein. Sein ungewöhnlich sorgenvoller Ausdruck machte die Unterhaltungen verstummen. Lehrer Tanning führte ihn an seinen Platz am obern Ende des Tisches, worauf sich alle schweigend setzten.

Der alte Jörgen Höjbo leitete mit einer kurzen Erklärung über den Zweck der Versammlung die Sitzung ein und erteilte darauf das Wort Rektor Bohse, dem man auf Gjärups Vorschlag das Amt übertragen hatte, den Hauptschlag gegen Enslev zu führen. Gjärup selbst zog sich bei solchen Gelegenheiten gern im letzten Augenblick infolge von Anfechtungen zurück. Trotz seiner wilden Rachgier war er ein gefühlvoller Mensch, der wohl bereit war, die Waffen zu schleifen, aber am liebsten das Blutvergießen andern überließ.

Nun war Rektor Bohse auch der Mann, dessen Wort das größte Gewicht ringsumher im Lande haben würde. Allerdings gehörte er nicht zu den Leitenden oder ausgeprägten Persönlichkeiten in der Partei. Im Grunde war er gar kein Politiker, und die richtigen alten Reichstagsratten mußten oft über seine Einfältigkeit lächeln. Die Unantastbarkeit seines Charakters hatte ihm sein Ansehen verschafft. Enslev, der zu seinem Ärger ihn nie hatte verletzen können, nannte ihn »das Gürteltier« auf Grund dieser Atmosphäre von Rechtschaffenheit, die ihn wie ein schützender Panzer umgab.

Der Rektor sprach langsam und mit akademischer Rhetorik, die zuweilen zu Schwulst anwachsen konnte. Aber es lag die Kraft eines zornerfüllten Gemüts in seinem Angriff auf den »Fünften Juni« und das Verhältnis Enslevs zu diesem Blatt – dem »Hoforgan der Frivolität und der Korruption«, wie er es nannte. Er erregte Bewegung, indem er erklärte, daß viele Parteigenossen im Lande nicht nur mit Verwunderung, sondern auch mit tiefem Kummer und Zorn Zeugen waren, daß einer ihrer Führer, ja der Ehrenvorsitzende selbst, sich einen persönlichen Vorteil durch eine Blattindustrie schuf, die in dem Verderben des Volkes spekulierte.

Er schloß seine lange Rede, indem er sagte, daß niemand Enslev Dank und Anerkennung für seine Verdienste als einer der Begründer der Selbstregierung des dänischen Volkes verweigern würde. Aber er habe in letzterer Zeit eine krankhafte und immer unbeherrschtere Zerstörungslust seinem eigenen Lebenswerk gegenüber an den Tag gelegt. Die wahren Freunde der Freiheit im Lande müßten jetzt fordern, daß ihm die Wahl gestellt werde, entweder die Leitung der Partei in ihrer Arbeit für den moralischen, religiösen und wirtschaftlichen Wiederaufbau des Volkes zu stützen, oder den Platz als Vorsitzender aufzugeben, wiewohl er ihm seinerzeit als lebenslänglicher Ehrensitz verliehen worden sei.

Als er sich wieder setzte, löste sich die Stimmung in kräftigem Beifall aus. Propst Broberg, der neben ihm saß, drückte ihm die Hand.

Eigentlich sollte jetzt Hochschulvorsteher Aleksandersen als Vertreter der jüngeren Generation reden, doch zum allgemeinen Erstaunen erhob sich Tyrstrup und bat um das Wort.

Von einem hohen Kandelaber mit mehreren Lichtern, der vor ihm stand, fiel ein flackernder Schein auf sein Gesicht. Man konnte sehen, daß er stark erregt war und eine wichtige Mitteilung zu machen hatte. An der Wand dicht hinter ihm zeichnete sich sein vielfältiger Schatten wie eine Schar lauschender Nebelgestalten ab.

»Um die Fortsetzung einer Debatte zu verhindern, die die Verhältnisse überflüssig gemacht haben, trage ich kein Bedenken, die Herren mit dem Inhalt eines Schreibens bekanntzumachen, das ich heute von Enslev erhalten habe. Da ich indessen noch keine Gelegenheit gehabt habe, es der Parteileitung vorzulegen, muß ich Sie alle bitten, meine Mitteilungen vorläufig als streng vertraulich zu betrachten. Enslev bittet, ihn von seinem politischen Vertrauensposten zu entbinden, und kündet an, daß er auch auf den Vorsitz verzichtet.«

Ein Brausen froher Überraschung ging durch die Versammlung. Aleksandersen lehnte sich triumphierend gegen die Stuhllehne zurück und rief: »Hört!«

»Leider habe ich aber noch eine andre Mitteilung zu machen,« fuhr Tyrstrup fort. »Ich bin überzeugt, daß sie tiefes Beklagen nicht allein in dieser Versammlung hervorrufen wird, sondern auch bei allen denen, deren Zukunftsideal ein friedliches Zusammenwirken der Kräfte des Volkes zum Besten unsers gemeinsamen Vaterlandes gewesen ist. Enslev teilt mir mit, daß er – unser vieljähriger Führer und unsre beste Kraft – aus der Partei austritt.«

Nach diesen Worten ertönte kein »Hört«. Einige Augenblicke herrschte eine Stille in dem düstern Saal, als sei ein Blitz niedergefahren. Man starrte Tyrstrup an, während Erregung, Angst und Verlegenheit um die Herrschaft in den Gemütern kämpften.

Dann erhoben sich laute Proteste von vielen Seiten.

»Das darf nicht geschehen!« sagte ein alter Bauer weinerlich.

Lehrer Tanning aber rief: »Das ist Verrat!«

Und seine Worte wurden von mehreren wiederholt.

Gjärup saß wie gelähmt da, die Hand um das Kinn, und starrte durch die Brille, mit Augen, die so rund und dunkel waren wie die einer Nachteule. Durch ein blitzschnelles Manöver hatte ihm Enslev abermals die Mordwaffe aus der Hand geschlagen und ihn um seine Rache betrogen.

Alle waren sich klar darüber, daß Enslevs Austritt eine Herausforderung bedeutete, daß sie eine neue Sturmzeit, Schwertzeit, Wolfszeit ankündete statt des Friedens, auf den so viele gehofft hatten.

Als endlich ein wenig Ruhe im Saal eingetreten war, fuhr Tyrstrup fort. Er sagte, daß die – oft verkannten – Bemühungen, die gemacht waren, um diese traurige Katastrophe abzuwehren, also nicht mit Glück gekrönt worden seien. Er hege jedoch die Hoffnung, daß der Zusammenschluß der Partei sich stark genug erweisen möge, um auch dieser schweren Erschütterung zu widerstehen, und er bat alle Anwesenden, ihm und den übrigen Mitgliedern ihre tatkräftige Unterstützung zuzusichern in dem bittern und traurigen Kampf, der offenbar bevorstand.

Als Antwort hierauf sprang Lehrer Tanning auf und rief: »Dänemark soll leben!«

Alle erhoben sich. Mit drei taktfesten Hurras bestätigte die Versammlung ihren Anschluß an Tyrstrups Worte. –

Draußen in den Hauptstraßen spürte man schon eine starke Erregung. »Der Fünfte Juni« hatte ein Extrablatt mit Enslevs Kriegserklärung ausgesandt. Die Leute strömten nach den Fenstern der Zeitungsredaktionen, um die ausgehängten Anschlagzettel zu lesen.

Im Laufe des Abends wuchs die Bewegung in der Stadt wie an einem Wahltage. Namentlich war das Gedränge groß auf dem Höjbroplatz, vor dem mächtigen Gebäude des »Fünften Juni«. Hurras und Hochrufe für Enslev, vermischt mit Pfeifen und Spektakel klangen zu dem halbrunden Eckbalkon hinauf, wo der alte Führer sich so oft an den großen Wahltagen der Menge gezeigt und sich hatte huldigen lassen.

Jetzt saß Samuelsen da oben hinter den Anschlagzetteln in den Fenstern und war in tiefe Verzweiflung gesunken. Eine große Hoffnung war für diesen Mann des Friedens zu Grabe getragen. Für diesen Mann, dessen einziger Wunsch war, seine Arbeit als väterlicher Wohltäter und Freund des Publikums in Ruhe ausführen zu dürfen. Die Verwirklichung seines Traumes von einem mächtigen vierundzwanzigseitigen Blatt mit einer ehrlich ausgestreckten Hand nach allen Seiten, mit einem besondern Sonntagsblatt, einer Sportzeitung, einer illustrierten Mittwochsbeilage für Kinder, einer Gesundheitsbibel und einer humoristischen Beilage mit bunten Bildern, diesem Riesenunternehmen, das liebevoll das ganze Volk umschließen sollte wie ein Polyp, das jede Konkurrenz niederschlagen sollte – alles war rettungslos gestrandet an dem Eigensinn eines halbverrückten Greises.


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