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XII

Ringsumher im Kreise war Fahrt in die Wahlagitation gekommen. Während der unglückliche Jägermeister wohlverwahrt in einer Hospitalzelle als wissenschaftlicher Gegenstand für einen Professor saß, und nachdem der Konkurs über sein Vermögen erklärt worden und die einleitenden Schritte zu einer Scheidung vorgenommen waren, wurde ihm jetzt auch sein teurer Sitz im Folkething genommen.

Überall im Lande sah man dieser Ersatzwahl mit einer gewissen Spannung entgegen. Man wollte in dem Ausfall eine Vorbedeutung für den bevorstehenden großen Kampf zwischen Enslev und den Männern der Kirche erblicken.

Auf mehreren Wahlversammlungen versuchten Pastor Gaardbos Gegner, ihn in Verlegenheit zu bringen, indem sie sich den Unwillen der Bevölkerung gegen seinen Bruder zunutze machten. Dieser hatte in diesen Tagen von neuem ein allgemeines Ärgernis erregt, indem er auf eine Anfrage über seinen politischen Standpunkt erklärte, daß er mir Freuden sein Stimmrecht für einen Zuckerkringel für jedes seiner Kinder verkaufen würde. Schon im voraus zirkulierte in der Gemeinde eine Adresse an die Medizinalbehörde mit der Bitte, die Amtsführung des Kreisarztes und seine ganze ärztliche Wirksamkeit untersuchen und beurteilen zu lassen, und jetzt auf den Versammlungen spöttelte man über das Gewissen des Pfarrers, das ihm nicht gestattete, mit politischen Gesinnungsgenossen in derselben Partei zu sein, wenn sie nicht auch seine religiösen Anschauungen teilen, während sich unter seinen nächsten Angehörigen Leute befanden, die sowohl mit der religiösen wie mit der politischen Überzeugung ihren Spott trieben und nicht einmal ihre Kinder taufen ließen.

Obwohl Pastor Gaardbo lange eingesehen hatte, daß er früher oder später gezwungen sein würde, mit einer öffentlichen Erklärung über sein Verhältnis zu seinem Bruder hervorzutreten, weigerte er sich doch, die ersten Male zu antworten. Als aber seine eigenen Anhänger Unzufriedenheit mit seinem Schweigen äußerten, fühlte er sich verpflichtet, zu reden.

Er machte jedoch sein Zugeständnis auf die Weise, daß er – ohne den Namen des Bruders zu nennen – an sein Verhältnis zu einem andern Verwandten – nämlich zu seinem Oheim Tyge selbst erinnerte. Er erklärte, daß für ihn der Enslevsche Geist der Feind sei, der bekämpft werden müsse, in welcher Gestalt er sich auch offenbaren möge. Es sei der böse Geist des Aufruhrs und der Verleugnung, den er verurteile und mit aller Macht bekämpfen würde, mochte er als politische Gesetzlosigkeit zu Worte kommen oder als selbstangemaßte Freiheit, mit der geistigen und körperlichen Gesundheit des Volkes zu experimentieren. Und daß er in diesem Verhältnis weder ein Ansehen der Person noch Familienrücksichten kenne, dafür habe er früher hinreichende Beweise gegeben.

Trotz der Verschleierung verstand man die Absicht, und am Tage darauf enthielten die Zeitungen der Umgegend in ihrem Bericht von der Versammlung eine Wiedergabe der Erklärung des Pfarrers zugleich mit Kommentaren. Das spezielle Organ seiner Partei »Das Volksblatt« druckte seine Äußerungen wortgetreu und mit gesperrter Schrift ab.

Als er gegen Nachmittag von einem Krankenbesuch nach Hause kam, stand der kleine Wagen des Bruders vor der Haustür und siedete, und drinnen in seiner Studierstube fand er den Doktor selber vor, der am Tische saß und Guten Tag sagte, ohne aufzustehen.

»Ich hab auf dich gewartet ... Ich muß wissen, wie sich die Sache verhält. Erkennst du den Bericht des ›Volksblattes‹ über deine Äußerungen gestern an? Ich denke natürlich an die Worte über mich und meine Tätigkeit, die das Blatt für authentisch erklärt.«

Der Pfarrer, der sehr bleich gewesen war, als er hereinkam, stellte sich an sein Pult.

»Du mußt einen andern Ton anschlagen, Paul, wenn wir beide miteinander sprechen sollen. Wenn du den Bericht gelesen hast, so weißt du, daß die Worte, von denen du redest, mir abgezwungen sind. Was meinen Standpunkt selbst anbetrifft, so kann dich der ja nicht überraschen, dazu haben wir zu oft über das gesprochen, was uns trennt.«

»Mit andern Worten: In einem Augenblick, wie es dieser ist, wo man sich von allen Seiten gegen mich zusammengerottet hat, hast du dich nicht besonnen, meine Stellung noch schwieriger zu machen, indem du erklärst, daß du in vollem Einverständnis mit meinen Angreifern stehst!«

»Du irrst, Paul! Besonnen habe ich mich wohl, und zwar sehr lange. Aber ich hatte Rücksichten zu nehmen, die du nicht verstehen kannst ... oder willst.«

»Das weiß ich! Sei du aber froh, daß ich dergleichen höhere Rücksichten nicht kenne, die mich zwingen würden, gegen mein natürliches Gefühl zu handeln. Denn sonst könnte ich vielleicht mit einer Gegenerklärung herausrücken, die Aufsehen erregte und dich zu Boden schlüge.«

»Soll das eine Drohung sein?«

»Eine Warnung soll es sein! Du kannst leicht mehr Unglück auf dein Gewissen laden, als es zu tragen vermag. Warum hast du dich zum Beispiel neulich in meine Angelegenheit mit Großhändler Söholm gemischt? Ich habe zufällig davon gehört. Herr Söholm soll vielen Leuten erzählt haben, du hättest geradezu Fürbitte für mich getan. Darum habe ich dich nicht gebeten, aber ich bin natürlich von der Voraussetzung ausgegangen, daß du in dem Wahn warst, zu meinem Besten zu handeln. Nicht wahr, Johannes, du kannst, die Hand aufs Herz, versichern, daß du keinen andern Beweggrund gehabt hast?«

»Du siehst mich an, als zweifeltest du, und gewissermaßen kannst du wirklich Grund dazu haben. Unsere Ansichten über das, was zu deinem Besten dient, sind so weit verschieden voneinander.«

»Auch das weiß ich! Rad und Folter wünschest du mir, Johannes. Ich habe es schon längst in deinem Blick gelesen. Häufiger, als du wohl selbst ahnst, hast du deine Gefühle verraten. – Ja, so weit ist es also mit uns beiden gekommen! Das Gift, das einstmals im Morgen der Zeiten in unserer Familie ausgesät wurde, hat jetzt sein Auflösungswerk auch zwischen dir und mir vollbracht. Ist es zu verwundern, daß Fremde uns Dänen ein zum Tode verurteiltes Volk nennen? Wie sollten sie auch anders über uns denken?... Erinnerst du dich eines Sommertages vor dreizehn, vierzehn Jahren – es war in unserer ersten Studentenzeit –, wir saßen oben auf dem Skamlinger Hügel und sahen nach der Grenze hinüber und sprachen von Dänemarks Zukunft? Es war an demselben Tage, als du mir anvertrautest, daß du heimlich mit Rosalie verlobt seiest. Entsinnst du dich des Versprechens, das wir einander gaben – wir beiden unzertrennlichen Brüder, die schon im Leibe der Mutter Blut miteinander gemischt hatten? Und nun gestern standest du auf und schändetest mich vor einer Versammlung von zusammengelaufenem Gesindel! So hast du dein Versprechen gehalten!«

Der Pfarrer stand noch immer am Pult und betrachtete seinen Bruder gleichsam aus der Ferne mit einem tiefbetrübten Blick. Ein paarmal, während der Doktor sprach, zuckte es um seinen Mund.

»Warum hast du nicht in dich gehen wollen, Paul? Beuge dich vor Christus, dann wird alles anders werden! Warum willst du fortfahren, dem Allmächtigen zu trotzen? Du redest von der Auflösung im Volk. Ja, das ist die Strafe für unsern Ungehorsam gegen Gott!«

Der Doktor erhob sich.

»Du bist krank, Johannes. Das ist deine Entschuldigung, und deswegen will ich dir noch einmal verzeihen.«

Nach einer Weile saß er in seinem Wagen und fuhr vom Pfarrhof herunter, mit einer Ahnung, daß er zum letztenmal dagewesen sei. Er hatte keinen Bruder mehr. Vielleicht würden Johannes und er, wenn einige Zeit vergangen war, wieder einen Versuch machen, zu einer Art Verständnis zu gelangen; aber er wußte kaum, ob er das wünschen sollte. Der Johannes, den er um seines reinen Herzens willen geliebt hatte, existierte doch nicht mehr für ihn. Es war dem Bruder ergangen wie so vielen seinesgleichen. Sein Götzendienst hatte ihn in einen Werwolf mit zwei Gestalten verwandelt, die so verschieden waren wie Tag und Nacht, die eine so mild und gut und hilfsbereit, wie die andere böse und rachsüchtig war. Und dieser letzten würde er nun in Zukunft wieder und wieder begegnen, wenn er Johannes aufsuchte.

Eine Woche später verkündete Amtsgerichtsmitglied und Sparkassendirektor Jörgen Mosegaard mit erhobenem Kneifer Johannes Gaardbo als den neuen politischen Abgeordneten des Kreises und brachte in singendem Ton ein begeistertes Hoch auf ihn aus. Hinterher führten die Freunde des Pfarrers ihn im Triumph durch die Stadt zu dem volkstümlichen Versammlungsgebäude, wo der Sieg gefeiert werden sollte.

An der Spitze des Zuges, wo ein Musikkorps zu gehen pflegte, schritt ein Chor singender junger Burschen und Mädchen mit einem Kreuzbanner dahin. Das waren die Mitglieder des christlichen Jugendvereins, den Pastor Gaardbo gestiftet hatte, und der Gesang war der Schlachtgesang des Vereins:

»Im Himmel ist mein Vaterland,
und Christus ist mein König!«

Als man an dem überfüllten Gasthof vorüberkam, wo die Enslevsche Partei versammelt war und sich unter großem Lärm, mit vielem Bier über die Niederlage tröstete, strömten die Leute an die Fenster und betrachteten den Zug mit einer mürrischen Mischung von Erstaunen, Neugier und Hohn.

»Enslev soll leben!« rief einer von ihnen über die Köpfe der Singenden hinweg.

Die Antwort bestand in einem Aufbrausen des Gesanges, den nun der ganze Zug mit demonstrativer Kraft anstimmte:

»Im Himmel ist mein Vaterland!«


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