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VIII

An demselben Tage, an dem die Zeitungen am Morgen die Mitteilung von Karsten Froms und Jytte Abildgaards Verlobung gebracht hatten, fuhr Asmus Hagen an dem Hotel am Kongens Nytorv, wo Torben Dihmer wohnte, vor. Er hatte doch Lust zu sehen, welche Wirkung diese Nachricht auf den Freund gemacht hatte.

Als er von der Straßenbahn abstieg, sah er, daß um den Zeitungsverkäufer an der Haltestelle Gedränge herrschte, und nach einer Weile stand er selber mit einem Extrablatt des »Fünften Juni« in der Hand da. Hierin waren die Worte zu einer »Vorlage zum Beschluß« mitgeteilt, die Enslev dem Präsidenten des Folkethings eingesandt hatte, und worin Mißtrauen zu der Regierung geäußert und das Verlangen gestellt wurde, sie zu entfernen.

Asmus Hagen steckte das Papier in die Tasche und ging schräg über den Platz auf das Hotel zu. Er fand Torben zu Hause. Der Freund stand vor einem geöffneten Koffer, im Begriff, einige Bücher hineinzulegen.

»Was hat das zu bedeuten? Willst du abreisen?«

»Ja! Wenn du nicht gekommen wärest, hätte ich einen Versuch gemacht, dich einmal im Laufe des Abends zu treffen. Ich fahre morgen nach Hause, nach Favsingholm.«

Asmus zog das Extrablatt aus der Tasche.

»Lies einmal!«

»Das ist ja nur, was man lange erwartet hat,« sagte Torben, als er die Mitteilung überflogen hatte.

»Kann dich das nicht zurückhalten?«

»Weswegen meinst du?«

»Wenn es Enslev gelingt, sich eine nur einigermaßen anständige Minorität zu verschaffen, so bekommen wir sicher neue Wahlen.«

»Setz dich und nimm eine Zigarette und laß uns von etwas anderem reden.«

»Du bist also noch immer gleich unempfänglich. Laß mich dir nur in bezug auf die bevorstehende Entscheidung, gegen die du so gleichgültig scheinst, sagen – mit Enslev fällt das letzte Bollwerk gegen die mittelalterliche Sündflut, die unsere Kultur mitten in ihrer Blüte zu ertränken droht. Mit Tyrstrup wird die Geistlichkeit schnell fertig werden. Er ist ein gutmütiger Zugochse, der selbst nicht weiß, wer ihn fährt.«

»Nun ja! Wir werden vielleicht eine Kostümveränderung erleben. Weiter ist es ja doch nichts. Im innersten Innern sehen diese Art Leute ja alle miteinander gleich aus.«

Asmus schwieg bekümmert. Obwohl Torben mit dem Rücken nach dem Licht stand, fiel es ihm auf, wie verändert sein Gesicht im Laufe der letzten Tage geworden war. Die Züge waren schlaff, die Augenlider schwer herabgesenkt.

»Sage mir, Torben – du vergißt doch nicht, deine Pillen regelmäßig zu nehmen? Du weißt ja, es ist durchaus notwendig; daß du das nicht versäumst.«

Die Frage veranlaßte Torben, den Kopf zu erheben. Er sah den Freund im Sofa mit einem scheuen Blick hastig an und errötete. Einen Augenblick stand er in seine eigenen Gedanken versunken da. Dann trat er an Asmus heran, stellte sich neben ihn und legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Ich will dir gegenüber ganz aufrichtig sein. Vielleicht ist es das letztemal, daß wir zusammen sprechen. Du hast so viel für mich getan, und wenn ich dir jetzt die Wahrheit eingestehe, wirst du mich schändlich undankbar finden. Siehst du, vor dem Tage an, vor fünf Vierteljahren, als du zu mir nach Favsingholm hinüberkamst – oder wenigstens von dem Tage an, als ich von hier nach Deutschland abreiste –, habe ich ein Scheinleben geführt, von dem ich befreit werden muß. Du wirst das sicher nicht begreifen, und es wird mir auch nicht leicht, es zu erklären. Man sitzt nicht drei lange Jahre da und nimmt Abschied vom Leben, ohne daß dies Spuren hinterläßt. Du kennst doch die Geschichte von dem Mönch, der von einem Zaubervogel in die Ewigkeit hineingesungen wurde, während er schlief. Als er erwachte, waren viele Hunderte von Jahren vergangen, und die Welt war eine andere geworden. Mir ist es gerade umgekehrt ergangen. Ich habe die Welt ganz unverändert gefunden, selbst aber bin ich dreihundert Jahre älter geworden und habe die Fühlung mit meinen Zeitgenossen verloren. Ich gehöre nicht mehr zu euch. Trotz meiner wiedergewonnenen Gesundheit gehe ich umher wie ein etwas unheimliches Gespenst, ein Emeritus, dein ehemaliger Mitmensch, Asmus, der nicht imstande ist, eigentlich etwas bei dem Ganzen zu empfinden.«

»Willst du mit alledem sagen, daß du deine Pillen nicht mehr nimmst? Denn in dem Fall will ich dich doch wissen lassen –«

»Ich weiß es. Aber ich bin also zu der Überzeugung gelangt, daß es zwecklos ist, gegen sein Schicksal ankämpfen zu wollen. Hier in der Welt geschehen keine Wunder. Auch nicht in der Wissenschaft.«

»Ich frage dich noch einmal, ist es deine Absicht, dir selbst ein Unglück zuzufügen? Denn sonst möchte ich dich nur an die Verfassung erinnern, in der ich dich fand, als ich zu dir nach Favsingholm hinüberkam.«

»Die habe ich natürlich nicht vergessen, aber ich sage dir ja, daß ich mich mit meinem Schicksal ausgesöhnt habe. Es ist nun einmal mein Schicksal, und – wie es im Trauformular heißt – was Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden. Daraus entstehen nur Enttäuschungen und Unfriede.«

»Ich will nicht mit dir philosophieren. Dazu scheint mir die Sache – offen gestanden – zu ernst, aber ich will dir noch eine Frage stellen, und jetzt mußt du verzeihen, wenn ich ganz gerade heraus zu dir über ein Verhältnis rede, das ich sonst nicht berührt haben würde. Ich begreife nicht, daß du dich von einer Liebesgeschichte so wahnsinnig aus deiner Bahn herausschleudern lassen kannst. Meine teure Cousine ist sicherlich eine sehr anziehende Dame, und ich, der ich euer früheres Verhältnis gekannt habe, begreife deine Bitterkeit sehr wohl. Aber wenn du dich verheiraten willst – was ich dir in hohem Grade empfehlen würde –, so findest du sicher ohne Schwierigkeit einen Ersatz. Es gibt ja, Gott sei Dank, noch eine Menge anderer, höchst liebenswerter Frauen in der Welt außer Jytte. Versprich mir, um unserer alten Freundschaft willen, daß du nur noch vierzehn Tage hier in der Stadt bleiben willst. Suche deine Bekannten auf, stürze dich ins Gesellschaftsleben, versuche überhaupt, wieder in ein vernünftiges Verhältnis zu dem Dasein zu kommen, und du wirst sehen, wie alle ›Gespenstererscheinungen‹ sich schnell verflüchtigen werden!«

Torben lächelte. Er saß vornübergebeugt da, die Arme auf den Knien, und betrachtete seine Hände. Als Jyttes Name genannt wurde, war ein Zittern durch seine Wangen gegangen.

»Du hast mich mißverstanden, Asmus! Ich habe mich ja gar nicht beklagt. Ich bin im Gegenteil deiner Cousine dankbar für ihren standhaftigen Wankelmut und bitte dich, ihr gelegentlich meinen Gruß zu überbringen. Du sprachst vorhin von dem Zustand, in dem du mich antrafst, als du im letzten Herbst nach Favsingholm kamst. Aber diese Erinnerung schreckt mich nicht mehr. Ein solches Dasein hat auch seine Vorteile. Es macht einen klug in bezug auf mancherlei, was dem Robusten und Geschäftigen verborgen ist. Man entdeckt unter anderm, wie wenig dazu gehört, um einen froh zu stimmen! Ein Vogel, der sich auf das Fensterbrett setzt, eine Staubflocke, die im Sonnenschein dahinsegelt – mehr ist in Wirklichkeit nicht erforderlich; und hat man das einmal verstanden, so beneidet man die nicht, die sich aus Begierde nach Erlebnissen das Leben aus dem Leibe jagen.«

Asmus Hagen, der sich in die Sofaecke zurückgelehnt hatte, betrachtete den Freund schweigend.

»Weißt du wohl noch,« sagte er schließlich, »was ich dir mehrmals gesagt habe, daß du den Keim zu einem Träumer und Schwärmer in dir trügest?«

»Das hast du gewiß von mehreren gesagt, Asmus!«

»In bezug auf dich habe ich also recht bekommen – leider.«

»Meinst du? Da habe ich selbst eine ganz andere Auffassung von meiner Entwicklung. Ich habe ein Gefühl, als sei ich im letzten Jahre aus einem tiefen Schlaf erwacht, ja, zuweilen ist es mir, als sei ich der einzige wirklich Lebende in der Welt. Und warum bist du im Grunde so empört? Du selbst hast dich doch vorsichtig in gehörigem Abstand von dem schwülen Marktgetriebe gehalten. Du empfiehlst mir die Ehe, selbst hast du dich aber nicht verheiratet und denkst auch gewiß nicht daran, es zu tun. Du willst mich absolut in die Politik hineinbringen und mich der Geselligkeit in die Arme werfen, selbst aber bist du mehr als ängstlich, von den Schlachterfäusten der Öffentlichkeit befingert zu werden.«

»Ich habe meinen Platz in der Ambulanz. Die gibt mir vorläufig Beschäftigung genug.«

Torben Dihmer nickte.

»Du hast recht, diesen Gesichtspunkt verstehe ich! ... Ja, das Menschengeschlecht ist krank – wahnsinnig. Alles, wovon ich in diesen zehn Monaten in drei Weltteilen Zeuge gewesen bin, hat mich immer an die unheimliche Rastlosigkeit erinnert, mit der ein Wahnsinniger an seiner eigenen Zerstörung arbeitet. Ich bin überzeugt, daß wir vor einer Weltkatastrophe stehen. Diese ganze hochgespannte Kraftentfaltung, auf die alle Nationen so stolz sind, dies wahnsinnige Produktionsfieber, das keinen natürlichen Bedürfnissen entspricht – das müssen die letzten Krampfzuckungen einer zum Tode verurteilten menschlichen Gesellschaft sein. Ich begreife nicht, daß kein anderer das auf diese Weise empfindet. Einer ist da, ja freilich, das ist wahr, du wirst ihn wohl auch kennen, Asmus? Ein Kreisarzt auf Fünen, Paul Gaardbo.«

»Ja – was ist denn mit dem? Meinst du seine törichten Schreibereien?«

»Töricht? ... Ich finde sie im Gegenteil sehr vernünftig.«

»Ja, natürlich!« unterbrach ihn Asmus und ging erbittert im Zimmer auf und nieder. »Bei einem Quacksalber mußtest du ja schließlich stranden! Das verstehe ich jetzt vollkommen! Aber das will ich dir doch noch sagen, Torben, wenn du deine verrückten Selbstmordpläne nicht aufgibst ... ja, es nützt nichts, daß du mich unterbrichst! Ich nenne sie so –!«

Torben hatte sich jetzt auch erhoben. Er stellte sich vor den Freund, die Hände auf seinen Schultern.

»Wir wollen nicht in Unfrieden voneinander scheiden. Laß mich dir jetzt noch einen Vorschlag machen! Komme zu mir nach Favsingholm hinüber, wenn ein Jahr verstrichen ist. Zu der Zeit werden wir die Unterhaltung mit mehr Erfolg fortsetzen können.«

»Ein Jahr? Du rechnest mit hohen Zahlen. Zu der Zeit könnte es vielleicht zu spät sein.«

»Nun ja! Dann ist da ein Mensch weniger auf der Welt. Das ist das Ganze!« sagte Torben und wandte sich von ihm ab.

Aber nach einer Weile kehrte er zurück und legte wieder die Hände auf seine Schultern.

»Lebe wohl, Asmus! Ich kann es dir ansehen, daß es dir schwer wird, der Versuchung zu widerstehen, mich für verrückt zu erklären und mich einsperren zu lassen. Darum ist es besser, wenn du jetzt gehst. Ich weiß, daß ich dir Kummer bereite. Aber wenn es dir möglich ist, so bewahre mir ein wenig Freundschaft!«


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