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V

Unter den vielen tausend Telephongesprächen, die sich an diesem Abend, durch Enslevs Austritt veranlaßt, in Kopenhagen kreuzten, wurden auch einige zwischen Jägermeister Hagens Schwiegervater, Großhändler Söholm, und verschiedenen politisch interessierten Leuten seiner Bekanntschaft geführt, die der Großhändler angeklingelt, um ihre Meinung über die Sache zu hören.

»Hm!... Ja!... Die Stimmen auf dem Lande also; ja, das mag ja sein! ... Bin Geschäftsmann, kenne nichts von der ganzen Sache ... Was sagen Sie? ... Der Standpunkt meines Schwiegersohnes? Ja, davon weiß ich auch nichts. Mische mich nicht da hinein. Aber Sie meinen also, daß Enslev fertig ist?... Krank ist er auch? Hm, das ist er ja. Nun, da wollen wir mal sehen, was bei dem Spektakel herausbrät... Na, dann gute Nacht!«

Großhändler Söholms Kontor lag am Westerwall. Seine Privatwohnung – eine neuerbaute palastähnliche Villa – lag in dem vornehmen Viertel vornean auf Österbro. Am Morgen jeden Wochentags um acht Uhr fuhr er in einem elefantengrauen Riesenautomobil von Hause fort, und bis er gegen sechs Uhr wieder nach Hause kam, wurde die Familie von seinen beiden unverheirateten Töchtern, den Fräulein Cäcilie und Konstanze, sowie von seiner Schwester, dem alten Fräulein Söholm, repräsentiert, das während der Abwesenheit des Bruders die eigentliche Herrscherin des Hauses war.

Die Gattin des Großhändlers lebte zwar auch noch, wurde aber nur halbwegs mit zur Familie gerechnet. Wie eine arme Verwandte, die das Gnadenbrot im Hause ißt, hatte sie ihren Platz im Eßzimmer, wo sie mit ihrem Strickzeug an einem der Fenster sitzen durfte. Die frühere Grünwarenhändlerin hatte sich ganz unempfänglich für gesellschaftliche Dressur gezeigt, und die Jahre hatten überhaupt nicht entwickelnd auf ihre Geistesfähigkeiten gewirkt. Sie saß an ihrem Fenster und lauschte mit dem scheuen Ausdruck eines mißhandelten Pferdes, und aß nur mit bei Tisch, wenn kein Besuch da war.

Für die Töchter war sie ausschließlich die Frau ihres Vaters, und für Fräulein Söholm war sie nur ein Hauskreuz, das zu Tode zu plagen ihr zu ihrem großen Ärger bisher nicht gelungen war. Die Fräulein Cäcilie und Konstanze waren beide große, schlanke Gestalten, die ihrer Schwester, Frau Wilhelmine, glichen, so daß die Leute sie oft auf der Straße verwechselten. Sie waren, so wie diese, immer sehr elegant gekleidet und fast die ganze Zeit des Tages von ihrer Garderobe und ihrer Frisur in Anspruch genommen.

»Die Kaffeeschwestern«, wie man sie in der Stadt nannte, hatten alle drei ihre Erziehung in ausländischen Pensionaten erhalten, und die jüngste, Fräulein Konstanze, war kürzlich von einem Besuch aus Deutschland als Braut zurückgekehrt. Ihr Verlobter, ein Ulanenoffizier und Freiherr, wurde in den nächsten Tagen erwartet. Der Großhändler wie auch seine Schwester waren sehr zufrieden mit der Partie. Der künftige Freiherrinnentitel war für sie ein Ersatz für die fehlgeschlagene Spekulation, die Wilhelminens Ehe für sie bedeutete. Nach der Ansicht der Mutter war nicht gefragt worden.

Fräulein Cäcilie war noch unverlobt, und doch war sie nach Ansicht vieler die schönste der drei schönen Schwestern und hatte auch die meisten Anträge gehabt. Aber durch den vielen Verkehr mit ihrem eigenen Spiegelbild hatte sie sich in die Vorstellung eingelebt, daß sie die schönste Frau der Erde sei, und sie fand aus dem Grunde, daß kein Mann gut genug sei, um durch sie beglückt zu werden. Sie ging mit einem lebensmüden Ausdruck herum, gleichsam beschwert von ihrer außerordentlichen Schönheit, und hatte ein herablassendes Wesen, das die Leute wissen ließ, sie erzeige ihnen eine große Gnade, nur dadurch, daß sie existierte.

Am Sonntag nach dem großen politischen Ereignis war der Jägermeister mit seiner Frau bei seinem Schwiegervater zum Frühstück gebeten. Das Verhältnis zwischen den beiden Männern hatte sich gerade nicht gebessert, aber die Verhandlungen über den Verkauf Storeholts hatten eine Erneuerung des persönlichen Verkehrs notwendig gemacht.

Bei Tische erzählte der Großhändler, daß er in den nächsten Tagen beabsichtige, nach »seinem Gut« zu reisen, wo er eine Woche zubringen wolle, um die begonnenen großen Umbauten zu besichtigen. Es war die Absicht, daß der neue Schwiegersohn, der Ulanenoffizier, gleichzeitig einige Tage da drüben verbringen sollte, und er sprach davon, ein paar Jagden zu veranstalten und vielleicht auch ein paar größere Mittagsgesellschaften zu geben. Der Jägermeister erhielt auch eine Einladung, die er indessen ablehnte. Wie glücklich er sich auch fühlte, Storeholt aus den Händen gegeben zu haben und von allen Scherereien in bezug auf Geld, Gesinde und Abrechnungen befreit zu sein, fiel es ihm doch noch ein klein wenig auf die Nerven, seinen Schwiegervater von seinem alten Heim als von seinem Besitz reden zu hören.

Er sah ein paarmal verstohlen über den Tisch zu seiner Frau hinüber, die indessen ganz gleichgültig dasaß und auf ihre korrekte Weise mit festgeklemmten Ellbogen und weichen Handgelenken aß.

»Nun ja,« dachte er, »Wilhelmine kann es natürlich nicht auf die gleiche Weise empfinden wie ich. Aber der kleine Kaj liegt doch da drüben begraben.«

Nach dem Frühstück lud ihn der Schwiegervater zu einer Havanna in sein Rauchkabinett ein, und hier begann er von dem »politischen Gefasel« zu reden, von dem die Zeitungen so voll waren. Er fragte ihn, wie er sich zu der veränderten Situation zu stellen beabsichtige. Ob er mit Enslev oder mit Tyrstrup gehen wolle.

Es fiel dem Jägermeister jedoch nicht ein, sich auf eine politische Diskussion mit seinem Schwiegervater einzulassen. Für ihn war und blieb der Mann nie etwas andres als ein Lagerknecht, der Glück gehabt hatte, und er hatte sich in keiner Weise von seinen Millionen imponieren lassen.

Er verschwieg sogar, was ihm doch so sehr schmeichelte, daß er bereits mehrmals Gegenstand von Überredungsversuchen von selten der Tyrstrupschen Fraktion gewesen war. Gjärup hatte ihn sogar persönlich aufgesucht, um ihn mit der Aussicht auf einen Platz in dem wichtigen Ausschuß über das Häuslergesetz zu locken. Aber er hatte beschlossen, die Sache vorläufig abzuwarten und sich von dem Parteigezänk freizuhalten, damit er sich auch ferner – den Blick fest aufs Ziel gerichtet – einen klaren Kopf wahren könne.

Im Wohnzimmer nebenan begann ein Grammophon zu schnarren. Als es endlich in Gang kam, ertönte eine Wagnersche Arie, gesungen von dem Augapfel der Nation, dem Heldentenor der Oper.

Herr Söholm drückte auf einen Knopf unter der Tischplatte, und fast wie ein Automat schob sich die Tür zum Flur in die Mauer hinein, und ein livreegekleideter und frisierter Junge erschien in militärisch strammer Haltung in der Öffnung.

»Herr Großhändler haben gerufen?«

»Mach die da zu!« befahl Herr Söholm und machte eine Bewegung mit dem Kopf nach der geöffneten Tür zum Wohnzimmer.

Als er mit dem Jägermeister allein geblieben war, legte er die Beine auf einen Stuhl und sagte:

»Wenn Sie meine Meinung wissen wollen, so ist es die, daß Enslev fertig ist. Die Stimmung draußen auf dem Lande ist gegen ihn. Er ist ja auch ein kranker Mann. Das sollten Sie sich ein wenig überlegen, denn es wäre doch angenehm, wenn Sie dort im Reichstag bald das richtige Ende gefaßt kriegen könnten.«

»Ich bin nicht käuflich!« sagte der Jägermeister streng abweisend.

Herr Söholm stimmte ein Gelächter an. Er hatte in Gedanken schon das Hab und Gut seines Schwiegersohnes aufgemacht und dem Gericht eingereicht.

»Ja, fein soll es sein, und Dreck is es!«

»Was meinen Sie damit?«

»Ich meine, verdammt und verflucht, daß es Ihre Pflicht ist, ernstlich an die Zukunft zu denken. In einem halben Jahre habt ihr ja vermöbelt, was ihr von mir gekriegt habt. Das kann ja jedes Kind sehen! Von was wollt ihr dann leben? Von mir bekommt ihr keinen Heller!«

»Ich möchte mir doch verbitten, daß Sie sich in meine Angelegenheiten mischen.«

»Das beabsichtige ich nun doch zu tun, und zwar um Wilhelminens willen.«

»Hat Wilhelmine sich vielleicht beklagt? Entbehrt sie etwas?«

Ein Wort gab das andre, und es kam zu diesen ohrenbetäubenden Schimpfereien, die den gewöhnlichen Abschluß ihrer Unterhaltungen bildeten. Und stets war der Jägermeister der halsstarrigste. Alles alte Patriziergefühl stieg in ihm auf gegenüber diesem schreienden Plebejer mit dem aufgeschwollenen Ringernacken, während Herr Söholm seinerseits von dieser Respektlosigkeit vor seinem Geld gelähmt wurde, vor dem doch sonst alle Leute zu kriechen pflegten.

Nachdem der Jägermeister seine Lieblingsbemerkung, daß er ihm etwas blasen wolle, und zwar nicht mit dem Munde, abgeliefert hatte, schob er die Tür zum Wohnzimmer zurück und rief hinein: »Wilhelmine, wir wollen gehen!«

Die Wirkung war jedoch ein wenig beschämend für ihn, indem seine Frau schon gegangen war. Statt ihrer antwortete ihm der Heldentenor durch den Grammophontrichter:

Geliebte! Komm an meine Brust
O süße, süße Himmelslust!

Als er auf die Straße hinab kam, lächelte er befriedigt. Es hatte ihm geradezu gutgetan, sich diesem großen Ungetüm gegenüber Luft machen zu können. Nun hatte er aber auch das Bedürfnis, mit einem vernünftigen Menschen zu sprechen, und so entschloß er sich denn, in die Dronningens Tvärgade zu gehen.

Er hatte Jytte auch etwas von Karsten From zu sagen, dem er am Vormittag gesessen hatte. Er erwartete, seine Cousine allein zu treffen, weil er wußte, daß seine Tante jeden Sonntagnachmittag nach dem Kirchhof ging, um die Gräber ihres Mannes und ihres Sohnes zu besuchen.

Auf dem Flur teilte ihm das Mädchen mit, daß Besuch da sei. Er ging trotzdem hinein und fand eine große, üppige, sehr schöne, aber nicht mehr ganz junge Dame mit einem kostbaren Blaufuchs, der über Rücken und Arme hing, vor.

Sie war ihm ganz fremd. Aber als sie einander ansahen, mußten beide unwillkürlich lachen. Die Dame, die ihm als Frau Merck vorgestellt wurde, war nämlich die Juweliersgattin, deren Porträt er in Karsten Froms Atelier gesehen hatte, und sie erkannte sein Gesicht von demselben Ort. Es war dem Jägermeister klar, daß sie es sein müsse, mit der er neulich in der Östergade einen Blick gewechselt hatte, als sie im flotten Gefährt an ihm vorüberfuhr.

»Dann ist es wahrscheinlich Ihr Auto, das unten hält,« sagte er und fixierte sie ein wenig.

»Freilich! Vielen Dank, daß Sie mich daran erinnern.«

Sie legte ihr Fuchsfell auf den Schultern zurecht und fragte währenddessen, ob man das Vergnügen haben würde, ihn zu dem großen Empfang bei Karsten From am nächsten Freitag zu sehen. Sie höre zu ihrer Überraschung, daß seine Cousine nicht eingeladen sei.

»From hat mich gebeten, zu kommen, aber die Reichstagsarbeit legt natürlich in dieser Zeit stark Beschlag auf uns Männer des Volkes. Die politische Situation ist ja sehr ernst. Man weiß nie, welchen Augenblick man zu Konferenzen von entscheidender Bedeutung gerufen werden kann.«

»Nun ja – wenn Sie verhindert sind, so verlieren Sie wahrscheinlich nicht viel,« sagte Frau Merck und erhob sich. »Es ist nicht mehr so amüsant bei From. Alle seine Tricks mögen ja ganz nett sein, aber man kann auch zuviel von dem Herrn Bajazzo bekommen.«

»Seine Gesellschaften stehen doch in dem Ruf, besonders lebhaft zu sein.«

Frau Merck lachte mit einem unzivilisierten Lachen und strich sich über die langen Handschuhe.

»Ja, es kommen wahrscheinlich auf der Heimfahrt allerlei kleine Verwechslungen zwischen den Paaren vor. Die Menschen sind ja nicht immer so tugendhaft, wie sie sein sollten.«

Sie sagte jetzt Lebewohl, und Jytte, die die ganze Zeit vermieden hatte, sie anzusehen, mußte sie hinausbegleiten.

Als sie zurückkam, stand der Vetter mitten im Zimmer, die Hände in die Seiten gestemmt, und lächelte breit.

»Was für eine Dame ist denn das? Ihr kennt sie also?«

»Nein – Gott sei Dank kennen wir sie eigentlich nicht. Aber sie hat eine Tante in Australien, die einstmals Mutters Freundin gewesen ist. Sie kam, um einen Gruß von ihr zu bringen.«

Jytte ahnte jedoch, daß dieser Gruß nur ein Vorwand gewesen war, der sogar möglicherweise nur erfunden war. Frau Merck hatte auf irgendeine Weise von ihrem Besuch bei Karsten From Wind bekommen, vielleicht durch Karsten From selbst. Sie war auffallend erpicht darauf gewesen, über ihn zu sprechen, und es war Jytte klar geworden, daß ein Verhältnis zwischen den beiden bestehen müsse, und daß Frau Merck hierhergekommen war, weil sie Verdacht geschöpft hatte und nun spionieren wollte.

»Es ist übrigens lustig, daß sie Froms große Abendgesellschaft erwähnen mußte,« sagte der Vetter. »Ich komme nämlich geradeswegs von ihm, und er sagte genau dasselbe. Er glaube nicht, daß es amüsant werden würde. Er hätte die allergrößte Lust, die Gesellschaft abzusagen, aber er hat schon ein Zigeunerorchester engagiert, und das Essen und die Bedienung sind auch bestellt. Ich glaube sogar, er hat diesmal ganz besondere Anstrengungen gemacht.«

»Warum glaubt er denn, daß es nicht hübsch bei ihm werden wird?« fragte Jytte, die sich ans Fenster gesetzt hatte und auf die Straße hinabblickte, als wenn sie nur halb anwesend wäre.

»Weil er in diesen Tagen alles durch eine schwarze Brille ansieht. Er ist in schrecklicher Laune. Kannst du den Grund nicht erraten?«

Jytte wandte den Kopf um.

»Ich?«

»Vielleicht sollte ich es nicht sagen, aber ich glaube, er hat eine ganz winzig kleine Hoffnung genährt, daß es ihm gestattet sein würde, dich zu diesem Fest einzuladen. Gewiß hat er auch aus diesem Grunde besondere Anstrengungen damit gemacht. Direkt gefragt hat er mich nicht, er hat sich nur nach meiner Ansicht erkundigt. Aber nach dem, was du mir neulich sagtest, konnte ich ja nicht in Zweifel sein, wie du dich dazu stellen würdest, und das habe ich ihm auch gesagt. Ich konnte merken, daß er sehr mutlos wurde. Mehrere Minuten sprach er kein Wort. Und ... ja, da ich nun so viel gesagt habe, Jytte, so kann ich dir ebensogut die ganze Wahrheit erzählen. Er ist rasend – ganz wahnsinnig in dich verliebt.«

»Ach was!« sagte Jytte und wandte sich mit glühendem Gesicht dem Fenster zu.

»Ich weiß es besser, Cousinchen! Denn er hat es mir selbst anvertraut. Er muß überhaupt fortwährend von dir sprechen.«

»Ach – verschone mich damit!« sagte Jytte und erhob sich.

Im selben Augenblick hörte sie ihre Mutter nach Hause kommen, und aus Angst, ihr gerade jetzt zu begegnen, ging sie in ihr eignes Zimmer hinein.

Dort setzte sie sich in ihren Lehnstuhl und legte die Hand über die Augen. Das währte jedoch nur eine Minute. Dann richtete sie sich auf und schalt sich selbst kindisch. Großer Gott, sie war doch schon früher ein wenig verliebt in ein schönes Männergesicht gewesen, ohne daran zu sterben. Aber der Gedanke ärgerte sie, daß Karsten From sich an eine solche Frauensperson wegwerfen konnte wie diese Frau Merck, die sich damit rühmte, mehr Liebhaber gehabt zu haben als die Kaiserin Katharina die Zweite. Daß er doch nicht sehen konnte, wie unwürdig das war?

Was John ihr von seiner »wahnsinnigen Verliebtheit« erzählt hatte, davon glaubte sie keinen Deut. Es war gewiß nicht so ernst gemeint! –

Als sie eine halbe Stunde später wieder in die Stube kam, war der Vetter gegangen. Auch die Mutter war nicht da. Sie wanderte, einen Schal über die Schultern, ein wenig auf und nieder, denn es fror sie. Sie ordnete ihre Noten, zog eine Schublade heraus und versank in Gedanken, weil sie vergessen hatte, was sie eigentlich suchte. Schließlich setzte sie sich wieder ans Fenster und sah auf die Straße hinab.

Es hatte angefangen zu dunkeln. Die Laternen wurden gerade angezündet. Auch die Straßenbahnen, die mit sonntäglich geputzten Leuten durch die Straßen sausten, waren erleuchtet. Sie mußte daran denken, daß in längst entschwundenen Tagen Torben Dihmer um diese Zeit zum Besuch zu kommen pflegte, und sie fühlte seine Anwesenheit auf eine eigene beruhigende Weise.

Immer stand er erst ein wenig dort an der Tür und sah sich um, als wolle er sich vergewissern, daß sich nichts verändert habe in der »alten Stube«, wie er das Zimmer nannte, wegen seiner dunklen, schweren Mahagonimöbel, die alle aus dem soliden Kaufmannshause ihres Großvaters stammten. Er selbst war immer der gleiche. Nicht sehr gesprächig, aber doch unterhaltend und voll Schelmerei. Der liebenswerteste Mensch der Welt! ... Trotz der Eifersucht, die sie quälen konnte, wenn er und die Mutter zu tief in die Politik hineingerieten, war es doch eine lichte und friedvolle Zeit gewesen. Es war nicht zu verstehen, daß sie wirklich nicht länger zurücklag. Es war ihr, als gehöre sie einer unendlich fernen Vergangenheit an, einem goldenen Zeitalter im ersten Welten-Morgengrauen. Selbst ihre letzte unglückliche Begegnung in Italien vor nur sieben Monaten erschien ihr wie ein Erlebnis aus einem andern Dasein.

Die Mutter war ins Zimmer gekommen. Sie hatte sich mit einem Strickzeug auf das Sofa gesetzt.

Das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter hatte sich noch nicht ganz wieder eingerenkt nach dem Besuch bei Karsten From. Aber Jytte fühlte in diesem Augenblick das Bedürfnis zu einer Versöhnung. Sie setzte sich neben die Mutter und legte einschmeichelnd die Arme um sie.

»Bist du noch böse auf mich, Mutter?«

Frau Berta sah sie ein wenig mißtrauisch an. Dann ergriff sie ihre Hand und schaute ihr in die goldbraunen Augen.

»Willst du mir eins versprechen, Jytte? Willst du immer ehrlich gegen mich sein? Mir nichts verbergen, selbst wenn du weißt, daß es mich betrüben wird?«

»Das verspreche ich dir!« sagte Jytte nach kurzem Besinnen und küßte sie.


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