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III

Laufe des Abends versammelte sich in Enslevs großem Empfangssaal und in den anstoßenden Stuben eine aufgescheuchte Gesellschaft seiner politischen Freunde. Es war eine sehr ungleichartige Versammlung. Da waren Reichstagsabgeordnete und Universitätsprofessoren, Etatsräte und Provinzredakteure, Leute aus allen Rangklassen bis hinab zu dem dicken Möller, dem Anton Bjerreby eine Anstellung beim »Fünften Juni« verschafft hatte, jetzt, wo Samuelsen das Blatt verlassen und mehrere von den geschicktesten Federn mitgenommen hatte. In einer Ecke saß Zaun mit einem weinerlichen Lächeln in seinem verzerrten Gesicht, ganz überwältigt von dem, was geschehen war.

Auch Professor Bendix hatte sich eingefunden, hauptsächlich jedoch in seiner Eigenschaft als Hausarzt. Der kleine braunäugige Mann ging bekümmert umher. Infolge der gewaltigen Kraftanstrengung, die sich sein Patient in der letzten Zeit trotz aller Warnungen geleistet hatte, erwartete er im Grunde jeden Tag die Katastrophe.

Zwischen dieser ängstlichen und ratlosen Schar ging Enslev mit aufrechter Haltung umher und tat seinem Gesicht Gewalt an, um den Ekel und die Verachtung zu verbergen, die er immer für seine Freunde empfand. Schließlich stand er unter dem Kronleuchter und hielt eine kurze Rede an »seine Kondolenten«, wie er sie spöttisch nannte. Er dankte der kleinen Schar, die ihn bei der Abstimmung nicht im Stich gelassen hatte, und sagte: »Zwölf ist eine heilige Zahl. So viele hatte auch Christus! Ich will das als gute Vorbedeutung betrachten. – Aber jetzt gute Nacht, meine Herren! Ich habe meine Zeitung zu besorgen und muß nun an meinen Schreibtisch.«

Auf dem Wege zum Arbeitszimmer wollte ihn erst Fräulein Evaldsen und hinterher Bjerreby aufhalten. Sie wurden beide barsch abgewiesen. Dahingegen schickte er nach Professor Bendix, der die Treppe schon hinabgekommen war.

Enslev saß zurückgelehnt im Schreibtischstuhl, als der Arzt eintrat.

»Sie sehen mich so erschreckt an, Professor Bendix! Setzen Sie sich! Ich will Sie nicht lange aufhalten. – Und lassen Sie mich direkt auf die Sache losgehen. Wie Sie sich vielleicht erinnern, ist es jetzt drei Jahre her, als wir unsere eingehende Unterredung über meine Krankheit hielten. Ich fragte Sie, ob Sie glaubten, daß eine Operation das Übel heben oder doch auf die Dauer ihm abhelfen könne. Als Sie mir auf Grund meines Alters von dem Versuch abrieten und mich mit dem statistischen Material bekannt machten, gab ich den Gedanken auf und zog mich aus dem politischen Leben zurück. Ich bin seitdem nicht jünger geworden. Trotzdem frage ich Sie, Herr Professor, wollen Sie mich operieren, wenn ich Sie von jeder Verantwortung entbinde? Ich kann nicht weiter arbeiten, wenn diese ewige Drohung über meinem Haupte schwebt. In den letzten vier Monaten habe ich siebenundzwanzig Tage in meinem Bett zugebracht. Und in der nächsten Zeit werden Forderungen an mich gestellt werden, die die Kraft von zwölf Männern erheischt. Die politische Arbeit eines halben Jahrhunderts ist zerstört und muß neu geschaffen werden – und ich habe niemanden, der mir helfen kann. Jetzt kennen Sie meinen Wunsch. Ich weiß, daß die Möglichkeit für einen glücklichen Ausfall sich seit damals in keiner Beziehung gebessert hat. Aber Sie stehen ja in dem Ruf, eine glückliche Hand zu haben, Herr Professor. Und vielleicht gilt die Statistik nur für Tölpel.«

Um nicht die Wahrheit sagen zu müssen, bat sich der Professor Bedenkzeit aus. Er wolle sich gern mit Professor Asmus Hagen beraten, der Enslev ja nun so lange behandelt hatte.

»Ich gebe Ihnen Frist bis morgen,« sagte Enslev, »aber nicht länger! Ich kann alles ertragen, nur keinen Aufschub!«

Ohne hierauf zu antworten, fragte der Professor, ob er ihm nicht ein Schlafpulver verschreiben solle.

»Nach diesem sehr anstrengenden Tage würde es für alle Fälle gut sein, wenn Sie richtig ausschlafen könnten.«

»Ausschlafen werde ich schon früh genug. Ein Mann in meiner Stellung, Herr Professor, muß sich daran gewöhnen, den Schlaf zu entbehren, sonst reicht das Leben nicht aus. An dem Tage, an dem ich fortgehe, ist das Volk ohne Vormund. Glauben Sie nicht an die Redensart von einem Volkswillen! Ein Volk ist immer sorglos wie ein Kind. Wenn man nicht mit ihm herumtummelt und mit ihm spielt, fällt es in seinen Naturschlaf zurück und erwacht in Ketten.«

In diesem Augenblick hörte man unten vom Platz her Hurrarufe. Extrablätter hatten das Ergebnis der Reichstagsversammlung in der Stadt verbreitet, und auf eine gemeinsame Eingebung hin hatten sich ein paar hundert Menschen vor Enslevs Fenstern versammelt, um gegen die Abstimmung zu protestieren, indem sie ihm eine Huldigung darbrachten.

»Enslev soll leben! ... Nieder mit Tyrstrup! ... Hurra! Hurra! Hurra!«

Er lauschte. Dieser Klang, diese Hurrarufe – die Musik seines Lebens – verwandelten ihn. Seine Augen strahlten, und er mußte seine Bewegung fortlächeln.

Anton Bjerreby steckte im selben Augenblick den Kopf durch die Tür.

»Sie werden sich wohl zeigen müssen, Enslev! Die Leute da draußen wollen Sie durchaus sehen.«

Er erhob sich sofort.

Aus dem Empfangszimmer, wo es jetzt leer und dunkel war, führte eine Tür auf den Balkon hinaus. Der große Kronleuchter wurde wieder angezündet, und Fräulein Evaldsen kam mit seinem Pelz gelaufen. Aber aufgeregt, wie er war von den Hurrarufen, schob er sie beiseite und wollte so, wie er ging und stand, auf den Balkon hinaus. Bjerreby mußte sich ihm in den Weg stellen, um ihn zu zwingen, den Pelz anzuziehen. Als die Türflügel aufgeschlagen wurden und die Menge da draußen seine Gestalt in dem ausströmenden Licht erblickte, brach unter dem sternenhellen Frosthimmel ein Jubel los. Der ganze Platz vor dem Hause war jetzt schwarz von Menschen. Aus allen anstoßenden Straßen waren Leute herbeigeströmt. Man schwenkte mit den Hüten und wehte mit Taschentüchern. Aber es wurden auch einzelne Pfuirufe laut, und irgendwo mitten in den Volksmassen hatte eine Prügelei angefangen.

»Enslev soll leben! ... Nieder mit Tyrstrup! ... Nieder mit den Schwarzröcken!«

Er erhob die Hand, und als man begriff, daß er reden wolle, wurde es im selben Augenblick so stille, daß man seine Stimme über den ganzen Platz vernehmen konnte.

»Ja, nieder mit allem, was die Sonne verdunkeln will! Nieder mit den Mächten der Finsternis, die sich jetzt zusammenschleimen, um den Siegesgang der befreiten Menschheit über den Erdball zu hemmen! Nieder mit der lichtscheuen Drachenbrut, die von neuem aus den Ecken herauswatschelt und unter einer sorgenvoll ernsten Maske ihren Haß verbirgt und ihre Schadenfreude sättigt! Die Schandtat, die heute abend begangen ist, ist ein Ruf an alle, die es noch wert finden, zu kämpfen und zu leiden für das Recht, unter den Verhältnissen des freien Mannes zu leben. Laßt uns den Helden des Tages ihren Triumph nicht neiden! Der Gedenkstein, den die Geschichte einstmals über diesen Sieg errichten wird, soll ein Schandpfahl werden. Ich baue auf die Jugend! Sie wird sich nicht betrügen lassen. Die schöne Erde, die frei im Sternengewimmel schwebt, gehört uns, und wir erkennen keines fremden Gewalttäters Recht über unser Leben an. Wir lieben unser sturmumbraustes Land, unsere gemeinsame Lust und Sorge und Ehre, und wir wollen es schirmen als Erbeigentum für die ungeborenen Geschlechter! ... Es lebe die Freiheit! Es lebe Dänemark! Es lebe Dänemark, das Land der Freiheit!«


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