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XIII

Jytte war mehrere Tage nicht aus dem Hause gewesen. Der Anblick der vielen frohen Menschen, die von dem Sommer auf dem Lande zurückkehrten, wirr von Sonne und Seeluft, wirkte beängstigend auf sie. Sie begriff nicht, wie sich jemand von diesem falschen Schönheitsschimmer über einer Erde so voller Gräber betrügen lassen konnte.

Die Nacht war jedoch ihre schlimmste Zeit. Wegen ihrer Schlaflosigkeit hatte sie schon vor längerer Zeit Karsten vorgeschlagen, daß er in seinem eigenen Zimmer schlafen solle. Jetzt, wo sie sich mehr und mehr von seiner Treulosigkeit überzeugte, sah sie ihn überhaupt nur noch beim Mittagessen und setzte das Zusammenleben mit ihm ausschließlich aus Rücksicht auf das Kind fort, das sie erwartete. Und doch war es weniger seine Leichtfertigkeit, durch die sie sich erniedrigt fühlte, als die Schwäche seines Charakters, die Falschheit und elende Heuchelei, womit er seinen Betrug zu verbergen suchte. Und von diesem Menschen hatte sie ein Kind! ... Wie war es nur zugegangen? Ach, sie wußte es nur zu gut! Funkenweise war ihr in letzter Zeit das Verständnis aufgegangen. Es war ihr ergangen wie dem Kinde, das sich im Wald verirrt und sich vor lauter Angst immer tiefer und tiefer in die wilde Finsternis hineinstürzt. – – Aber sie hatte das ja alles voraus gesehen! Vom erstenmal an, als sie in das unwegsame Dornengestrüpp ihrer Seele starrte und mit panischem Grauen vor der Finsternis und den roten Raubtieraugen da drinnen floh, hatte sie ihr Schicksal gekannt. –

Es schellte an der Flurtür, und unwillkürlich erhob sie sich ein wenig scheu, denn sie erkannte Pastor Gaardbos Klingeln. Der Besuch setzte sie nicht in Erstaunen. Sie hatte ihn erwartet. Nach dem Wunsch der Mutter hatte er an ihrem Sarge gesprochen, und da er sich ausdrücklich eine Bezahlung verbat, hatte sie ihm durch ihren Rechtsanwalt eine größere Geldsumme gesandt zur Verwendung nach eigenem Ermessen in der Samariterarbeit seiner Gemeinde.

Das Mädchen kam mit seiner Karte herein.

»Der Herr fragt, ob er die gnädige Frau einen Augenblick sprechen darf.«

»Haben Sie nicht gesagt, daß ich nicht empfange?«

»Jawohl!«

Unwillkürlich strich Jytte mit der Hand das Nackenhaar glatt. Obwohl es schon spät am Tage war, hatte sie noch ihr Morgengewand an und kam eben aus ihrem Bade. Anfänglich entschloß sie sich, seinen Besuch abzulehnen, aber bewogen von der Erinnerung an seine große Hilfsbereitheit der Mutter gegenüber, außerdem überredet von ihrem Einsamkeitsgefühl, hieß sie schließlich das Mädchen ihn hereinführen.

Sobald Johannes Gaardbo Platz genommen hatte, bereute sie jedoch ihre Nachgiebigkeit, weil die ganze Begegnung so hoffnungslos war. Was konnten sie einander sagen? Sie hörte seinen Dank für das große Geschenk an. Da sie aber nichts weiter erwiderte, als daß sie im Geiste der Mutter gehandelt habe, entstand gleich eine längere Pause.

Sie sah ihn die ganze Zeit vor sich, so wie er hinter dem Sarge der Mutter gestanden hatte, in dem entsetzlichen Zauberergewand und dem großen Tollenkragen, aus dem der Kopf hervorragte wie ein abgehauener Johanneskopf auf einer Schüssel. Von seiner Rede erinnerte sie sich nur wenig, weil sie ihn jetzt weniger denn je verstand. Sie redeten nicht dieselbe Sprache. Der Weltgeist, den er den Gott der Allliebe nannte, der die Schuld der Menschheit auf sich genommen hatte, war für sie ein Dämon der Finsternis, dessen empörende Sünden Mensch aus Einfältigkeit und Furcht zu den seinen machte.

In ihrer Angst, daß er mit einem Bekehrungsversuch beginnen könne, führte sie das Gespräch auf gleichgültige Dinge und ließ ihn kaum zu Worte kommen. Nicht einmal von der Mutter durfte er sprechen. Sie konnte es nicht ertragen, andere ihren Namen nennen zu hören.

Sie ahnte nicht, daß er hauptsächlich gekommen war, weil er sich selbst einsam fühlte und das Bedürfnis hatte, Verständnis zu finden. Infolge seines Auftretens bei Großhändler Söholms Begräbnis war er zurzeit ein verdächtiger Mann, der mit dem Bannstrahl der Mission bedroht war. Pastor Stensballe duldete keine Verletzung der Disziplin, vergab keine Kränkung der geschäftsmäßigen Organisation, in die die Kirche unter seiner Leitung mehr und mehr verwandelt worden war. Es war zu ein paar ernsten Zusammenstößen gekommen, bei denen Pastor Stensballe mit seinem heftigen Sinn sich schließlich ihm gegenüber auf eine solche Art vergessen hatte, daß ein fortgesetztes Zusammenarbeiten unmöglich gemacht war.

Pastor Gaardbo hatte unter anderm die Absicht gehabt, Jytte zu fragen, ob sie kürzlich von seiner Schwägerin auf Favsingholm gehört habe. Aber teils konnte er sich nicht recht überwinden, den Namen zu nennen und zu gestehen, daß er nicht mehr in Verbindung mit seinem Bruder oder dessen Familie stand, teils merkte er bald, daß Jytte noch zu erregt und nervös war, um eine wirkliche Unterhaltung führen zu können.

Nach einer ganz kurzen Pause verabschiedete er sich deswegen. Um jedoch einen Anlaß zu haben, den Besuch zu wiederholen, erwähnte er beim Abschied, daß es sie wohl interessieren würde, zu erfahren, wozu die schöne Gabe ihrer Mutter angewendet werde. Er wolle sich deswegen erlauben, sobald die Entscheidung getroffen war, wieder bei ihr einzusehen.

Jytte sagte weder ja noch nein, aber als er gegangen war, bereute sie, daß ihr der Mut gefehlt hatte, ihn abzuweisen. Welchen Zweck hatte es, daß er kam? Sie würden doch nie lernen, miteinander zu sprechen. Er war außerdem nicht ohne Schuld au ihrem Unglück, und das würde sie ihm nie verzeihen können. Hätte er sich in jenem Sommer auf Storeholt menschlicher in seinen Gefühlen ihr gegenüber gezeigt, so würde vielleicht jetzt vieles anders sein. Glücklicher würde sie freilich nicht geworden sein, aber sie hätte dann doch die Mutter nicht durch ihre Torheit ins Grab gebracht. –

Am Tage darauf erhielt sie Besuch von ihrem Vetter Asmus. Der kleine Professor hatte sie vor einiger Zeit auf der Straße getroffen und war durch ihr Aussehen beunruhigt worden. Es freute ihn deswegen, sie jetzt bei der kleinen Aussteuer zu finden, um so mehr, als er sich nicht ganz sicher fühlte, wie sie die Nachricht aufnehmen würde, deren Überbringer er war.

Nachdem er sich vergebens bemüht hatte, sie für Stadtneuigkeiten zu interessieren, stellte er ihr die Frage, die Johannes Gaardbo am vorhergehenden Tage auf den Lippen gehabt hatte:

»Hast du kürzlich von deiner Freundin auf Favsingholm gehört?«

»Ja, vor gar nicht langer Zeit. Sie schrieb mir in Anlaß von Mutters Tod.«

»Und da drüben ging alles gut?«

»Das glaube ich wohl.«

»Du hast vielleicht gelesen, daß in Favsingholm eine große Feuersbrunst gewesen ist?«

»Eine Feuersbrunst? ... Nein!«

»Es stand gestern in den Zeitungen. Der ganze Kuhstall ist abgebrannt und ein Schweinehaus. Man glaubt, daß das Feuer angelegt ist. Der Mann deiner Freundin, der Naturdoktor, hat da drüben offenbar auch kein Glück mit seinem Auftreten gehabt. Er und Dihmer sollen die Bevölkerung auf verschiedene Weise herausgefordert haben.«

»Dann höre ich sicher in den nächsten Tagen wieder von Meta,« sagte Jytte. »Denn nun hat sie doch etwas zu erzählen.«

Nach einer Pause fuhr Asmus fort: »Du entsinnst dich vielleicht, daß ich auch einen Korrespondenten da drüben habe – Dihmers früheren Hausarzt. Mit ihm habe ich gestern und auch heute telephoniert. Mir ahnte nämlich, daß diese Feuersbrunstgeschichte ernstere Folgen für Dihmer haben würde, als ein paar abgebrannte Wirtschaftsgebäude, und meine Vermutung hat sich leider bestätigt.«

»Wieso bestätigt?« fragte Jytte; sie saß mit einem Nähfaden in den Händen und drehte ihn nervös zwischen den Fingern.

»Sein Zustand ist offenbar bedenklich. Die Aufregung ist für seinen untergrabenen Gesundheitszustand zu stark gewesen. Die Mitteilungen, die mein Doktor aus Randers heute aus Favsingholm eingeholt hat, klingen sehr trostlos. Dihmer soll bereits mehrere Ohnmachtsanfälle gehabt haben. Man muß wohl darauf vorbereitet sein, daß es diesmal der Tod ist. Aber mein Gewissen ist schuldlos. Er war gewarnt.«

Bei dem Worte Tod war ein Zittern durch Jyttes Körper gegangen. Asmus hatte es gesehen und sagte deswegen: »Wahrscheinlich wird man hören, daß die Leute das Ereignis auf ihre gewohnte oberflächliche Weise auslegen. Die Erklärung ist natürlich die, daß da stets ein krankhafter Punkt im Dihmers Gehirn gewesen ist, eine Brutstätte für die Verrücktheit, die sich in den letzten Jahren in ihm entwickelt hat.«

Der Nähfaden drehte sich noch immer zwischen Jyttes Fingern.

»Willst du nicht hinüberfahren?« fragte sie, ohne zu hören, was er sagte. »Das solltest du doch tun, Asmus!«

»Nein,« sagte der Professor und schüttelte den Kopf.

»Warum nicht? Du hast ihm doch früher geholfen. Du solltest noch heute reisen.«

»Das würde kaum mehr nützen. Ich zweifle außerdem stark daran, daß ich willkommen sein würde. Es ist ja eine Art von religiöser Idee bei ihm geworden, daß man die Seligkeit erlangen kann, indem man sich voll Herzlichkeit mit seinem Schicksal verbindet – ›wie eine Braut ihrem Bräutigam‹ –. Ich entsinne mich, daß er diesen Ausdruck bei unserer letzten Unterredung gebrauchte. Und leider muß ich ihm zugeben, daß er Ernst aus der Sache gemacht und den Glauben durch die Tat bestätigt hat.«

Jytte war wieder gedankenabwesend. Als der Vetter sich nach einer Weile erhob, geleitete sie ihn mechanisch hinaus.

Auf dem Flur dachte sie einen Augenblick daran, ihn zu bitten, daß er sie anklingeln solle, falls er wieder etwas von Favsingholm hörte. Aber ehe sie sich entschließen konnte, es zu sagen, war er zur Tür hinaus.

Hinterher stand sie lange in dem Blumengarten des Erkers, wo sie in dieser Zeit oft mit ihren finstern Gedanken gestanden und auf die herbstlichen Bäume von Grönningen hinabgestarrt hatte. Als sie Karsten den Schlüssel in die Flurtür stecken hörte, durchzuckte es sie, und um ihn zu vermeiden, ging sie ins Schlafzimmer.

Bei Tische wurde kaum ein Wort gewechselt, und gleich nach dem Kaffee entfernte sich Karsten unter einem seiner gewohnten Vorwände. Obgleich Jytte überzeugt war, daß er zu seiner Geliebten ging, suchte sie nicht ihn zurückzuhalten. Sie war im Gegenteil froh, ihn loszusein.

Ohne ein andres Licht als die Ampel im Erker anzuzünden, saß sie lange in einem der großen Lehnstühle vor der offenen Ofentür und kroch in ihrem Schal zusammen. Nach dem Tode der Mutter hatte sie halbwegs erwartet, von Dihmer zu hören, der doch auf alle Fälle durch Meta von dem Todesfall erfahren haben mußte. Sie hatte gehofft, daß er die Gelegenheit benutzen würde, ihr ein paar Zeilen zu senden. Aber als die Tage vergingen, ohne daß ein Brief kam, ward es ihr klar, daß der Gruß, den er ihr einmal durch Asmus gesandt hatte, ein Abschiedsgruß war. Wenn nicht einmal die Erinnerungen an »die alte Stube« ihn in diesen Tagen veranlassen konnten, ein versöhnendes Wort zu schreiben, so hatte er sie vergessen, weil er sie vergessen wollte. Und der Traum, den sie zuweilen geträumt hatte, daß sie einander einmal begegnen und sich so recht gründlich aussprechen würden, war ein lächerliches Hirngespinst.

Sie trat an ihren Schreibtisch und zündete Licht an. Aus einem verschlossenen Schubfach nahm sie ein paar von Metas früheren Briefen. Sie hatte sie seinerzeit dort verwahrt, weil sie nicht wollte, daß Karsten sie lesen sollte und auch sie selbst nicht mehr daran erinnert sein wollte. Es waren die ersten Briefe, die die Freundin ihr aus Favsingholm geschrieben hatte, und worin sie so viel von Dihmer erzählte. In einem derselben hieß es: »Unser Gutsbesitzer ist wirklich eine etwas wunderliche Persönlichkeit, aber man kann doch nicht umhin, ihn liebzugewinnen. Es ist eine fixe Idee bei ihm, daß er nichts tun will, um gesund zu werden. Er sagt, es gäbe gerade gesunde Leute genug in der Welt. Mein Mann meint, daß das seinen Grund in seiner Krankheit habe. Ich aber glaube, daß er irgendeinen großen Kummer gehabt hat, über den er nicht hinwegkommen kann. Eines Tages saßen wir hier im Garten, und Paul erzählte von einer Pächterfamilie hier in der Nähe, die vor einer Woche beide Kinder an der Diphtheritis verloren hat. Dihmer saß da und zeichnete mit seinem Stock im Sand und sagte lange nichts. Ich fragte ihn dann, ob er nicht finde, daß es schrecklich sei, und er sagte auch ja. Aber nach einer Weile, als er sich verabschiedete und meine Hand hielt, sah er mir wunderlich in die Augen und sagte, man solle sich mit dem Kummer gut Freund machen; er sei unvermeidlich und außerdem der einzige wirkliche Freund des Menschen und sein treuer Reisekamerad durch das Leben.«

Jytte erinnerte sich des Eindrucks, den diese Worte auf sie gemacht hatten, als sie dies zum erstenmal las. Sie hatte seither oft daran denken müssen, und namentlich in der allerletzten Zeit, als die Selbstmordgedanken sie täglich verfolgten, hatte sie Zuflucht in dieser Ermahnung gesucht, daß man dem Kummer mit Gegenliebe begegnen müsse. Aus der Ferne hatte Dihmer, ohne es selbst zu ahnen, ihr eine Freundeshand in der Stunde des Unterganges entgegengestreckt und sie aufrechtgehalten.

Nachdem sie die Briefe wieder eingeschlossen hatte, ging sie zu Bett. Aber sie konnte nicht schlafen. Und in der Dunkelheit erwachten die alten Zweifel wieder und spukten in ihrem Gemüt, als seien sie der böse Dämon ihres Lebens. Hatte sie Dihmer denn doch geliebt? Hatte ihre Mutter recht gehabt? Hatte sie sich selbst überredet, an ihrer Liebe zu zweifeln, weil sie keusch und still war?

Im Laufe der Nacht gewann das Verlangen, ihn wiederzusehen, immer mehr Gewalt über sie. In allen ihren Briefen hatte Meta ihre Einladung wiederholt, daß sie einen Besuch auf Favsingholm machen möge, und so unmöglich es auch im Augenblick war, hatte der Gedanke sie in ihrer Einsamkeit doch oft beschäftigt. Sie konnte nicht glauben, daß Dihmer alle Zuneigung zu ihr verloren haben sollte. Meta hatte ja auch oft geschrieben, daß er nach ihr frage und beständig wissen wolle, ob sie einen Brief von ihr bekommen habe.

Ein Automobil hielt unten auf der Straße, und nach einer Weile hörte sie, wie Karsten in den Flur hineinkam. Es geschah fast lautlos; nur weil die Tür von der Wohnstube zum Gang hinaus zufällig offen stand, konnte sie ihn hören. Sie knipste das Licht an und sah, daß die Uhr fast vier war.

Es war nicht das erstemal, daß sie ihn in der Nacht seinen Rock mit diebsmäßiger Vorsicht über einen Bügel hatte hängen und in sein Zimmer schleichen hören. Resigniert hatte sie bisher ihre Ohren verschlossen, um ihn nicht zu dem Geständnis zu zwingen, das sie um ihres Kindes willen vermeiden wollte. Aber jetzt stand sie entschlossen auf und zog ihren Schlafrock an. Jetzt wollte sie Klarheit haben.

Einen Augenblick später stand sie in der Tür zu seinem Zimmer, das sie in den letzten Monaten nicht betreten hatte.

Seine Bestürzung über ihren Anblick und noch mehr sein schlaffes Aussehen, das ungeordnete Haar und der lose geschlungene Schlips machten alle Fragen überflüssig. Sie hatte den Beweis erhalten, den sie zu haben wünschte.

Karsten versuchte zu lächeln.

»Liebste ... bist du noch auf?«

»Woher kommst du?« fragte sie.

»Das weißt du ja. Ich bin mit Möller zusammen gewesen.«

»Du lügst!«

»Liebste Jytte ... sei doch nicht wieder hysterisch! Komm doch herein!« sagte er und näherte sich ihr mit ausgebreiteten Armen.

»Rühr mich nicht an! Du kommst von deiner Geliebten! Versuche nicht, es zu leugnen. – Rühr mich nicht an, sage ich dir! Oder ich klingele das ganze Haus wach!«

»Jetzt sollst du vernünftig sein, Jytte! Schließe doch wenigstens die Tür und komm herein.«

»Ich will nichts hören ... nichts wissen. Morgen, wenn du ausgeschlafen hast, sollst du meine Meinung schriftlich erfahren.«

Den ganzen letzten Teil der Nacht ging Jytte in ihrem Schlafzimmer bei geschlossenen Türen auf und nieder. Als sie sich endlich aufs Bett legte, war sie so erschöpft, daß es ihr schwarz vor den Augen wurde. Sie war jetzt fest entschlossen, sich scheiden zu lassen. Noch am selben Tage wollte sie in ihr altes Heim in der Dronningens Tvärgade ziehen, wo noch alles seit der Mutter Tode unverändert stand.

Um zehn Uhr morgens, als sie vor dem Spiegel saß und ihr Haar ordnete, klopfte Karsten furchtsam an. Sie öffnete nicht, antwortete auch nicht.

Nach einer Weile ging er fort.

Sobald sie die Flurtür hinter ihm ins Schloß fallen hörte, ging sie ans Telephon und klingelte Asmus Hagen an und fragte, ob er neue Nachrichten aus Favsingholm erhalten habe. Sie traf ihn zu ihrem Kummer nicht zu Hause. Auch in der Klinik konnte sie ihn nicht sprechen. Dort wurde geantwortet, er sei durch Operationen in Anspruch genommen.

Ein paar Stunden später wiederholte sie ihr Anklingeln, aber au beiden Stellen mit demselben Ergebnis. Da kam sie auf dem Gedanken, sich mit dem Arzt in Randers, von dem Asmus gesprochen hatte, in Verbindung zu setzen. Als sie im Telephonbuch nachschlug, fand sie auch den Namen.

Während der halben Stunde, die sie warten mußte, bis sie eine Verbindung erlangte, ging sie wieder im Zimmer auf und nieder, ohne Ruhe finden zu können, und je mehr sich die Zeit in die Länge zog, um so stärker ward sie von dem Wunsch beherrscht, trotz ihres elenden Zustandes sofort nach Favsingholm hinüberzureisen. Es war ihr, als müsse sie es tun. Wenn Dihmer starb, würde sie ihre Ruhe nie wiederfinden, falls sie ihm nicht Lebewohl gesagt habe. Sie durften nicht unversöhnt scheiden! ... Aber sie wollte nicht daran glauben, daß er sterben würde! Könnte sie nur mit ihm sprechen, und hatte er sie nicht ganz verdammt, so würde sie ihn anflehen, Vernunft anzunehmen und zum Leben zurückzukehren.

Das Telephon klingelte.

»Ist Randers da? ... Ja! ... Ist es Doktor Mikkelsen?«

Eine ferne, weibliche Stimme antwortete, der Doktor sei ausgefahren ... »Spreche ich mit Kopenhagen?«

»Ja.«

»Dann ist es wohl von Professor Hagen?«

Jytte antwortete ja.

»Dann soll ich von Herrn Doktor sagen, daß Gutsbesitzer Dihmer gestern abend um neun Uhr gestorben ist.«

Als Jytte den Hörer niedergelegt hatte, stand sie eine Weile stumm da und vernahm noch immer die fremde Stimme aus der Ferne und der Dunkelheit. »Gutsbesitzer Dihmer ist gestern abend um neun Uhr gestorben.«

Da schwankte sie in das Schlafzimmer und setzte sich auf den Bettrand, die Hände vor dem Gesicht.

»Was habe ich getan?« schluchzte sie.

Aber bald darauf wurde sie still, erhob den Kopf und pries den toten Freund glücklich. Jetzt hatte er den bösen Kampf des Lebens ausgekämpft. Er war aus dieser furchtbaren Welt erlöst, wo außer der Enttäuschung alles Betrug war, wo alles Blendwerk war, außer der Entbehrung und dem Kummer. Sie sah ihn vor sich, im Tode erstarrt, weiß und kalt und still, wie auch ihre Mutter es gewesen war. Sie sah die schöne, breite Stirn, die geschlossenen Augen und den Mund, den sie ein einziges Mal geküßt hatte.

Dieses Augenblickes würde sie sich erinnern wie eines Ewigkeitsaufflammens in der langen Dämmerung ihres Lebens. Aber es war nur gut, daß es bei diesem einen blitzschnellen Liebesbegegnen blieb. Jetzt war er von all dem Bösen verschont geblieben, das die Menschen einander antaten, wenn sie sich zu lieben glaubten, und sie selbst konnte ohne Reue an ihre Liebe denken, konnte in ihrem Herzen um ihn trauern, ohne sich zu schämen.

Wieder erschien er vor ihr, so wie sie ihn an jenem Abend in dem italienischen Hotel gesehen hatte, als er mitten, während der Aufführung, in die Tür trat und sie mit einem großen, verwunderten Blick anstarrte. Schon damals eine verklärte Gestalt. Schon damals so weit auf dem Wege zu einer glücklicheren Welt, daß sie nicht den Mut gehabt hatte, ihn zurückzuhalten. Hätte er das doch nur verstanden!

Sie selber würde vielleicht noch viele Jahre ein Schattendasein hinschleppen, als Mutter eines armen Wesens, das als Erinnerung an ihre Erniedrigung zur Welt kommen würde. Aus Angst vor dem Sterben würde sie sich an die Schrecknisse des Lebens anklammern, und alle würden sie mit Verwunderung fragen, weswegen sie nicht froh sein könne.


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