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II

Am Abend fuhr er nach dem »Kasino«, das in diesen Tagen an einen wohltätigen Verein vermietet war. An den vorhergehenden Abenden war hier ein Bazar abgehalten worden, und jetzt sollte das Fest mit einem Sinfoniekonzert und einem kleinen Tanz abschließen. Da Frau Berta Mitglied des Vorstandes war, hatten sie und Jytte sich einer Beteiligung nicht entziehen können.

Karsten From kam absichtlich so spät, daß das Konzert bereits begonnen hatte, als er seinen Hut und Mantel in der Garderobe ablieferte. Er wollte versuchen, sich durch eine Überlistung Gewißheit über Jyttes Gefühle zu verschaffen.

Zu dem Zweck hatte er sich nicht nur einen der vorderen Plätze in der Nähe des Orchesters gesichert, wo er sich bei solchen Gelegenheiten sehen zu lassen pflegte, sondern auch einen Stuhl im Hintergrunde einer Seitenloge genommen, der ihm als verborgener Beobachtungsposten dienen sollte. Hier ließ er sich während der Pause vor dem Scherzo der Sinfonie hinein.

Das Licht der Kronleuchter war gedämpft. Über dem großen Saal lag ein düsteres Halbdunkel. Aber er wußte ungefähr, wo Jytte und ihre Mutter sitzen würden, und er fand sie auch schnell mit seinem Opernglas. Sie saßen ungefähr in der Mitte auf einer der ersten Reihen im Parkett, Jytte in einem neuen Gewand von zarter, grünlich-grauer Farbe. Er sah, daß ihr Gesicht einen ernsten, sinnenden Ausdruck hatte, den er nicht kannte. Überhaupt machte sie einen etwas fremdartigen Eindruck auf ihn, wie sie dasaß, die Hände im Schoß, ohne zu ahnen, daß sie beobachtet wurde. Aber wie schön sie war! Sie gehörte zu den sehr wenigen Frauen, die es vertragen konnten, durch ein Schlüsselloch beobachtet zu werden. Am schönsten war sie in sitzender Stellung, weil sie einen halben Zoll zu klein war. Die klugen Augen und der sanft geformte Busen verliehen ihrer Gestalt diesen jungfrau-mütterlichen Reiz, der an eine von Murillos unschuldigen, aber sehr wissenden Madonnen erinnerten. – Jetzt lehnte sie sich auf ihrem Stuhl zurück, und mit Entzücken sah er, daß ihr Blick gleichsam voll Unruhe nach dem Eckplatz in der ersten Reihe, der leer stand, hinüberschweifte. Er hatte ihr ausdrücklich erzählt, daß er dort sitzen würde. Und nun senkten sich die Augen, der Busen hob sich. Galten ihre Gedanken ihm? Oder hatten die Elfenträume der Musik sie eingefangen? ... Es war ihm, als könnte er sein Leben dafür geben, das zu wissen!

Als die Sinfonie beendet war, wurde das Licht in die Höhe geschroben. Hinterher sollten noch ein paar Sänger auftreten. Um nicht entdeckt zu werden, verließ er schleunigst die Loge.

Es war seine Absicht gewesen, sich jetzt auf seinem Platz im Parkett zu zeigen. Statt dessen aber ging er in den langen Wandelgang vor der Restauration hinaus; und obwohl er immer wieder von den vorübereilenden Dienern angerannt wurde, die eifrig beschäftigt waren, das Büfett für das stehende Souper zu ordnen, blieb er während des letzten Teils des Konzerts da draußen. Er hatte einen entscheidenden Entschluß gefaßt und war ganz aus dem Gleichgewicht. Bei der ersten Gelegenheit wollte er in aller Aufrichtigkeit um Jytte Abildgaards Hand anhalten. Er hatte das Junggesellenleben satt. Der Auftritt am Nachmittag mit Frau Merck hatte ihm einen endgültigen Widerwillen dagegen gegeben. Er wünschte jetzt, in geordnete Verhältnisse zu kommen und das Wohlsein des bürgerlichen Familienlebens zu genießen. In sozialer Beziehung würde es außerdem sehr viel für seine Zukunft bedeuten, wenn er in eine alte, angesehene Familie aufgenommen werden und eine Geheimrätin als Schwiegermutter bekommen könnte. Wie hochadlig sein eigenes Blut auch möglicherweise war –, er war doch in einer Entbindungsanstalt zur Welt gekommen und in einem Hinterhof aufgewachsen.

Vom Saal her ertönte Beifallsklatschen und darauf das Dröhnen des aufbrechenden Publikums. Einen Augenblick später wälzten sich Scharen von festlich gekleideten Damen und Herren durch die Türen des Theaters und füllten Gänge und Treppen. Dem Programm entsprechend sollte jetzt gegessen werden, und man stürmte die Büfetts. In der nun folgenden Stunde herrschte überall das lustigste Gedränge, ein Chaos von weißen Frauenschultern und schwarzen Herrenrücken, von aufgetürmten Frisuren, geschminkten Gesichtern, spiegelblanken Glatzen, Stangenlorgnetts und Kneifern.

Erst nach längerer Zeit vergeblichen Suchens fand Karsten From Jytte und ihre Mutter drinnen in dem »kleinen Saal«, der zu einem Palmengarten mit sommerlichen Bänken und Tischen umgewandelt war. Hier war das Gedränge nicht so groß. Die Stimmung war auch weniger ausgelassen als auf den Gängen und in der Restauration. Neben der Mutter entdeckte er zu seinem Ärger Jyttes Vetter, den Professor Asmus Hagen, dessen unverschämtes Gesicht er nicht leiden konnte.

Sobald er sich im Saal blicken ließ, wurde er von einigen Bekannten eingefangen und an einen Tisch geführt, wo ein paar jüngere Damen saßen. Es war ihm nicht möglich, zu entkommen. Die Gesellschaft erregte sogar ein gewisses unangenehmes Aufsehen infolge ihrer lärmenden Munterkeit.

Jytte, die im Theater infolge seines Ausbleibens wirklich ein wenig unruhig geworden, war jetzt nicht weit davon entfernt, zu wünschen, daß er nicht gekommen wäre. Es war so lange her, seit sie ihn im Gesellschaftssaal gesehen hatte, und der Anblick wirkte verstimmend auf sie. Diese orientalischen Kratzfüße und andere Narrenspossen, mit denen er sein dankbares Publikum unterhielt, waren ihr peinlich, und nicht zum wenigsten auf Grund der Anwesenheit von Mutter und Vetter. Trotzdem war sie entschlossen, ihr Versprechen, mit ihm zu tanzen, einzulösen, falls er sie auffordern würde. Sie wußte natürlich sehr wohl, was für ein Gegacker daraus entstehen würde, wenn sie sich an Karsten Froms Arm im Saale zeigte, nachdem sie mehrere Jahre keinen Fuß zum Tanz gerührt hatte. Aber die Verborgenheit, in der sie um der Mutter willen ihr Verhältnis gehalten hatte, war ihr allmählich unerträglich geworden. Dann lieber es dem Klatsch ausliefern.

Ein Herr mit einer Schärpe in den Danebrogsfarben trat jetzt in die Tür und klatschte in die Hände. Dies war das Zeichen zum Anfang des Tanzes, und es folgte ein allgemeiner Aufbruch. Der Strom kehrte in das Theater zurück, wo eine Reihe von Arbeitern in der Zwischenzeit die Stuhlreihen aus dem Zuschauerraum entfernt und den schrägen Boden mit Hilfe eines Mechanismus, der noch aus der Zeit der alten Kasinomaskeraden stammte, geradegelegt hatten. Ein paar Minuten später flog bereits das erste junge Paar zu den brausenden Tönen des Champagnergalopps durch den Saal, während sich die Logen oben und unten mit Zuschauern füllten.

In diesem Augenblick schritt Karsten From mit seinen langen, katzenleichten Schritten auf Jytte zu, blieb ehrerbietig in einiger Entfernung stehen und verbeugte sich.

Jytte erhob sich.

»Aber Kind!... Willst du tanzen?« rief die Mutter mit wildentsetzten Augen und hielt sie am Kleide zurück.

»Ja, ich habe Lust, zu versuchen, ob ich es noch nicht vergessen habe. Bleibe du aber ruhig sitzen, Mutter. Ich bin gleich wieder hier, und dann gehen wir wohl nach Hause?«

Karsten From war selbst ebenso verwundert. Er hatte sich nur verbeugt, um einen erlaubten Vorwand zu haben, sich ihr zu nähern.

»Ich bin ganz verwirrt vor Wonne!« sagte er auf dem Wege zum Ballsaal. »Träume ich, oder bin ich wach? Sie wollen mir wirklich die Ehre erweisen, mit mir zu tanzen?«

»Ich habe es ja versprochen.«

Beim Eingang zum Saal wurden sie von einem der Ballordner angehalten, der sie höflichst ersuchte, bis zum nächsten Tanz zu warten, da das Gedränge augenblicklich zu groß sei. Er wies ihnen Sitzplätze an der Wand an, wo ein Teil von den Stuhlreihen des Theaters angebracht war, und hier setzten sie sich so weit zurück, daß sie einigermaßen unbemerkt sein konnten.

Seiner Gewohnheit gemäß begann Karsten From, Jytte Komplimente über ihre Toilette zu sagen, aber als er eine kleine ungeduldige Falte zwischen ihren Brauen entdeckte, hielt er sofort inne und ärgerte sich über seine Dummheit. Er vergaß beständig, daß sie nicht so war wie andere, daß sie namentlich ganz unzugänglich für Schmeicheleien war. Er hatte einmal geglaubt, daß sie aus Koketterie so außerordentlich gleichgültig in bezug auf ihr Äußeres sei und jede Toilettenkunst verschmähte, zum Beispiel den Pariser Absatz unter dem Schuh, der den fehlenden halben Zoll an ihrem Wuchs erstattet haben würde. Jetzt kannte er sie besser. Sie war zu stolz, um gefallen zu wollen, zu keusch, um locken zu wollen. In ihrem unbefangenen Blick lag keine schlaue Berechnung. Ihr Lächeln, das so spöttisch, aber auch so voll Süße sein konnte, war nicht Komödienspiel, wie so viele annahmen, sondern eine ganz unbewußte Ausstrahlung ihrer innersten Natur, ihrer lockenden geheimnisvollen Frauenseele.

»Wollen Sie mir, bitte, sagen,« fuhr er dann in herabgestimmtem Tone fort, »habe ich mich heute abend versündigt? Sind Sie unzufrieden mit mir? Es war mir, als konnte ich Ihnen das ansehen, als Sie da drinnen mit Ihrer Mutter saßen. Habe ich etwas Verkehrtes getan?«

»Wenn Sie es absolut wissen wollen, so erstaunt es mich, daß Sie Lust haben, immer als Vergnügungsrat für alle Menschen aufzutreten, Es kleidet Sie meiner Ansicht nach gar nicht.«

Karsten From schlug den Blick nieder und schwieg eine kleine Weile.

»Natürlich – Sie haben recht wie immer, und ich will versuchen, mich zu bessern. Aber Sie dürfen nicht schelten. Ich habe mich so unbeschreiblich darauf gefreut, Sie zu sehen. Was sollen wir unglücklichen Menschen auch tun? Falls ich in einen Gesellschaftssaal käme und versuchen wollte, ganz natürlich zu sein ... so würde ich ein Gefühl haben, als hätte ich keine Kleider am Leibe, und das ist doch eine höchst unangenehme Empfindung. Und außerdem ... was tun Sie selber, liebes Fräulein Abildgaard? Was tun alle unsere Mitgeschöpfe? Nehmen wir nicht alle aus Schamhaftigkeit eine mehr oder weniger durchsichtige Maske vor das Gesicht? Niemand will sich der Welt so zeigen, wie der liebe Gott ihn geschaffen hat. Und kann man einem das im Grunde verdenken? Wie sagt nicht der weise Salomon? Kein Mann entblößt sich außer vor der Geliebten. Das Leben ist eine große Maskerade. Sie, liebstes Fräulein Abildgaard, haben sich als Vestalin vermummt, was ich mit Ihrer freundlichen Erlaubnis eine vortreffliche Idee nennen will. Ich selber bin weniger glücklich in meiner Maskierung gewesen – das räume ich bereitwilligst ein. Für mein bürgerliches Ansehen würde es besser gewesen sein, wenn ich mich zum Beispiel als ernster Mann mit einem bekümmerten Professorenblick unter dem Schlapphut kostümiert hätte. –«

Er entdeckte von neuem die kleine ungeduldige Falte zwischen Jyttes Brauen und hielt augenblicklich inne. Nun hatte er wieder den Mund überlaufen lassen. Diese verdammte Angewohnheit!

Um jetzt von dem Thema fortzukommen, begann Jytte vom Konzert zu sprechen und fragte ihn, warum er es nicht angehört habe. Ihm sei ein großer Genuß entgangen, sagte sie.

Er schüttelte den Kopf und erwiderte, er habe nicht den Mut gehabt, sich einzufinden.

»Was soll das heißen?«

»Ich wußte ja, daß Sie da wären.«

»Nun – und was dann?«

»Ich fürchtete, Skandal zu machen.«

Sie sah ihn an.

»Ich verstehe kein Wort davon.«

»Nein, das tun Sie natürlich nicht, und das Ganze ist ja auch völlig gleichgültig, darum sollen Sie mich auch nicht weiter fragen.«

»Jetzt machen Sie mich ja nur neugierig. Warum sind Sie nicht gekommen?«

»Das habe ich Ihnen ja gesagt. Ich war bange.«

»Bange? Vor wem?«

»Vor mir selbst! ... Was würden Sie gesagt haben, Fräulein Abildgaard, falls ich mitten während eines Pianissimo von meinem Stuhl aufgesprungen wäre und gerufen – nein, in den Saal hinausgeschrien hätte, daß –«

Er hielt inne und beugte sich vornüber, als wolle er den Satz nicht vollenden. Dann aber wandte er ihr sein Gesicht langsam zu und sagte: »Daß ich Sie liebe!«

Mit Jubel sah er, wie eine warme Welle durch ihr Gemüt wogte. Ihr Hals und ihre Wangen glühten. Vergebens bemühte sie sich, ihre Verwirrung mit einem spöttischen Lächeln wegzutäuschen. Und wirklich fühlte Jytte in diesem Augenblick das Hoffnungslose, sich noch länger von ihrer Verliebtheit fortzulügen oder zu versuchen, ihr zu entfliehen.

Im selben Augenblick kam der Tanzordner zu ihnen und machte sie darauf aufmerksam, daß jetzt ein neuer Tanz beginne, und obwohl Jytte die Lust zu tanzen verloren hatte und sich wünschte, daß sie gehen könne, war sie nun doch gezwungen, sich im Saal zu zeigen.

Es war einer der modernen Walzer, der weniger ein Tanz ist als ein graziöses wiegendes Wandeln, ein schmachtendes Hinschreiten zu gedämpfter Musik, das einer Fortsetzung der Unterhaltung nicht hinderlich ist. Karsten From versuchte sich mit einer Art Entschuldigung wegen seiner erneuten Offenherzigkeit, aber Jytte hörte ihn nicht an. Sie war vorläufig zu aufgeregt und fühlte sich außerdem peinlich berührt durch den Gedanken an die vielen weit aufgesperrten Augen ringsumher in den Logen und an den Klatsch, der jetzt geschäftig sein Werk begann. Vor allem aber dachte sie an ihre arme Mutter, die vor Kummer vergehen würde. Und doch waren da Augenblicke, wo sie das alles vergaß über dem Druck des Armes, der um ihre Taille lag, und über seinen dunkelblauen Augen, die sie nicht sah, deren vertraulichen Blick sie aber während des Tanzes wie ein brennendes Durchrieseln fühlte.

Nachdem sie zweimal im Saal herum getanzt waren, hielt sie inne und verlangte, fortzukommen. Ihr Wesen begann Karsten unruhig zu machen. Sie hatte noch kein Wort zu ihm gesagt. Auch auf dem Wege durch die Gänge konnten sie infolge der vielen Menschen nicht miteinander sprechen. Und nun tauchten Frau Berta und der Professor am Ende des Basarganges auf. Frau Berta war unruhig geworden über ihre lange Abwesenheit, und Jytte eilte schnell auf sie zu, um die Ursache zu erklären.

»Wir konnten nicht zum Tanzen kommen. Der Saal war ganz überfüllt. Aber jetzt fahren wir nach Hause, Mutter, nicht wahr?«

Frau Berta bat ihren Neffen, ihnen einen Wagen zu verschaffen.

Während der Professor fort war, begleitete Karsten From die Damen nach der Garderobe. Ängstlich bewegte er sich um Jytte, um die Erlaubnis zu erhalten, ihr den Abendmantel anzuhelfen, und hinterher begleitete er sie zum Wagen, in der Hoffnung auf ein Zeichen von Gnade oder auf alle Fälle von Verzeihung.

Jytte verstand das sehr wohl, aber die Augen der Mutter ließen sie nicht eine Sekunde los, und sie mußte sich mit einem nichtssagenden Händedruck von ihm verabschieden.

Karsten From kehrte mutlos in den Ballsaal zurück. Es war seine Absicht, sich in den Wirbel zu stürzen, um sich über die Niederlage zu trösten, die er abermals erlitten zu haben glaubte. Aber auf halbem Wege kehrte er um. Er wollte nach Hause.

Einen Augenblick später fuhr er in verzweifelter Gemütsverfassung vom Fest fort.


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