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VII

An einem der hohen Palaisfenster in seinem Zimmer saß Großhändler Söholm trübselig zusammengesunken in seinem Rollstuhl, grau im Gesicht, unrasiert und mit eigelben Überresten von seiner Morgenmahlzeit in den Mundwinkeln. Unter den schweren Lidern, wovon das eine fast ganz geschlossen war, bewegten sich die Pupillen unruhig hin und her wie Tiere in einem Käfig. Die hündische Furcht in seiner Seele machte sie dunkel und unnatürlich groß, trotz der Sonnenflut, die auf ihn herabströmte.

Am vorhergehenden Abend, als der Diener Rasmussen ihm die Zeitung vorlas, war er ernstlich erschüttert worden durch die Notiz, daß der kürzlich verstorbene P. Christian Jörgensen, ein unbedeutender Fettwarenhändler in der Vestergade, der Mission hunderttausend Kronen – über die Hälfte seines Vermögens – hinterlassen hatte.

Er hatte freilich selbst ein paarmal im Laufe des Winters die Kirche mit Gaben bedacht. Aber bei dieser Mitteilung schwankte seine Überzeugung, daß seine Abrechnung mit dem lieben Gott stimmte, und nach einer sorgenvollen Nacht hatte er Pastor Gaardbo jetzt telephonisch bitten lassen, zu ihm zu kommen.

Der Diener Rasmussen, der während seiner Krankheit zu einer Art Privatsekretär erhöht worden war, stand am Schreibtisch und verteilte die erledigte Morgenpost in die verschiedenen Räume in den Regalen über dem Tisch. Der kranke Großhändler kam nicht mehr in sein Kontor, aber durch das Telephon leitete er noch das Geschäft, und von seiner gelähmten Zunge gingen beständig Befehle aus, die über die Welt hinausflogen und gleich Raubvögeln sich auf ihre Beute niederstürzten.

»Haben Sie mit Pastor Gaardbo selbst gesprochen, Rasmussen?«

»Nein, der Herr Pfarrer war ausgegangen. Eine von den Damen war am Telephon.«

»Dann kommt er heute vormittag wohl nicht mehr?«

»Ja, sie erwarte ihn jeden Augenblick, sagte sie.«

Großhändler Söholm sank in seine aufgescheuchten Gedanken zurück, und es entstand wieder ein längeres Schweigen.

Einen Augenblick später schellte es.

»Da haben wir Seine Hochehrwürden,« sagte der Dienersekretär mit spöttischer Überlegenheit.

»Hält sich Fräulein Cäcilie im Salon auf?« fragte Herr Söholm.

»Ja.«

»Hat meine Tochter schon Toilette gemacht?«

»Ich glaube ja. Soll ich den Herrn Pfarrer vielleicht dort hineinführen?«

»Tun Sie das! Sagen Sie ihm, ich stünde gleich zur Verfügung.«

Aber im selben Augenblick glitt die Tür zu der Vorhalle in die Wand, und Johannes Gaardbo trat ein.

Es war Herrn Söholms Absicht gewesen, der Kirche weitere zwanzigtausend Kronen zu schenken, aber das bloße Erscheinen des Geistlichen beruhigte ihn, so daß er sich gleich entschloß, die Summe auf die Hälfte zu beschränken. Und als er den Pfarrer gebeten hatte, Platz zu nehmen, fand er, daß auch fünftausend Kronen eine runde Summe sei, durch die er sich beruhigt fühlen könne.

Er äußerte jetzt Johannes Gaardbo gegenüber die Sache und bat ihn, die Mitteilung dem Vorstand des Kirchenfonds zu überbringen.

»Mit den früheren fünftausend und den ersten zehntausend werden es also im ganzen zwanzigtausend Kronen,« sagte er, wie um sich gegen eine irrtümliche Eintragung in das große Hauptbuch des Himmels zu sichern.

Johannes Gaardbo dankte ohne Begeisterung. Er hätte am liebsten das Geld als unwürdige Gabe zurückgewiesen, aber er wußte, daß er in diesem Punkt mit der Leitung der Mission, insbesondere mit Pastor Stensballe, nicht übereinstimmte.

Großhändler Söholm, der sich jetzt vollkommen getröstet fühlte, begann von seiner bevorstehenden Reise nach einem Badeort in Südfrankreich zu erzählen, von wo er völlig geheilt zurückzukehren erwarte. Seine Töchter Cäcilie und Konstanze sollten ihn begleiten, wohingegen die Jägermeisterin zu sehr von ihren vielen öffentlichen Ämtern in Anspruch genommen war, namentlich von den Vorbereitungen für die große Fächerausstellung, die im Mai eröffnet werden sollte. Die ganze Reise solle in einem Salonwagen vorgenommen werden. In Berlin werde Konstanzens Verlobter, Herr von Biebermarck, sich ihnen anschließen, und nach der Heimkehr wolle man die Hochzeit des jungen Paares auf Storeholt, der Morgengabe für die Tochter, feiern.

»Wenn Sie Lust haben, die Reise mitzumachen, so ist gratis Platz im Wagen für Sie. Bitte schön! Frankreich soll ja ein Land mit allerlei Sehenswürdigkeiten sein.«

Johannes Gaardbo hörte ihm kaum zu. Diese beständigen gleich fruchtlosen Besuche wurden ihm mehr und mehr zur Qual, und daß sowohl Herr Söholm wie auch die Familie unverkennbar darauf warteten, daß er sich eines Tages als Freier für Fräulein Cäcilie entpuppen würde, machte ihm den Aufenthalt in dem prahlenden Millionärheim nicht weniger bedrückend. Jeder Gedanke an eine Ehe war für ihn selbst eine Entweihung geworden. Jetzt mehr denn je war Rosalie feine Ewigkeitsbraut.

Mit der Gewißheit von ihrer fürchterlichen Verirrung, die ihm geworden, hatte sich die Treue für ihr Andenken ihm zur Liebespflicht gesteigert, der er um ihrer Seelen Seligkeit willen nicht treulos werden durfte. Sein ganzes Leben sollte fortan den Gebeten um ihre Wiedervereinigung in dem Reich der Herrlichkeit gewidmet sein.

Als er sich erhob, fragte Herr Söholm, ob er nicht hineingehen und seine Damen begrüßen wolle. Aber er entschuldigte sich und sagte Lebewohl.

Mit der Straßenbahn fuhr er in die Stadt und stieg beim Kultorv aus, wo das neue Blatt der Mission seine Schriftleitung hatte. Als Leiter des Kreuzheeres ließ er von hier aus regelmäßig seine »Tagesbefehle« ergehen.

In einem großen Hause, das der Kopenhagener Witz »die Sakristei« getauft, hatte sich das Blatt – »Der Werkeltag« hieß es – nach amerikanischem Muster mit marktschreierische Bilderreklamen in allen Fenstern wie eine Menagerie eingerichtet. Der Klüngel von untergeordneten Mitarbeitern, der die Räume der Schriftleitung füllte, trug keineswegs ein evangelisches Gepräge. Es war die gewöhnliche, flotte Brüderschaft der Zuhälter der Literatur und der havarierten Talente, die aus der Oberfläche einer Großstadt in den Reporterstuben der Zeitungen zusammenfließen, wie das Spülwasser in einem Kloakenbrunnen. Im übrigen aber wurden die Spalten des großen Blattes hauptsächlich von schreiblustigen Pfarrern und Pfarrerfrauen ringsumher im Lande und von einigen jungen Dichtern der neuen seraphischen Schule, mit dem Erzengel Harald Bohse an der Spitze, gefüllt.

Pastor Stensballe ließ sich nie in der »Sakristei« blicken, sondern leitete das Blatt durch geheime Verfügungen von seinem Kontor im Bischofshause aus und überließ es dem Redaktionssekretär, einem Kandidaten der Theologie, die Aufsicht über den täglichen Stoff zuführen. Samuelsen vertrat den »Werkeltag« der Öffentlichkeit gegenüber, und in Wirklichkeit war es auch dieser geriebene Mann, dem nichts heilig war außer dem Abonnementsprotokoll, der dem Blatt seinen Stempel verlieh und für dessen Verbreitung sorgte. Gleich einem Tierbändiger hielt er den großen Mitarbeiterstab mit seiner Liebenswürdigkeit in Schach, ohne es sie merken zu lassen. Sowohl Pastor Stensballe als die andern Geistlichen tummelte er nach seinem Willen und ließ sie durch den Reif springen zum Ergötzen des Publikums. In einem Raum, der nach einem dunklen Hofplatz hinauslag, saß ein einsamer Mann, an einem Tisch, der mit Zeitungen überschwemmt war. Es war Mads Vestrup. Er hatte das Amt bekommen, die täglich einströmende Provinzpresse zu lesen und alle Mitteilungen auszuschneiden, die das Gemeindeleben betrafen. Von zehn Uhr vormittags bis vier Uhr nachmittags saß er hier gefesselt wie ein Sträfling in seiner Zelle – »Simson in der Tretmühle« nannte ihn Karl May, der sich als Zeichner des Blattes hatte anstellen lassen.

Die selbständigen Artikel, die er hin und wieder für die kirchliche Beilage des Blattes schrieb, wurden auf höheren Befehl regelmäßig unterdrückt, in welcher Veranlassung es ein paarmal zu einem heftigen Zusammenstoß zwischen ihm und Samuelsen gekommen war. Der Redakteur hatte jedoch den naiv aufbrausenden Mann mit seinem Lächeln schnell gezähmt. Mads Vestrups zunehmende Schwäche, die Angst, sein sicheres Auskommen wieder zu verlieren, machten ihn wehrlos. Er war eine niedergebrochene Kraft.

Das Zimmer, das ihm überlassen war, diente als Durchgang von den Schriftleitungsbureaus zu der Setzerei des Blattes. Jedesmal, wenn jemand hineinkam, hob er den schweren, jetzt ganz ergrauten Kopf und starrte den Betreffenden mit einem großen, fernen und schwermütigen Blick an.

Johannes Gaardbo vermied es immer soweit wie möglich, durch dies Zimmer zu gehen, wenn er sich dort aufhielt. Er fühlte sich unangenehm berührt durch den Anblick des in den Bann getanen Pfarrers und seiner Erniedrigung. Er hatte auch einmal mit Pastor Stensballe über dies Verhältnis gesprochen und ihn gebeten, Mads Vestrup wenigstens in dem Blatt zu Worte kommen zu lassen. Stensballe aber hatte erklärt, man dürfe der Gemeinde kein Ärgernis antun, und man könne Mads Vestrup selbst vorläufig auch keinen größeren Dienst erweisen, als wenn man ihn und sein Vergehen soweit wie möglich in Vergessenheit bringe.

Johannes Gaardbo beugte sich vor der Urteilskraft seines älteren Amtsbruders. Er sah sehr wohl die Notwendigkeit der Disziplin und Kirchenzucht ein, wo es galt, den Sieg zu sichern. Aber jedesmal, wenn er notgezwungen durch Mads Vestrups dunkles Zimmer ging und seinem großen, fernen Blick begegnete, sträubte sich etwas in seinem Gewissen, und unwillkürlich begrüßte er dann den so hart gezüchtigten Mann mit Ehrerbietung.


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