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III

Am folgenden Morgen wurde Jytte mit der ersten Post ein Brief ans Bett gebracht. Sie ahnte sofort, daß er von Karsten From sei. Die Anfangsbuchstaben seines Namens standen auch in Gold auf dem Briefumschlag gedruckt. Es währte eine Weile, ehe sie sich entschließen konnte, ihn zu öffnen. Sie fürchtete, daß sein Ton sie verletzen könnte, und sie war schon im voraus sehr niedergedrückt nach einer schlaflosen Nacht.

Gleich nach ihrer Heimkehr am vorhergehenden Abend war sie zu Bett gegangen, damit die Mutter sie nicht über ihr Verhältnis zu Karsten From ausfragen sollte. Aber die ganze Nacht war sie von den Augen der Mutter verfolgt worden. Mit einem zum Tode betrübten Blick hatten sie sie aus der Dunkelheit angestarrt, so daß sie weinen mußte. Ja, welch ein traurig und unwürdig Ding war doch die Liebe eines Menschen! Obwohl sie gründlich Bescheid über das Leben wußte, das Karsten From geführt hatte, konnte sie nicht umhin, sie mußte ihn lieb haben. Selbst sein Verhältnis zu Frau Merck hatte sie nur noch widerstandsloser seinen Nachstrebungen gegenüber gemacht. – Sie mußte daran denken, was sie so oft von Müttern hatte sagen hören, daß sie die Liebe zu ihren Kindern um so stärker empfänden, je mehr Kummer sie ihnen bereiteten. So trieb ein unbarmherziger Gott sein Spiel mit Menschenherzen! In diesem Augenblick wußte sie kaum, welches Gefühl das stärkere in ihr war, die Zärtlichkeit, die sie für ihn empfand, oder der Haß gegen die Frauen, die ihn früher besessen hatten.

Jetzt las sie den Brief, und es zeigte sich, daß sein Ton weit natürlicher und aufrichtiger war, als sie erwartet hatte, und doch wirkte er sonderbar. Er war augenscheinlich in einer erregten Gemütsstimmung geschrieben und trug den Charakter einer Beichte.

»Mein Unglück ist, daß ich Sie nicht schon längst kennen lernte. Ich will nicht deklamieren, aber Sie dürfen mir glauben, wenn ich Sie versichere, daß ich erst jetzt weiß, was es heißt, jemand zu lieben. Ehe Sie mich verurteilen, denken Sie daran, wie ich der wurde, der ich bin! ... In meiner Kindheit, als ich als Waise in vielen fremden Häusern untergebracht wurde, gewöhnte ich mich früh daran, meine Freuden auf der Straße zu suchen. Das nährte meine Menschenverachtung und zugleich mein Mißtrauen zu anderm Glück als dem Genuß des Augenblicks. Erst als ich Sie kennen lernte, habe ich mich selbst und die Leere meines bisherigen Lebens verstanden, und ich flehe Sie an, mir Ihre Güte zu bewahren und zu glauben, daß es meine ernste Absicht ist, mein Leben zu ändern in der Hoffnung, mich einstmals Ihrer Freundschaft würdig erzeigen zu können. Sie müssen mir auch fernerhin gestatten, Sie zu sehen und mit Ihnen zu sprechen. Ich werde Sie morgen an der gewohnten Stelle suchen, und Sie werden mir nicht den Kummer bereiten, fortzubleiben. Ich habe Ihnen so viel zu sagen.«

Als Jytte dies Selbstbekenntnis zum zweitenmal zu Ende gelesen hatte, drückte sie überwunden den Brief an ihr Herz. »Ja, mein Freund, ich komme! Ich komme!« – Was sie dunkel geahnt hatte, seit sie ihn zum ersten Male gesehen, das wußte sie jetzt. Er war der »Zwillingsbruder«, auf den sie so viele Jahre gewartet hatte. Sie waren von Ewigkeit an füreinander bestimmt wie alle andern Geschöpfe der Erde, die lieben – zwei einsam umherflatternde Nachtschwärmer, die sich bei Sonnenuntergang begegnen und sich vereinen, ehe die Nacht sie wieder trennte – beide mit demselben friedlosen Dämmerungssinn geboren, der das Licht floh und dem vor der Finsternis graute.

Als sie den Vorhang aufzog, sah sie mit Verzweiflung, daß es in Strömen goß. Außerdem stürmte es so, daß die Leute den Regenschirm wie einen Schild vor sich halten mußten, damit er nicht umkippte. In einem solchen Wetter konnte sie nicht von Hause fortgehen, ohne den Verdacht der Mutter zu erregen.

Während der folgenden Stunde trat sie jeden Augenblick ans Fenster, in der Hoffnung, daß sich das Wetter gebessert habe, und als die Zeit sich näherte, wo sie spazieren zu gehen pflegte, steigerte sich ihre Angst, daß er ihr Ausbleiben mißdeuten könne.

Im letzten Augenblick fiel ihr der Ausweg ein, ihm von einem Geschäft aus zu telephonieren. Schnell zog sie ihren Regenmantel an und erklärte der Mutter, die im Wohnzimmer saß, sie müsse zum Buchhändler hinüber und etwas Briefpapier kaufen.

Er erkannte sofort ihre Stimme im Telephon und sagte: »Darf ich wirklich glauben, daß Sie es sind?«

»Ja, ich habe verhindern wollen, daß Sie hinausgingen und sich in dem schrecklichen Wetter erkälteten.«

»Ich habe mich gerade fertiggemacht. Ich finde nicht, daß das Wetter so schlimm ist.«

»Ja, ich bleibe heute zu Hause.«

»Wann werde ich Sie dann sehen?«

»Morgen, denke ich!«

»Aber es ist so schrecklich lange hin bis morgen.«

Das fand auch Jytte, jetzt, wo sie sich ihm so nahe fühlte. Sie wußte wieder Rat. Ihre Mutter würde heute abend auf der Geburtstagsgesellschaft einer alten Freundin in Frederiksberg sein. Da konnte sie ins Theater gehen, ohne daß ihr irgendwelche Begleitung aufgezwungen wurde, und so verabredeten sie denn, daß From sie nach der Vorstellung draußen vor dem Seiteneingang erwarten und nach Hause begleiten solle.

Am Nachmittag, als das Wetter besser wurde, ging sie in die Stadt und machte einige Besorgungen, um sich die Zeit zu vertreiben. Auf dem Heimwege hatte sie ein kleines Erlebnis. Sie kam mit der Straßenbahn vom Rathausplatz, und bei Höjbro stieg ein Herr in den Wagen und setzte sich neben die Tür. Es war Pastor Gaardbo.

Sie hatte schon früher einmal das Unglück gehabt, hier in Kopenhagen auf ihn zu stoßen. Es war im »Magazin du Nord« gewesen. Er hatte an einem Ladentisch in einiger Entfernung von ihr gestanden und sie angestarrt, ohne sie zu grüßen. Es war ganz klar, daß er sich beleidigt glaubte. Sein Blick war ein Donnerkeil gewesen.

Obwohl sie mit abgewandtem Gesicht dasaß, fühlte sie auch jetzt während der ganzen Zeit seinen Blick auf ihr ruhen. Aber sie empfand jetzt nichts weiter dabei als ein rein körperliches Unbehagen. Der tiefe Unwille ihres Innern gegen diesen Mann verwandelte sich in Wonne darüber, daß doch nicht er es war, bei dem sie mit ihrer Liebe gestrandet war.

Um nicht an ihm vorübergehen zu müssen, stieg sie schon am Kongens Nytorv aus, wo die Tür zu der vorderen Plattform des Wagens geöffnet wurde. Während Pastor Gaardbo durch die Bredgade weiterfuhr, ging sie durch die Store Kongensgade nach Hause.

Am Abend im Theater saß sie drei Stunden in sich selbst versunken da, während ein lachlustiges Publikum sich ringsumher ergötzte. Sie hatte einen Platz im Hintergrund des Saales gewählt, und müde, wie sie war von der Gemütsbewegung der letzten Tage, verfiel sie in einen schlummerähnlichen Zustand, in dem sie nicht viel von dem auffaßte, was auf der Bühne vorging. Nachdem sie sich überzeugt hatte, daß Karsten From nicht im Theater war, worüber sie sich freute, saß sie den übrigen Teil des Abends mit dem Operngucker im Schoß da und sammelte sich zu der großen Begegnung. Und so machtlos sie in ihrem halbträumenden Zustand ihren Stimmungen gegenüber war, die wie lose Segel flatterten, bald vor Sehnsucht schwollen, bald wieder zusammenfielen in der alten Angst vor allen Entscheidungen – im innersten Innern war sie ruhig und fest entschlossen.

Als sie nach Beendigung der Vorstellung aus dem Theater kam, fand sie Karsten From schon an der verabredeten Stelle. Sie reichten einander die Hand, und um nicht in den Schwarm vor dem Haupteingang zu gelangen, gingen sie durch den überdeckten Gang hinter dem Theater. Es war stilles Wetter und Mondschein. Auf dem ganzen Wege bis zur Dronningens Tvärgade wechselten sie nur einige Bemerkungen über die Vorstellung und das Publikum. Auch in der Beziehung glichen sie einander, daß sie gleich hilflos waren, wo es sich darum handelte, ihren Gefühlen einen natürlichen Ausdruck zu verleihen. Nach ein paar vergeblichen Anläufen, feierlich zu erscheinen, gab Karsten From den Versuch auf, und Jytte konnte sich ihrerseits nicht entschließen, seinen Brief zu erwähnen, obgleich sie sehr wohl bemerkte, daß er das erwartete und unruhig in ihrem Gesicht nach einem Urteil spähte.

Er schloß ihr die Haustür auf und ging auch mit hinein.

»Wann darf ich Sie wiedersehen?« fragte er da drinnen im Halbdunkel.

»Morgen vormittag.«

»Aber, falls es wieder solch Wetter wird wie heute?«

»So komme ich trotzdem!«

Er küßte ihre Hand und führte sie an sein Herz, und als sie keinen Widerstand leistete, legte er ruhig seinen Arm um sie.

»Dann ist es also wirklich wahr? Sie haben mich ein wenig lieb?«

Seine Lippen berührten ihre Stirn und Wangen, schließlich auch ihren Mund. Sie ließ es geschehen. Mit geschlossenen Augen gab sie sich seiner sanften Liebkosung hin.

Aber nun hörten sie Stimmen droben auf der Treppe, und Jytte eilte hinauf, indem sie ihm mit der Hand winkte.


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