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VI

Fräulein Susse Frederiksen, des Volkes Freude genannt, und ihr Quartalsliebster, der dicke Franz Möller, saßen eines Abends gegen acht Uhr in einem kleineren Restaurationslokal am Westerwall. Sie sahen beide sehr niedergeschlagen aus. Ungefähr zwei Stunden hatten sie stumm dagesessen und über ihre leeren Gläser hinweggestarrt.

Es waren nur ein paar ältere Männer im Lokal, die still, in die Abendzeitungen vertieft, dasaßen. Auch der Kellner hatte sich in einer Sofaecke mit einer Zeitung niedergelassen.

Fräulein Susse lag über dem Marmortisch, die Hand unter der Wange. Der große Hut saß schief auf dem Kopf, und jeden Augenblick zog sie die Schultern unter heftigen Kälteschauern in die Höhe. Die Schminke und die geschwärzten Augenbrauen, die sonst ihr Alter verdeckten, machten ihr eingefallenes Gesicht unheimlich. Sie hatte am Vormittag ein schreckliches Erlebnis gehabt. Ein Schutzmann hatte gegen zwölf Uhr an ihrer Tür geklingelt und sich eine Unterredung mit ihr ausgebeten. Er hatte erklärt, daß an diesem Morgen in Söndermarken ein Erhängter abgeschnitten worden sei, in dessen übrigens leeren Taschen man einen Zettel mit ihrem Namen und ihrer Adresse gefunden habe, weswegen man vermute, daß sie ihn kenne. Da man auf keine andere Weise Aufklärung habe erhalten können, wer der Mann sei, bat er sie, ihn nach dem Leichenhause zu begleiten.

Aus der Beschreibung des Schutzmannes verstand sie sofort, daß es Cajus Vang war, und ihr erstes Gefühl war eine rasende Wut auf ihn wegen dieses Zettels. Aber dann mußte sie weinen. Und mit dem Weinen erwachte das Mitgefühl für den ehemaligen Freund, erwachte auch die Reue über ihre Mitschuld an seinem Unglück und außerdem – nach und nach – eine schreckgemischte Neugier, seine Leiche zu sehen.

Sie hatte die Aufforderung des Schutzmannes als Befehl aufgefaßt und nur verlangt, daß ihr Verlobter, der sofort angeklingelt wurde, Erlaubnis erhielt, mitzugehen. Bald darauf fuhren alle drei in einer Droschke zur Leichenhalle. Franz Möller wurde jedoch sofort übel von dem Geruch auf dem Gang und wollte nicht mit hineingehen. Und als Susse an der Hand des Schutzmannes vor dem schrecklichen Glassarg stand und die schwarzblaue Leiche des Freundes erblickte, brach sie in ein hysterisches Krampflachen aus und fiel dann dem Schutzmann ohnmächtig in die Arme.

Seitdem waren sie und der dicke Möller planlos umhergetrieben und hatten sich durch allerlei scharfe Getränke aufgekratzt, bis sie jetzt hier in diesem Lokal gestrandet waren, das sie nicht kannten, und wo sie nur aus Mangel an Energie, aufzustehen, und aus Furcht vor der Dunkelheit draußen sitzen blieben.

Vor Susse lag die Tagesausgabe des »Fünften Juni«, auf die sie lange hinabgestarrt hatte, ohne zu lesen. Auf einmal aber erwachte sie. Sie hatte ein Bild von Mads Vestrup in dem Blatt entdeckt.

»Du!« sagte sie und stieß den Freund mit der Hand an. »Der da, das ist ja der Pastor, den wir bei Jörgen Berg trafen, weißt du das wohl noch?«

Franz Möller, der auf der andern Seite des Tisches mit ausgestreckten Beinen, die Hände in den Hosentaschen, dasaß, warf über die Schulter einen stumpfen Blick auf die Zeitung.

»Ach so, der! Ja, der hält heute abend einen Vortrag im ›Elysium‹.«

»Heute abend? Du, da müssen wir hin. Wir haben es ihm ja auch versprochen. Und es ist schließlich immer noch unterhaltender, als hier zu sitzen und den Kopf hängen zu lassen.«

Sie zankten eine Weile darüber hin und her. Franz Möller hatte keine Lust. Das Ergebnis war jedoch, daß sie hingingen. Draußen auf der dunklen Straße nahm Susse den Arm des Freundes und schmiegte sich unter so heftigen Kälteschauern an ihn, daß ihr die Zähne im Munde klapperten.

Das »Elysium« war der gewöhnlichste Tanzsalon der innern Stadt. Es lag in einem Hintergebäude über einem Pferdestall und einigen Warenspeichern. Auf dem Wege, die enge Treppe hinauf, begegneten sie ABD, der hinabging. Der alte Nachtvogel war schon so bezecht, daß er schluckste.

»Großartiger Erfolg!« brüllte er, als er sie erkannte. »Ein ABD-Erfolg. Pfropfenvoll!«

Das letzte war keine Übertreibung. Die Artikel des »Fünften Juni« über den jütischen Wanderprediger, vor allem die Mitteilung über das Verhältnis des neuen Kultusministers zu seiner Verabschiedung, hatte Neugier erregt. Der Saal, der vier- bis fünfhundert Menschen faßte, war bis auf die Fensterbretter mit dem bunten Publikum des Blattes angefüllt. Da saßen Studenten und Kontoristen, Seite an Seite mit den jungen Lebemännern der Stadt. Einfache Bürgersfrauen breiteten sich auf den Bänken zusammen mit Modedamen aus, die mit Opernguckern und Konfektdüten erschienen waren. Eine Menge von den kleinen Handwerkern des Viertels und andere Arbeiter waren auch gekommen, um Samuelsens letztes Barnumsches Zugpflaster zu sehen: einen heiligen Mann, der wegen Unsittlichkeit aus seiner Pfarre geworfen war.

Zwei von den jungen Geistlichen der Hauptstadt hatten sich inkognito eingefunden. Wie Geheimpolizisten saßen sie versteckt in einer Ecke, wo sie sich abwechselnd halb erhoben, um einen spähenden Blick in den Saal zu werfen.

Obgleich sich Mads Vestrup bereits auf der Orchestererhöhung gezeigt hatte, von wo aus er reden sollte, herrschte doch noch immer eine ziemliche Unruhe unter den Versammelten. Mehrere von den Leuten, die nur gekommen waren, um den merkwürdigen Prediger in Augenschein zu nehmen, strebten sofort wieder dem Ausgang zu, von der schrecklichen Luft, die in dem niedrigen Saal herrschte, vertrieben. Ein Mann stand mitten in der Versammlung auf und rief, man solle die Fenster öffnen. Ein Arbeiter erregte Munterkeit, indem er empfahl, die Gashähne zuzudrehen.

Susse und ihrem Freund, die sich allmählich durch das Gedränge an der Tür hindurchgearbeitet hatten, gelang es nun, sich ein paar Sitzplätze auf einer der Seitenbänke längs der Wand zu erdrängen. Sie hatten unterwegs mehrere von ihren Bekannten entdeckt. Nicht weit von ihnen saßen Jörgen Berg und Frau Maja. Ein wenig weiter zurück sah man Karl Mays haarigen Pudelkopf, das Kinn auf den Stockknopf gestützt, und neben ihm seinen Schatten, Leif Knudsen, mit Skizzenbuch und Bleifeder. In Leifs Kindergesicht leuchtete ein Lächeln, als wäre ihm gerade die Idee zu einer boshaften Karikatur des »Wanderpredigers« gekommen.

Mads Vestrup war nun auch gerade keine imponierende Erscheinung und enttäuschte sofort alle, die in der Erwartung gekommen waren, ein Monstrum von abenteuerlichem Aussehen zu finden. Wie immer, wenn er sich allein unter lauter Städtern befand, fühlte er sich gleichsam in einen Raubtierkäfig eingeschlossen und wurde verzagt. Es war außerdem keine Rednertribüne da, die ihm als Deckung hätte dienen können Auf der niedrigen Erhöhung stand nur ein Tisch.

Er begann damit, eine kleine Geschichte zu erzählen. Sie handelte von einem jungen Mann, der aus Leichtsinn Verbrecher wurde und nach einer Reihe schrecklicher Missetaten schließlich sein Leben auf dem Galgenhügel vor seinem Heimatsort, wo seine alte Mutter noch lebte, lassen mußte. An dem Morgen, an dem die Hinrichtung stattfand, waren viele Hunderte von Menschen aus der Umgegend aus Neugierde herbeigeströmt. Sie umstanden das Schafott wie eine breite Mauer, als der unheimliche Zug sich näherte: Voran der Polizeimeister und Pfarrer, dann der Scharfrichter mit weißen Handschuhen, dann die Henkersknechte und schließlich der gebundene und barhäuptige Verbrecher zwischen zwei Schließern. Nach der Verlesung des Todesurteils fragte der Polizeimeister ihn, ob er noch einen Wunsch habe, den man ihm erfüllen könne, und da bat er, seine Mutter noch einmal sehen zu dürfen. Die alte Frau wurde geholt und vor den Sohn geführt, und einige Zeit standen sie einander stumm gegenüber. Dann aber trat der gefesselte Mann dichter an seine Mutter heran und beugte sein kreideweißes Gesicht zu ihr nieder. Der Versammlung schien es, als ob er die Absicht habe, sie zu küssen. Statt dessen aber biß er ihr die Nase ab. Und als er den blutigen Klumpen ausgespuckt hatte, rief er über sie herab: »Das ist mein Dank, Mutter, weil du mich nicht gezüchtigt hast, als ich noch ein böses Kind war! Du bist die Schuldige!« Darauf kniete er vor dem Pfarrer nieder und bat um seinen Segen.

Diese Geschichte – fuhr er fort – habe seine eigene Mutter ihm einstmals erzählt, als er sich als Knabe versündigt und eine strenge Strafe erhalten hatte. Sie machte einen mächtigen Eindruck auf sein Kindergemüt, und er habe sie später oft solchen Leuten wieder erzählt, die nicht klug daraus werden konnten, warum Gott das Dasein hier auf Erden so bitterschwer für seine Kinder gemacht habe, da er uns doch in seiner Allmacht so leicht von dem niederdrückenden Kummer und Jammer hätte befreien können, woran kein Menschenleben Mangel habe. Solche Leute, die sich obendrein Christen nannten, kannten Gott und seine große Vaterliebe gar nicht. Ihrer harrte ein fürchterliches Erwachen an dem Tage, wo der große Meister mit der Sense vor ihnen stehen und sagen würde: Die Stunde ist gekommen! Erst da würden sie verstehen, daß der Herr, zu dem sie in ihrem Herzen beteten, nicht Gott, sondern der Teufel war.

Ja, in der Zauberwelt des Teufels sei alles auf so befriedigende Weise für die Bequemlichkeit der Menschen eingerichtet. In seinen haarigen Armen ruhten wir so sanft und gut wie ein kleiner Vogel in seinem Nest. Wir brauchten nur den Mund aufzusperren, dann würden unsere Lüste sofort befriedigt, und unter dem Krachen des Sturmes würden wir in die herrlichsten Träume, die lieblichsten Bilder eingewiegt. Aber woher es wohl kommen mochte – so recht froh wurden wir doch nicht. Und warum?

War es die Angst vor dem Tode? – Ach, das Todesgrauen stellte man sich immer so unendlich weit entfernt vor! Und übrigens war da nicht viel, wovor man sich zu ängstigen brauchte. Vierzig Tropfen in einen Löffel gezählt, und wir schliefen ins Dunkel hinüber, so sanft wie ein Kind an der warmen Brust der Mutter, ohne zu wissen, daß wir zu den Qualen der Hölle erwachen würden. – War es denn die Angst vor dem Kranksein und dem Schmerz? Ach nein! Auch in dieser Beziehung fühlten wir uns recht beruhigt. Der große Zauberer hatte seine kleinen Zaubergehilfen Pulver und Arzeneien erfinden lassen, so daß wir uns jetzt beide Beine absägen lassen konnten, ohne das geringste davon zu fühlen. Und die Kinder wurden ja – trotz Gottes bestimmter Anordnung – schmerzlos zur Welt gebracht in einer Art Branntweinrausch.

Was war es denn für ein wunderlicher Lebensüberdruß, der uns plötzlich mitten in unsrer garantierten Lebensfreude beschleichen konnte? Was für ein Entbehren war es, das an den Herzwurzeln zog, mitten in dem Überfluß der Wollust?

»Wohl viele von euch, die heute hier beisammen sind, kennen diese Art Übelkeit, und ihr habt gedacht, daß, da der Doktor hierfür kein Pulver hat, dem überhaupt nicht abzuhelfen sei. Aber ich will jetzt versuchen, dem Verständnis ein wenig nachzuhelfen mit einem Bilde aus dem alltäglichen Leben, das ihr sicher alle kennen werdet. Ich denke an so einen kleinen Jungen – oder sagen wir, an ein kleines Mädchen, das umhergeht und dem alles so widerwärtig geworden ist, daß es weder lachen noch weinen kann und nicht weiß, was es selbst will. Die Kleine ist nicht krank, und ihr fehlt auch nichts. Sie hat vielleicht gerade Geburtstag gefeiert, und liebe Tanten und gute Onkels haben sie mit Geschenken überschüttet, so daß sie förmlich in Spielzeug watet. Versucht man aber, sie mit einer kostbaren Puppe, die wie eine Prinzessin geputzt ist, zu trösten, so schneidet sie eine Grimasse. Nichts ist ihr recht, und sie leidet selbst darunter. Seht, eine erfahrene Mutter kennt sofort diesen Zustand, und sie weiß auch Rat dafür. Sie legt das Kind über das Knie und gibt ihm einen tüchtigen Popo voll. Dann schreit die Kleine ganz schrecklich. Sie hat ja nichts verbrochen, nichts zerschlagen, nicht gelogen, und ist nicht unartig gewesen. Sie fühlt sich so grausam verkannt. Aber nachher, wenn sie sich ausgeweint hat und mit dem Kopf in der Mutter Schoß dasteht, kommt ein wunderbarer Friede, eine Ruhe in ihr Gemüt. Sie hört ihr kleines Herz klopfen, und es ist ihr, als erwache sie aus einem bösen Traum und kenne sich selber wieder.«

Er mußte hier innehalten wegen einer erneuten Unruhe im Saal. Einige junge Leute, die begriffen, daß sie aus Versehen zu einer Erweckungsversammlung gekommen waren, drängten lärmend dem Ausgang zu, und ihr Aufbruch wurde das Signal zu einer allgemeinen Auswanderung von enttäuschten Zuhörern. Die Hitze im Saal war nun auch ganz erstickend. Einige Fenster wurden geöffnet, aber herein strömte nur der Gestank aus dem Pferdestall unten und aus den Aborten des Hinterhauses. Mads Vestrup fand sich ruhig in die Störung. Von seinen Freiluftversammlungen und Wirtshauszusammenkünften war er daran gewöhnt, daß die Leute kamen und gingen, wie sie wollten.

Auf einer Bank an der Seitenwand hatte Fräulein Susse die ganze Zeit gesessen und ihn mit dem Ausdruck erstaunten Interesses angestarrt. Sogar jetzt, als er nicht mehr sprach, waren ihre Augen starr auf ihn gerichtet.

Franz Möller, der halbschlafend dagesessen hatte, stieß sie mit dem Ellbogen jetzt zum zweiten Male an und fragte, ob sie nicht auch die Gelegenheit benutzen wollten und verschwinden. Das erstemal antwortete sie ihm nicht. Jetzt gab sie ihm seinen Puff zurück und sagte erbittert:

»Laß mich doch!«

Nachdem wieder einigermaßen Ruhe im Saal eingetreten war, setzte Mads Vestrup seine Rede fort. Er sagte, daß schon der alte griechische Weise Sokrates die tiefen Worte gesagt habe, der Schmerz sei die Medizin der Seele. Also könne auch ein Heide verstehen, daß das Leben mit seiner strengen Zucht den natürlichen Selbsterhaltungstrieb des Menschen unterstütze. Aber nur ein Christ könne mit demütiger Geduld und Hoffnung im Gemüt sein Kreuz tragen, weil er sich seiner Sündhaftigkeit bewußt geworden, und weil sein ganzes Dasein in der Welt des Staubes für ihn ein Bußgang sei, eine Wanderung auferlegten Schmerzes, zur Läuterung und Vervollkommnung.

»Jetzt weiß ich sehr wohl,« sagte er, »daß unverfälschter biblischer Text heutzutage nicht gern gehört wird. Am allermeisten gilt das von dem Wort vom Menschen, der in Sünde geboren und deswegen dem Tode verfallen ist. Das Wort ›Sünde‹ muß ja auch denjenigen häßlich in den Ohren klingen, die sich von dem süßen Wiegenlied des Teufels haben einlullen lassen. ›Großer Gott‹ hört man die Leute sagen, ›wir geben ja gerne zu, daß wir Menschen leider nicht alle so gut sind, wie wir sein sollten!‹ Das ist im allgemeinen das höchste Zugeständnis. Ja, und dann schreit man von den Kinderjahren, wo der Mensch nicht einmal weiß, was Sünde ist, und doch sterben muß. Die Rede von dem Kindesalter als Unschuldszeit, die von Sünden unberührt ist, kann man ja sogar in unsern Kirchen hören, wo sie so viele erfreut, namentlich wenn sie mit einem lieblichen Lächeln von einem der in Ornat gekleideten Augendiener des Satans vorgebracht wird. Aber selbst auf die Gefahr hin, für einen Höllenprediger und Schwefelprädikanten gehalten zu werden, will ich hier sagen, daß dergleichen poetisches Gefasel zu den allerlistigsten Erfindungen des Teufels gehört. Seht euch nur einmal ein neugebornes Kind so recht an! Es sind noch nicht zehn Minuten vergangen, seit es den Leib seiner Mutter verlassen hat. Es ist noch nicht einmal in Windeln gewickelt. Aber schon liegt es da und zappelt, mit gerunzelter Stirn und einem großen, gierigen Mund, liegt da wie ein wütender Wechselbalg und schreit und strampelt mit den Füßen, bis es seinen Willen bekommen hat. Der ganze kleine Mensch ist vorläufig nichts weiter als ein böser Fleischklumpen mit einem blinden und heftigen Eigensinn. Denkt euch nun dasselbe Menschenkind nach den Qualen eines langen und mühseligen Lebens seinen weißen Kopf im Tode beugen mit den Worten: ›Dein Wille geschehe, Herr!‹ – Ja, wer kann da im Grunde in Zweifel sein, was Gottes vaterliebe Absicht mit unserm Leben hienieden in diesem Jammertal ist, hier in dem Vorhof der Hölle, wo niemand die Schrecknisse überleben kann, es sei denn, daß er sein Herz verhärte oder seine Zuflucht nehme zu der christlichen Hoffnung auf die gnädige Heimberufung des Sünders zu den himmlischen Wohnungen.

»Ja – um unsrer Seligkeit willen! – laßt uns den falschen Arzt fliehen, den finstern Zauberer, der uns unsre Lasten abschmeicheln und unsre Leiden stehlen will, um schon hier im Staube unser Weinen in Freude zu verwandeln! Laßt uns seinem Trost entsagen und uns mit entschlossenem Sinn unter die strenge Zucht des Lebens beugen, um für das Paradies gereift zu werden! – Ja, Herr, laß den Versucher uns nicht überlisten! Gib uns allen Kraft zu widerstehen, Geduld zu leiden, Standhaftigkeit auszuharren! – Amen!«

Im selben Augenblick, als er schloß, erhoben sich die Leute im ganzen Saal mit einem Gefühl der Erleichterung. Gegen Ende seiner Rede hatte sich eine große Ungeduld geäußert, und indem man nun dem Ausgang zudrängte, machten verschiedene ihrem Ärger Luft. Andre lachten, und ein junger Börsenherr machte Glück mit der Bemerkung, daß der »Fünfte Juni« wegen falscher Warenbezeichnung verklagt werden müsse.

Da waren aber auch solche, die weniger Eile hatten, fortzukommen, einzelne stille Leute, die, als Mads Vestrup durch eine Hintertür den Saal verließ, ihm mit einem tief verwunderten oder scheuen Ausdruck im Blick nachsahen.

Jörgen Berg und Frau Maja gingen zusammen mit Karl May und Leif Knudsen hinaus, und unten auf der Straße schlossen sich Franz Möller und ein paar andre Bekannte ihnen an. Die Stimmung war etwas bedrückt. Jörgen Berg erklärte, »es tue einem im Grunde ganz gut, so was hin und wieder mal mitzumachen.«

»Aber wo hast du Susse gelassen?« fragte er Franz Möller, der erklärte, seiner Freundin sei von der Luft im Saal übel geworden, sie sei nach Hause gegangen.

»Es schien mir auch, als wenn ich ihr das ansehen konnte,« sagte Frau Maja. »Aber da war ja auch kaum zu atmen.«

»Ich glaube, es ist weit eher Cajus. der wieder in ihr aufsteigt,« fiel ihm Karl May auf seine brutale Weise in die Rede.

»Was ist das mit Cajus?« fragte Jörgen Berg.

»Weißt du denn das nicht? Er hat sich über Nacht in Söndermarken erhängt. Es steht in allen Abendzeitungen.«

»Großer Gott! der gutmütige Narr! Wir hätten doch eigentlich was für ihn tun können. Ich kannte ihn ja so wenig ... aber ihr andern!«

»Ach, laßt uns in die ›Lichtputzschere‹ gehen,« sagte Karl May. »Dann trinken wir sein Grabbier, mehr können wir jetzt nicht für ihn tun!« – – –

Um dieselbe Zeit gingen Jytte und Karsten From den kleinen Weg vom Odd Fellow-Palais, wo sie beide einem Orchesterkonzert beigewohnt hatten, nach Jyttens Heim in der Dronningens Tvärgade. Obwohl sie weit voneinander gesessen, hatte er sie doch sofort entdeckt, und als sie hinausging, stand er in der Einfahrt und wartete im Schatten eines der Pfeiler auf sie.

Sie hatte das vorausgesehen und ihren Entschluß gefaßt. Als er sich mit dem Hute in der Hand ihr näherte und um Erlaubnis bat, sie nach Hause geleiten zu dürfen, sagte sie unbefangen: »Bitte schön!«

Aber kaum waren sie über die Straße hinübergekommen, als er sie schon in unbeherrschtem Ton fragte, ob es wahr sei, was ihr Vetter ihm gesagt habe, daß sie nicht mehr mit ihm zusammensein wolle, und als sie nicht gleich darauf antwortete, machte er ihr Vorwürfe wegen der Kälte, die sie ihm gegenüber an den Tag legte, und über die unbillige Weise, auf die sie ihn beurteilte, nur weil er einmal in törichtem Übermut um ihre Hand angehalten hatte. Was die Leute über ihn als Mensch und Künstler zu meinen beliebten, sei ihm im allgemeinen gleichgültig, aber ihre Geringschätzung quäle ihn, ihr ungerechter Zorn sei ihm ein aufrichtiger Kummer.

Jytte hatte ihn schweigend angehört. Sein erregter und zudringlicher Ton ängstigte sie. Erst als sie vor ihrer Haustür standen, fühlte sie sich sicher. Hier sagte sie ruhig abweisend, daß sie sich überhaupt nicht damit abgebe, geringzuschätzen, daß es ihr ganz unbekannt sei, daß sie ihm jemals gezürnt habe. Und als er sie darauf fragte, ob er gelegentlich einmal, wenn er ihr zufällig allein begegnete, sie anhalten dürfe, um sich ihr näher zu erklären, da antwortete sie wieder: »Ja – bitte schön!« worauf sie Gute Nacht sagte und in der Haustür verschwand.

Trotz des kurzen Abschiedes ging Karsten From mit einem zufriedenen Lächeln um den Mund davon. Er hatte sich nicht durch ihre Ruhe täuschen lassen. Durch ihre abgebrochnen Sätze hatte er den schnellen Pulsschlag und die Verwirrung der Gedanken gespürt. Auch die Röte der Wangen hatte sie trotz des aufgeschlagenen Pelzkragens verraten. »Welch eine Wendung durch die Fügung der Vorsehung!« dachte er. Noch vor wenigen Stunden hatte er geglaubt, die kühne Eroberung aufgeben zu müssen. Jetzt ging er ans Werk in einem Rausch wie ein leidenschaftlicher Jäger, der allmählich ein edles Wild eingekreist hat und auf dem Posten steht mit vor Erwartung pochendem Blut.


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