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IX

Um ein Uhr nachmittags stand Mads Vestrup vor der Tür des Bischofshauses und klingelte. Nicht nur aus Beklommenheit zitterte seine Hand, er war auch körperlich so erschlafft, daß es ihm schwer wurde, sich aufrecht zu halten.

Er nannte seinen Namen, und die Pförtnerin führte ihn die Treppe hinauf. Am Ende eines Ganges klopfte sie an eine Tür, und nachdem sie einen Augenblick gelauscht hatte, ließ sie ihn in ein geräumiges Zimmer ein, das von der winterlichen Sonne des Tages erfüllt war, und wo es traulich nach Holzrauch aus einem altmodischen Kachelofen roch.

»Herr Vestrup!« meldete sie.

Zu seinem Erstaunen traf Mads Vestrup nicht den Bischof selbst, den er von den Bildern her kannte, sondern einen andern Mann, der, nach seinem Aussehen zu urteilen, ebenfalls ein Geistlicher war. Er stand am Fenster, den Rücken dem Licht zugewendet, und las einen Brief. Nach einem hastig musternden Blick über den Rand des Briefes ließ er Mads Vestrup eine Weile an der Tür warten.

Endlich legte er den Brief hin und näherte sich mit langen, elastischen Schritten. Es war ein kleiner, zierlicher Mann mit glattrasiertem Gesicht, rotgeränderten Augen und dünnem, graugesprenkeltem Haar, das aus der Stirn zurückgestrichen war. Ein stramm anschließender, schwarzer Anzug und ein weißer Schlips, der über den Rock hinaushing wie ein Bäffchen, verliehen der kleinen, nervösen Gestalt ein Aussehn, das an einen asketischen Jesuitenpater und zugleich an einen Holbergschen Pedanten erinnerte.

»Mein Name ist Stensballe,« sagte er, ohne Mads Vestrup die Hand zu reichen. »Der Bischof ist im Augenblick beschäftigt. Nehmen Sie gefälligst Platz!«

Bei der Nennung des Namens fühlte sich Mads Vestrup wie von einem neuen Schlag getroffen. Stensballe war der im ganzen Lande bekannte Kopenhagener Pfarrer, in dessen Hand alle Fäden der Missionstätigkeit zusammenliefen. Bischof Abel war freilich dem Namen nach der Leiter der Mission, und Stensballe wurde offiziell nur als deren Sekretär genannt, alle aber wußten, daß er die Kraft und die Klugheit in der Leitung war, daß er mit seinem feurigen Sinn der hinsterbenden Glaubensgemeinde in der Hauptstadt neues Leben eingeblasen und den Kampf gegen den Unglauben organisiert hatte. Mit der widerstrebenden Zustimmung des Bischofs hatte er nach überseeischem Muster auch die Reklame und den Marktschwindel in den Dienst des Glaubenskampfes aufgenommen, hatte die viel angegriffenen Andachten mit Lichtbildern, die Gebetsversammlungen mit Teeanrichtungen, Prozessionen durch die Straßen und andern amerikanischen Gottesdienst eingeführt, um Leute für den neuen Kreuzzug zu werben.

Mit erzwungener Höflichkeit wies er Mads Vestrup einen Platz auf dem Sofa an, während er sich selbst an einen Schreibtisch setzte, der mitten im Zimmer stand. Seiner eifrigen Natur wurde es nicht leicht, sich zu verstellen. Er verheimlichte nicht, daß es der Verstand und nicht das Herz war, was ihn überredet hatte, sich mit dem abgesetzten Pfarrer einzulassen. Obwohl Mads Vestrup nach zwei in der höchsten Seelennot durchwachten Nächten einen bedauernswert mutlosen Eindruck machte, und obwohl das Sonnenlicht unbarmherzig die ganze Verkommenheit seiner Gestalt enthüllte, überwand Pastor Stensballe nicht das Unbehagen, mit diesem ehemaligen Amtsbruder verhandeln zu müssen, der mitten in einem für die Kirche entscheidenden Kampf aufrührerisch gegen ihre Leiter auftrat, nachdem er zuvor durch unsittliches Leben Schande über den dänischen Predigerstand gebracht hatte.

»Ich weiß, daß der Bischof den Wunsch geäußert hat, mit Ihnen zu reden. Ich glaube auch, es wird ihn freuen, daß Sie gekommen sind. Er ist, wie gesagt, im Augenblick beschäftigt, aber er hat mich ermächtigt, Sie mit einem Vorschlag bekannt zu machen, den er Sie unter ernste Erwägung zu nehmen bittet. Den Anlaß hierzu können Sie sich wohl selbst ohne weitere Erklärung sagen. Sie werden übrigens binnen kurzem Gelegenheit haben, den Bischof zu begrüßen.«

Als Mads Vestrup verzagt erwiderte, daß er den Grund zu der Aufforderung des Bischofs nicht kenne und deswegen um nähere Aufklärung bitte, hielt ihm Pastor Stensballe mit heftigen Worten sein Verhältnis zum »Fünften Juni« vor und nannte es einen Verrat gegen den Herrn, dem er doch gleichzeitig zu dienen wünsche.

»Ich begreife nicht, daß Sie nicht einsehen können, welch ein Widerspruch in Ihrem Auftreten liegt. In einem Augenblick, wie es der jetzige ist, gehen Sie dem Manne zur Hand, der sich frech von der Kirche Christi losgesagt hat und täglich durch alle schändlichen Mittel die bösen Instinkte des Volkes gegen sie wachruft.«

Trotz seines Tones zwang sich Mads Vestrup, den Kopf stumm zu beugen. Er hatte selbst seine Verirrung erkannt und sich mit demütigem Sinn zu diesem Bußgang überwunden. Er bat nur noch einmal um Auskunft darüber, was für einen Vorschlag der Bischof ihm machen wolle.

»Sie haben wahrscheinlich von dem neuen großen Tageblatt gehört, das wir vom ersten Januar an herauszugeben beabsichtigen. Wir wünschen, ein Zentralorgan für die dänische Gemeinde zu schaffen, eine Sammlungsstelle auch in dem Verstand, daß wir jeder schicklichen Erörterung der kirchlichen Angelegenheiten Platz einräumen wollen. Nun wollten wir Ihnen den Vorschlag machen, daß Sie, nachdem Sie sich von jedem Verhältnis zu dem ›Fünften Juni‹ losgelöst haben, eine feste Anstellung an unserm Blatt annehmen, wo für ein passendes Arbeitsfeld für Sie gesorgt werden wird, und es ist natürlich die Absicht, daß Sie dafür, wenigstens in der nächsten Zukunft, in ökonomischer Beziehung sichergestellt werden.«

Mads Vestrup war so überrascht, daß er kaum recht merkte, wie enttäuscht er gleichzeitig war. Aber nun nannte Pastor Stensballe die Summe, die man ihm als festes Jahresgehalt zusichern zu können glaube, »mit gegenseitiger Verpflichtung auf zwei Jahre«. Und die Größe der Summe verwirrte ihn ganz. Viertausend Kronen! Hatte er auch recht gehört? Auf zwei Jahre ein reichliches Auskommen gesichert! Die Häuslichkeit wieder hergestellt! Stine und die Kinder in seinen Armen! ... Er saß da mit einem Schwindelgefühl, als hätten sich ihm die Pforten des Himmelreichs wie in einem Traum aufgetan.

Im selben Augenblick ging eine Tür auf, und der Bischof trat aus seinen Privatzimmern nebenan herein. Er war ein großer Mann mit gebeugter Haltung, alt von Gestalt. Nur sein Gesicht hatte sich merkwürdig frisch erhalten. Mit seinen vollen, roten Wangen und ein Paar taghellen Augen, die durch die Brille von einfältiger Güte leuchteten, glich es einem Kindergesicht.

Sowohl Mads Vestrup als auch Pastor Stensballe hatten sich erhoben. Der Bischof ergriff Mads Vestrups Hand und blieb vor ihm stehen, ohne sie loszulassen, indem er ihm gleichzeitig die andre Hand auf die Schulter legte.

»Ja, ja!« sagte er mit einem Kopfschütteln. »Ich will nicht strenge mit Ihnen ins Gericht gehen. Wenn Sie jetzt zu mir gekommen sind, kann ich es wohl als Zeugnis dafür auffassen, daß Sie selbst erkennen, wie schlecht Sie bisher der Sache des Herrn gedient haben. Jetzt müssen wir sehen, wie wir Ihnen behilflich sein können, Ihre zerrütteten Verhältnisse wieder in Gang zu bringen. Pastor Stensballe hat Ihnen wohl schon mitgeteilt, was wir vorläufig für Sie zu tun beabsichtigen. Mit der Zeit lassen sich vielleicht andre Auswege finden. Der Herr bedarf in dieser schweren Zeit aller seiner Arbeiter. Aber es gilt, die Herde zu sammeln, sie nicht zu zerstreuen. Hüten wir uns davor, Gott zu betrüben! Ein treuer Diener freut sich über die Freude seines Herrn und über nichts andres!«

Mads Vestrups struppiger Kopf sank während der milden Rede des Bischofs tiefer und tiefer auf die Brust herab. Er fühlte den herzlichen Händedruck des alten Mannes, und sein ganzer Körper geriet in eine zitternde Bewegung, die zu beherrschen er nicht einmal einen Versuch machte.

»Gott sei mit Ihnen!« sagte der Bischof, als er seine Ermahnungsrede geschlossen hatte, klopfte ihn auf die Schulter und kehrte in seine Privatzimmer zurück.

Als er fort war, sank Mads Vestrup schwer in das Sofa zurück, die Hände über die Augen, und so saß er lange da, während ihm die Tränen über die Wangen rollten.

Am Fenster stand Pastor Stensballe. Beim Anblick der aufrichtigen Reue des gefallenen Amtsbruders wurde der kleine, nervöse Mann bewegt. Mit seinen langen, elastischen Schritten ging er auf Mads Vestrup zu und sagte in versöhnlichem Ton, daß er die Worte des Bischofs zu den seinen mache.

»Ich bin fest überzeugt, daß diese Begegnung zum Segen werden wird. Glauben Sie das nicht auch selbst?«

Ohne die Hand von den Augen zu nehmen, nickte Mads Vestrup.


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