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IV

Doktor Gaardbo und Meta saßen eines Abends lange über ihre gewohnte Schlafenszeit da und sprachen über ihre bedrohte Zukunft. Der Doktor hatte noch immer keine Praxis, und es mußte eine Entscheidung getroffen werden.

Als sie spät in der Nacht endlich zur Ruhe kamen, war der Beschluß gefaßt. Sie wollten das Land verlassen und ihr Glück in Australien versuchen. Durch den Verkauf ihres Hausrats, meinten sie, sich das erforderliche Reisegeld verschaffen zu können, und im übrigen besaß der Doktor zusammen mit seinem Bruder eine Hypothek, – den Nachlaß ihres sparsamen Vaters.

Am nächsten Morgen setzte er Meta in Erstaunen, indem er erklärte, daß er an einem der nächsten Tage zu Johannes gehen wolle, um ihm Lebewohl zu sagen.

»Auf die Weise kann ich die Sache mit dem Verkauf der Hypothek auch am besten ordnen,« sagte er. »Sonst kommt zu viel Schreiberei dabei heraus.«

»Das mußt du ja machen, wie du selber willst, Paul. Eins will ich dir aber sagen, mich kriegst du nicht mit dahin. Und wenn Johannes uns einen Gegenbesuch machen sollte, dann kann ich nicht an mich halten, dann sage ich ihm offen ins Gesicht, was er auf seinem Gewissen hat.«

»Da will ich verhindern, daß er kommt. Aber das hat wohl übrigens keine Not.«

»Ich begreife dich nicht, Paul! Man kann nicht klug daraus werden, wie eigentlich dein Verhältnis zu Johannes ist. Erst treibt er seine Braut zur Verzweiflung, und nun jagt er seinen einzigen Bruder aus dem Lande – ja, schüttele du nur den Kopf, aber es verhält sich so, wie ich sage! Seit dem Tage, als du ihm auf der Straße begegnet bist und er dich nicht kennen wollte, hast du keine Ruhe mehr gehabt. Das habe ich wohl gemerkt.«

»Du weißt, ich betrachte Johannes als einen kranken Mann. Ich glaube im Grunde, daß er oft selber unter seinen Zwangsvorstellungen leidet. Auf alle Fälle will ich nicht reisen, ohne ihm das letzte Lebewohl gesagt zu haben. Und nun sprechen wir nicht mehr von ihm. Ich will jetzt nach der Lloydagentur gehen und mich nach einer Schiffsgelegenheit erkundigen.«

Am Tage darauf suchte er den Bruder auf, traf ihn aber nicht zu Hause. Da schrieb er einen Brief, erzählte, daß er sich entschlossen habe, auszuwandern, und gab eine Zeit an, wo er ihn wieder aufsuchen würde.

»Es wird natürlich weder Meta noch mir leicht, von der Heimaterde aufzubrechen,« schrieb er. »Aber man hat also hier keine Verwendung mehr für mich, und nach der Dornenkrone des Märtyrers juckt mir die Stirn nicht. Die Torheit unserer Mitmenschen soll uns unser Dasein nicht vergiften. Und – offen gestanden – nicht zum wenigsten um der Kinder willen hat es etwas Verlockendes für mich, ganz von vorn in einem neuen Erdboden anzufangen, wo ich für meine Person mit dem Bewußtsein leben kann, daß ich niemand von denen, die um jeden Preis Bedeutung haben wollen und sollen, mehr zur Last fallen werde.« –

Pastor Gaardbo wohnte zur Miete bei ein paar älteren Damen im drittem Stockwerk eines Hauses am Schloßkanal. Er hatte hier zwei sonnige Zimmer mit einer Aussicht, wie man ihresgleichen in der ganzen Stadt nicht wieder fand. Seinen Fenstern gerade gegenüber lag die Schloßkirche mit der grünen Kuppel, und rechts sah man auf den kleinen Heringsmarkt beim Assistenzhause herab und auf die stille, tote Kanalpartie zwischen dem Prinzenpalais und Thorwaldsens Grabdenkmal. Links aber hatte er den Schloßplatz mit der Reiterstatue, und zwischen der Holmenskirche und der Börse erschloß sich ein weiter Blick über die Kanaleinfahrt mit ihren Schiffsmasten und alten Speichergiebeln. Ganz hinten in diesem lebhaften Hafenbild – hoch über dem Nebelmeer der Tiefe – ragte luftig wie ein Traum der Turm der Erlöserkirche mit der goldenen Kugel auf, die an klaren Tagen wie eine Sonne am Himmel leuchtete.

Doch nicht um dieser Aussicht willen hatte Johannes Gaardbo hier seine Wohnung gewählt, sondern wegen der zentralen Lage des Hauses. Er war ein vielbeschäftigter Mann. Im Reichstag ließ er sich freilich nur blicken, wenn vorauszusetzen war, daß über kirchliche Angelegenheiten verhandelt werden würde, oder wenn das besondere Interesse seines Wahlkreises seine Anwesenheit erheischte. Der Gemeindearbeit opferte er alle seine Gedanken; und obwohl es von ihm hieß, er sei ein Modeprediger für die Damen der guten Gesellschaft geworden, beschäftigte ihn in erster Linie jetzt wie ehedem die Samaritertätigkeit der Kirche. In den allerärmsten Arbeitervierteln trieb er am liebsten seine Mission. Von keiner noch so dunklen und unheimlichen Hinterhaustreppe, von keiner noch so elenden Kammer ließ er sich abschrecken, wo es galt, einem Menschen, der in Not war, den Trost der Kirche zu bringen. Sein Tag war ein ewiges Wandern. Am Abend sprach er in der Regel in irgendeiner Versammlung. Hinterher konnte er wieder an einem Krankenbett sitzen und, eine fieberfeuchte Hand zwischen den seinen, ein Gebet sprechen. Die Nachtbummler der Stadt kannten ihn sehr wohl, wenn er gegen Morgen mit seinen schnellen Schritten von einer Nachtwache an dem Sterbebett eines Armen durch die Straßen gegangen kam. –

Johannes Gaardbo öffnete dem Bruder selbst, als dieser klingelte. Er empfing ihn mit einem stummen Händedruck, der nicht ohne Herzlichkeit war, worauf sie in das Zimmer hineingingen.

Beider Wesen war gedämpft und trug das Gepräge einer erkünstelten Rücksichtnahme. Als sie Platz genommen hatten, fragte der Pfarrer freundlich nach Meta und den Kindern, sprach darauf eine Weile über das unruhige Wetter, berührte aber mit keinem Wort die Reisepläne des Bruders. Als dieser sie schließlich selbst erwähnte, verstummte er sofort und schlug die Augen nieder.

Der Doktor verstand die Absicht sehr wohl. Wenn Johannes – trotz seiner Verschämtheit – nicht den leisesten Versuch machte, ihn zum Bleiben zu überreden, so geschah das, weil er in dieser Landesverweisung die gerechte Strafe des Himmels erblickte. Er beschränkte sich dann darauf, von der Hypothek zu sprechen. Und als der Pfarrer erklärte, daß er es für das richtigste halte, die Verhandlung dieser Sache in allen Stücken einem Rechtsanwalt zu überlassen, geriet die Unterhaltung ins Stocken.

In diesen Augenblicken, während der Lärm eines vorüberfahrenden Arbeitswagens die Stille im Zimmer noch mehr hervorhob, beschloß der Doktor, einen letzten Versuch zu machen, sich mit dem Bruder auszusprechen. Er wollte nicht fortreisen, ohne das äußerste Mittel gewählt zu haben, um den alten Johannes von den Toten aufzuerwecken.

Als der Wagen vorübergefahren war, sagte er:

»Da ist noch etwas anderes, worüber ich gern mit dir reden möchte, ehe ich abreise. Wenn du hörst, um was es sich handelt, wirst du mir freilich vorwerfen, daß ich dir die Wahrheit so lange verborgen habe. Das war vielleicht auch verkehrt von mir, aber ich kann dich versichern, daß meine Absicht die beste gewesen ist.«

Der Pfarrer, der dagesessen und nervös an einem Buch herumgefingert hatte, erhob bei diesen Worten den Kopf und wartete auf die Fortsetzung, ohne zu dem Bruder hinüberzusehen, der an der andern Seite des Tisches saß.

»Es handelt sich um Rosalie,« sagte der Doktor. »Über sie muß ich mit dir sprechen.«

Als der Name seiner verstorbenen Braut genannt wurde, wandte der Pfarrer das Gesicht ab, wie jemand, der eine Gefahr ahnt.

»Was hast du über Rosalie zu sagen?«

»Ich habe dir etwas zu erzählen, Johannes, und du mußt darauf vorbereitet sein, daß es dich sehr betrüben wird. Du weißt wohl noch, daß ich an Rosaliens Todestag nach Kolding gerufen wurde, und daß ich zusammen mit dem alten Distriktsarzt Hansen die Leichenschau vornahm. Aber du weißt nicht, und du hast nicht wissen können, daß unsere Erklärung über das Unglück nicht ganz korrekt war. Auf alle Fälle war sie nicht vollständig. Das wußten wir damals, als wir sie ausstellten, freilich selber nicht. Erst hinterher – ja, Johannes, jetzt mußt du ganz ruhig sein –, erst hinterher fielen mir Aufklärungen in die Hände, die leider jeden Zweifel ausschlossen, daß –«

Der Pfarrer hatte sich langsam erhoben. Er war leichenblaß geworden und stützte sich mit der Hand auf den Tisch.

»Was beabsichtigst du mit all dem, was du mir da erzählst? Willst du sagen, daß Rosaliens Tod kein Unglücksfall war?«

Ein unheimlicher Gedanke schlug in den Doktor nieder und machte ihn verstummen: Er hat es gewußt!

»Warum schweigst du?« rief der Pfarrer wie ein Mensch in äußerster Not.

»Es verhält sich so, wie du sagst, Johannes. Es war kein unfreiwilliger Tod.«

»Und worauf begründest du deine schändliche Vermutung?«

»Ich fand einen Brief in Rosaliens Kleidertasche, in dem Kleid, das zusammen mit ihren andern Kleidungsstücken im Badehaus hing. Da der Brief keine Aufschrift trug, erbrach ich ihn, aber ich hatte noch nicht viele Zeilen gelesen, als es mir klar wurde, daß es ein Abschiedsgruß an dich war. In ihrer niedergedrückten und verwirrten Gemütsverfassung hatte sie vergessen, deine Adresse auf den Brief zu schreiben. Von dem Augenblick an, wo ich das begriff, las ich natürlich nicht weiter, und auch sonst hat niemand den Brief gelesen. Aber die paar Zeilen, die ich also versehentlich gesehen habe, erzählten mir die Wahrheit. Wenn ich sie dir verschwieg, so wirst du meine Gründe wohl verstehen. Ich wußte ja, wie innig du und Rosalie einander liebtet, trotz aller Widersprüche. Sie hat in einer plötzlichen Gemütsverwirrung gehandelt, jedenfalls in einer unglückseligen Übereilung. Sie hatte am Morgen einen Brief von dir bekommen, nicht wahr? Du hattest ihr darin Vorwürfe gemacht, weil sie seit längerer Zeit nicht zum Abendmahl gegangen war. Das ist wohl die äußere Veranlassung gewesen. Was übrigens ihren Brief betrifft, so liegt er versiegelt daheim bei mir, und kein anderer Mensch als Meta und ich wissen von seinem Vorhandensein. Meta habe ich sogar erst kürzlich zu meiner Mitwissenden gemacht, denn ursprünglich hatte ich gedacht, daß ich um deinetwillen das Geheimnis mit mir ins Grab nehmen wollte. Jetzt werde ich dir den Brief schicken, sobald ich nach Hause komme.«

Der Pfarrer war auf den Stuhl niedergesunken und hatte das Gesicht in den Händen verborgen. Und plötzlich brach er zusammen, mit einem Schluchzen, einem Stöhnen voller Kummer und Schmerz, so dumpf und wild wie das eines zu Tode verwundeten Tieres.

Obwohl der Doktor jetzt nicht im Zweifel darüber war, daß der Bruder die Wahrheit in bezug auf den Tod seiner Braut geahnt und mit seiner beängstigenden Fähigkeit, die Augen vor der Wirklichkeit zu verschließen, seinen Verdacht vor sich selbst verborgen hatte, so erfaßte ihn doch das tiefste Mitleid. Dies unbeherrschte Weinen ging ihm zu Herzen, so daß sich auch seine Augen mit Tränen füllten.

Er ging schließlich zu ihm hinüber und legte ihm die Hand auf die Schulter. Aber bei seiner Berührung sprang der Pfarrer auf und schrie:

»Geh weg von mir! Du bist es ... Du trägst die Schuld an dem Tod meines armen kleinen Mädchens! Ja, jetzt sollst du die ganze Wahrheit hören. Rosalie wuchs glücklich heran in einem guten, christlichen Heim, aber du verwirrtest ihren Sinn mit deiner gottlosen und frechen Rede und triebst sie zur Verzweiflung! Ihr Tod kommt über dich! Gott wird sich in Gnaden über sie erbarmen um ihrer Jugend willen. Die Hoffnung werde ich niemals aufgeben! Dich aber wird der Allmächtige fürchterlich strafen, Paul!«

Der Doktor bewahrte seine Ruhe.

»Jetzt spinnst du dich in eine neue Einbildung hinein, Johannes. Du weißt sehr wohl, daß Rosalie dasselbe liebevolle kleine Mädchen blieb, das sie immer gewesen war, in religiöser Beziehung hielt sie sorglos, ohne viel nachzudenken, an ihrer Kinderlehre fest. Du selber aber warst ein anderer geworden. So verhält es sich. Lies nun aber ihre eigene Erklärung! Und möchte sie dich lehren, in Zukunft vorsichtiger mit denen umzugehen, die dich lieb haben. Mit diesem Wunsche will ich dir Lebewohl sagen, Johannes! Wir werden einander jetzt nicht wiedersehen, und das ist nur gut. Du hassest mich, und ich habe nur Mitleid für dich. Uns hat das böse Schicksal unserer Familie getroffen. Das Unglück haben wir mit dem besten Willen nicht abwenden können. Wahrscheinlich werden wir für ein Verbrechen gestraft, das in der dunklen Vergangenheit unserer Familie begangen wurde. Denke ein wenig darüber nach! Für mich hat in diesem Gedanken etwas Versöhnendes gelegen.«


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