Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

V

Ein Bauernwagen mit ein Paar winterlich zottigen Pferden und einem Doktorstuhl hinten darauf bog von der Landstraße nach Favsingholm ab. Auf dem Stuhl saß Doktor Mikkelsen aus Randers in einen Pelz versunken, so daß man nicht viel mehr als die Brille von ihm sehen konnte. Er war draußen gewesen, um einem zu Schaden gekommenen Arbeiter im Dorf den Kopf zusammenzunähen, und wollte nun gleich einmal auf dem Schloß einsehen.

Freilich waren nicht viele Tage vergangen, seit er zuletzt dagewesen, und der kranke Gutsbesitzer äußerte selten ein großes Entzücken, ihn zu sehen. Aber diesmal konnte er sich Hoffnung auf einen freundlichen Empfang machen, weil er eine Mitteilung brachte, die ihn wohl erfreuen würde.

Auf der Diele wurde er von der Pflegerin empfangen, die erzählte, daß sich der Gutsbesitzer nach den Ställen hinüber begeben habe.

»Dann will ich auf ihn warten,« sagte er und ließ sich in Torben Dihmers eigenes Zimmer führen, das außer der Eßstube und ein paar Schlafzimmern noch immer der einzige bewohnbare Raum in dem großen, verfallenen Hause war.

Während der stelzbeinige Mann sich mit dem Rücken gegen den warmen Ofen stellte und ein frischgebügeltes Taschentuch auseinanderfaltete, um seine Brille zu putzen, stand die Pflegerin, ein junges, brünettes Mädchen mit hübschen Zügen, abwartend auf der andern Seite des großen Mitteltisches, die Hände auf einer Stuhllehne.

»Wie finden Sie, Fräulein Hecht, daß es geht? Haben sich seither keine Anfälle von Atemnot gezeigt? Kein Herzkrampf?«

»Nein. Ich finde, daß sich in den letzten Tagen ein Fortschritt bemerkbar gemacht hat. Gestern ist Herr Dihmer mit dem Förster hinausgefahren, um Bäume zum Fällen auszusuchen. Er war fast drei Stunden fort, dann war er aber auch sehr müde, als er nach Hause kam.«

»Ja, hm! Das ist doch immerhin ein Ergebnis. Das sind die Kampfereinatmungen, die ich neulich verordnete. Sie wissen vielleicht, Fräulein Hecht, daß Herr Dihmer früher von Professor Hagen behandelt worden ist. Das wurde eine Enttäuschung. Er wandte eins dieser ausländischen Präparate an, von denen man jetzt so viel hört. Anfänglich sah es ja aus, als könne es das Wunderbare ausrichten, aber die Wirkung hielt sich nicht. So geht es ja im allgemeinen mit diesen Sachen.«

Die junge Pflegerin sah auf die Spitze ihres Schuhes herab, mit dem sie verlegen Figuren auf den Teppich zeichnete. Sie konnte sich nicht entschließen, zu verraten, daß ihr Patient sich geweigert hatte, die Kampferdämpfe zu nehmen, geschweige denn, daß er den Doktor einen alten Quatschkopf nannte.

»Wie ist es denn mit Herrn Dihmers Stimmung? Ist er sehr schwierig? Hat er viele unvernünftige Einfälle?«

»Nein – ich finde im Gegenteil, daß Herr Dihmer merkwürdig geduldig ist. Er klagt nie. Gestern hörte ich ihn zu Architekt Schmidt sagen, daß er sich seit seiner Jugend nie so sorglos gefühlt habe wie jetzt.«

»Das sind die Kampfereinatmungen. Sorgen Sie dafür, daß er sie regelmäßig nimmt! Wie geht es mit dem Appetit?«

»Das ist ein wenig verschieden. In den letzten Tagen war der Appetit übrigens sehr gut.«

»Sagen Sie mir doch, Fräulein Hecht, Herr Dihmer befolgt doch streng mein Verbot, Kaffee oder jegliche Spirituosen zu sich zu nehmen?«

»Herr Dihmer trinkt zuweilen ein wenig Wein. Den will er nicht entbehren, sagt er.«

»Hm! Ja, er ist ein widerspenstiger Patient ... Man merkt ihm an, daß er aus einer alten Pferdehändlerfamilie stammt. – Nun. Aber eigentlich schwierig im Verkehr ist er also nicht?«

»Nein.«

»Sie haben überhaupt keinen Grund gehabt, mit dem Aufenthalt hier unzufrieden zu sein?«

»Nein, ganz und gar nicht.«

»Dann haben Sie Glück gehabt, Fräulein Hecht! Wie lange sind Sie jetzt hier gewesen? Bald vier Wochen, nicht wahr? Ja, dann haben Sie wirklich Glück gehabt. Sie wissen vielleicht, daß es die vorige Pflegerin nicht länger als acht Tage ausgehalten hat. Herr Dihmer hatte während der ganzen Zeit kein Wort mit ihr gesprochen. Er konnte ihr Gesicht nicht ausstehen – erzählte er mir nachher. Eine andere war nur vier Tage hier. Aus demselben Grunde – nehme ich an.«

Wie um das Erröten zu verbergen, das plötzlich ihr eigenes schönes kleines Gesicht färbte, senkte Fräulein Hecht den Kopf und begann von neuem, die Linien in dem Muster des Teppichs mit der Spitze des Schuhs nachzuziehen.

Im selben Augenblick hörte man einen Wagen vor der Haustreppe vorfahren.

»Entschuldigen Sie – das ist Herr Dihmer,« sagte sie und eilte hinaus.

Während der Doktor wartete, ging er, eine Melodie vor sich hinsummend, in dem großen, dunklen Zimmer mit dem verschossenen Teppich und der rauchgeschwärzten Decke umher. Neugierig untersuchte er, was auf dem Tische lag, darunter einen alten Folianten in Schweinsledereinband, mit dem Titel »Der Zauberkundige in Cordova«. Es war dies dasselbe Buch, das Asmus Hagen bei seinem Besuch vor anderthalb Jahren gesehen und zu seinem Erstaunen voller Anmerkungen von Torbens Hand gefunden hatte.

Auch Doktor Mikkelsen stutzte.

»Was ist denn dies hier? Herr, du meines Lebens! Ist er jetzt Magier und Sterndeuter geworden?... Ja, er ist verrückt!«

Auch einige halb aufgerollte Arbeitszeichnungen beschnüffelte er eifrig. Aber nun hörte er die Stimme des Gutsbesitzers draußen.

Als Torben Dihmer in der Tür erschien, eilte er hinzu, um ihm über die Türschwelle hinüberzuhelfen.

»Danke. Ist nicht nötig!« sagte Torben und ging langsam, aber ganz sicher ohne Stütze eines Stockes auf einen Stuhl am Tische zu.

Die Pflegerin folgte ihm mit einem Kassenbuch, das sie auf das Schreibtischbord legte.

»Setzen Sie sich, bitte, Herr Doktor. Haben Sie wieder etwas in dieser Gegend zu tun gehabt? Denn hoffentlich haben Sie nicht meinetwegen den langen Weg hier hinaus gemacht.«

»Ja, – auch Ihretwegen, Herr Dihmer,« antwortete der Doktor und machte darauf eine Pause, bis Fräulein Hecht das Zimmer verlassen hatte. »Ich bringe Ihnen eine Nachricht, die Sie gewiß erfreuen wird.«

»Eine Nachricht! und obendrein eine erfreuliche! Was kann das nur sein?«

»Sie haben mich einmal gebeten, Ihnen Auskunft über Ihre frühere Pflegerin, die alte Schwester Barbara, zu verschaffen. Ich glaubte im Grunde, sie sei vom Erdboden verschwunden, aber nun, neulich, traf ich sie, weiß Gott, an einem Krankenbett hier in der Heide.«

»Dann lebt sie also noch, die Alte!«

»Ja, mit ihren achtzig Jahren hat sie also wieder angefangen, Nachtwachen zu übernehmen.«

»Ahnte es mir doch! So ist sie! Sie muß für andere leben oder sich zum Sterben legen! Haben Sie ihr erzählt, daß ich nach Hause gekommen bin?«

»Ja, sie bat mich, Sie zu grüßen.«

»Und wie geht es ihr denn?«

»Scheinbar war sie ganz unverändert. Falls es wirklich Ihre Absicht ist, die alte Person bei passender Gelegenheit wieder zu nehmen, so steht sie gewiß zu Diensten.«

Torben Dihmer wandte ihm seine halb zugewachsenen Augen zu. »Sie haben mit Fräulein Hecht gesprochen. Will sie vielleicht fortgehen?«

»Nein, davon hat sie nichts gesagt. Aber Sie haben sich seinerzeit über ihre Jugend beklagt, und es war ja auch ein arger Mißgriff von dem Bureau, sie hierher zu schicken, da ich, Ihrem Wunsche gemäß, ausdrücklich eine ältere Pflegerin verlangt hatte, die sich in ein zurückgezogenes und einförmiges Leben finden könne.«

Torben Dihmer ließ den Blick sinken und seine Hand durch den Bart gleiten.

»Ich will mir die Sache überlegen,« sagte er und sprach nicht weiter davon.

Als der Doktor gefahren war, ging er zu seinem Frühstück hinein, das er immer allein einnahm. Beim Mittagessen, um sechs Uhr, hingegen hatte er gern Gesellschaft. Außer der Pflegerin waren da der Inspektor, der Verwalter und der Molkereivorsteher zugegen, zuweilen auch Architekt Schmidt, wenn er von Randers herüberkam, um mit ihm über die Instandsetzung des Gutes zu beraten. Am Abend pflegte Fräulein Hecht bei ihm im Zimmer zu sitzen und ihm vorzulesen, da seine Augen geschwächt waren, so daß er nicht gut bei künstlichem Licht arbeiten konnte. Zuweilen spielten sie eine Partie Besigue, oder sie half ihm das Archiv des Gutes ordnen.

Die junge, dreiundzwanzigjährige Brünette, die durch ein Mißverständnis in sein Haus gekommen war, hatte sich hier allmählich unentbehrlicher gemacht, als es ihm eigentlich lieb war. Sie war die anspruchsloseste kleine Person, die er je gekannt hatte, und mit Sorge dachte er daran, was aus ihm werden sollte, wenn sie einmal fortging.

Aber nun war also die alte Barbara gefunden!

Nach dem Frühstück ging er in den Park hinab, in dem er zu dieser Zeit regelmäßig ein paar Mittagsstunden in einem Zelt verbrachte, das an einem geschützten und sonnigen Platz errichtet war und ein kleines Zimmer mit Tisch und Korblehnstühlen enthielt.

Davor lag ein großer Rasenplatz. Durch einen breiten Aushau an der einen Seite war da eine Aussicht über die Wiesen bis an die bewaldeten Höhen hinter dem gegenüberliegenden Ufer der Förde. Der Abstand betrug reichlich zehn Kilometer, aber man konnte deutlich die roten Mauern von Stövringgaard vor dem Walde sehen und bei klarem Wetter sogar die Fenster zählen.

In seiner Kindheit war diese ungeheure Wiesenfläche ein unbewohntes Land gewesen, eine steppenartige Öde. Jetzt waren da draußen sowohl Häuser als Anpflanzungen, und dem Aushau gerade gegenüber stand einer der kleinen treppengiebligen Mauersteintürme eines Hochspannungswerks, der aussah wie ein Ableger der Kirchen in der Gegend. Dahingegen war die reiche Vogelwelt früherer Zeiten fast verschwunden, diese großen Scharen von Möwen und Seeschwalben, die damals über Favsingholm schwärmten, so daß er glaubte, sie seien dort ebenso heimisch wie die Tauben und Hühner. Mit einem Lachen wie junge Mädchen, die der Schulstube entronnen sind, schwebten sie auf die Pflugäcker vor dem Hofe nieder, oder sie zogen in der entgegengesetzten Richtung hinaus zu ihren Brutplätzen in der Fördenmündung. Jetzt kam nur hin und wieder einmal eine einsame Möwe hoch in der Luft in stummem Fluge dahergesegelt – als fliehe sie geschlagen fort von dem Liebeskampf da draußen.

Während Torben in einem der Stühle des Zeltes ausruhte, ging Fräulein Hecht in der Nähe umher, um zur Hand zu sein, falls er ihrer bedürfe. Wenn er sie da draußen auf dem Rasenplatz entdeckte, wo sie nach den ersten Blumen des Frühlings suchte, folgten ihr seine Augen und genossen wehmütig den Anblick ihrer gesunden Jugend. In ihrer schwarzen Pflegerinnentracht, den Kopf von einem weißen Schleier umwunden, der mit breiten Enden auf den Rücken herabhing, erinnerte sie an eine junge klösterliche Novize.

Das junge Mädchen hatte hin und wieder ein wenig von ihren persönlichen Verhältnissen verraten. Sie war in einer Kleinstadt geboren und hatte wohl eine schwere Kindheit gehabt. Wahrscheinlich deswegen war sie so dankbar für jede Freundlichkeit, die ihr erwiesen wurde. Aber es lag auch etwas in ihrem Wesen, was vermuten ließ, daß ihr Herz an einer frischen Wunde litt, die im Augenblick bewirkte, daß sie sich einsam in der Welt fühlte.

Am Tage, nachdem Doktor Mikkelsen dagewesen war, gingen sie wie gewöhnlich die große Gartentreppe hinab, wobei Torben ein wenig gestützt werden mußte.

»Wissen Sie wohl, wen ich heute erwarte?« fragte er.

»Erwarten Sie Besuch, Herr Dihmer?«

»Ja, aber Sie können nicht raten, wer es ist?«

»Nein, wenn es nicht Architekt Schmidt ist.«

»Er ist es nicht.«

»Dann vielleicht der Pfarrer?«

»Nein, der kommt wohl nicht wieder.«

»Ja, dann weiß ich wirklich nicht. Denn sonst ist ja niemand hier gewesen.«

»Es ist Björn Hamre.«

»Der Dichter?«

»Der Fabulist und Rabulist – ja. Sie wissen, er hält augenblicklich Vorträge hier in der Gegend. Sie haben mir neulich selbst von seiner letzten Versammlung drüben in Mellerup vorgelesen.«

»Dann kennen Sie ihn also, Herr Dihmer?«

»Ja, ein wenig. Und nun können Sie also den berühmten Aufrührer selbst kennen lernen. Er ist übrigens keineswegs der Menschenfresser, zu dem er von vielen gemacht wird. Er verzehrt nur sich selbst, wie die meisten von dieser Art Leute.«

Über die Veranlassung des Besuches sagte er nichts. Er kannte Björn Hamre aus seiner Jugend im »Aprilverein«, und der Dichter hatte ihm jetzt einen empörten Brief gesandt in Veranlassung seines Verhältnisses zu dem Landarbeiterbund der Umgegend. Ohne auf den Ton des Briefes zu achten, hatte er ihn mit einer Aufforderung zu einer persönlichen Zusammenkunft beantwortet.

Nachdem er in seinem Zelt Platz genommen hatte und in eine Decke gehüllt worden war, wollte Fräulein Hecht sich wie gewöhnlich entfernen, um nicht zu stören. Aber Torben bat sie, zu bleiben, und zu diesem Zweck hielt er ihre Hand ein wenig länger, als es gerade nötig war, fest, um sie verstehen zu lassen, daß sie sich setzen solle.

»Ich möchte gern mit Ihnen über etwas reden. Sie sollen mir sagen, wie lange Sie glauben, daß Sie es noch hier auf Favsingholm aushalten können.«

Er sah, daß die Frage sie erschreckte.

»So lange, bis Sie keine Verwendung mehr für mich haben, Herr Dihmer.«

»Freilich! So lautet Ihre Vorschrift, das weiß ich sehr wohl. Aber daran kehren wir uns nicht. Ich will nicht, daß Sie auch nur einen einzigen Tag länger hier bleiben, als Sie selbst mögen. Sehen Sie, Fräulein Hecht, ich bin auch einmal jung gewesen. Dem Kalender nach ist es sogar gar nicht so sehr lange her. Deswegen kann ich mir selbst sagen, daß Sie es aus die Dauer ein wenig langweilig hier zwischen lauter alten Menschen wie Inspektor Hansen, Architekt Schmidt und dem Verwalter finden müssen. Gar nicht zu reden von mir selbst. Wird Ihnen die Zeit nicht furchtbar lang?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Nun ja, ich nehme Ihnen also jetzt das Versprechen ab, Fräulein Hecht, daß Sie es mir ganz offen sagen wollen, sobald Sie nicht mehr hier sein mögen. Wollen Sie mir hierauf feierlich Ihre Hand geben?«

Er reichte ihr die Hand über den Tisch, der zwischen ihnen stand, und sie legte stumm und verlegen die ihre in die seine, indem sie sich voller Ehrerbietung ein wenig von ihrem Stuhl erhob.

Im selben Augenblick hörten sie jemand kommen. Blitzschnell wie ein Wiesel schlüpfte Fräulein Hechts Hand in ihren Schoß zurück, während Torben sich ärgerlich umwandte, um zu sehen, wer da kam.

Es war die Mamsell, die Björn Hamre meldete.

»Der Herr sagt, er werde erwartet.«

»Es verhält sich so. Bitten Sie ihn, so freundlich zu sein und sich hierher zu bemühen.«

Nach einer Weile vernahm man Schritte. Ein vierschrötiger Mann, der auf Bauernmanier den Stock weit vor sich her hielt, näherte sich bedächtig über den Kies.

Torben war aufgestanden, um seinem Gast entgegenzugehen.

Es war eine ganze Reihe von Jahren her, seitdem die ungefähr gleichaltrigen Männer einander gesehen hatten. Björn Hamre blieb stehen wie vor die Brust geschlagen beim Anblick von Torbens verheerter Erscheinung. Er selbst war ein schöner Mann mit lebhaften Farben, ein wenig klein von Wuchs, aber frisch und kräftig. Unter dem breiten Hutrand saßen ein paar schöne und treue Augen, die vor kindlicher Selbstfreude strahlten.

Nachdem Fräulein Hecht vorgestellt war und sich zurückgezogen hatte, gingen die Herren ins Zelt hinein.

»Nehmen Sie, bitte, Platz. Sie entschuldigen wohl, daß ich es mir bequem mache. Ich bin zurzeit ein wenig Patient.«

»Ich habe davon gehört. Es ist hoffentlich nichts Ernstes?«

»Ach nein, ich habe nur meine Lebensgewohnheiten ändern müssen. Viel andres bedeuten unsre Krankheiten ja überhaupt nicht. Aber von mir wollten wir ja nicht reden, Herr Hamre! Sie haben in Ihrem Briefe Rechenschaft von mir gefordert über mein Verhältnis zu dem Landarbeiterbund hier. Sie machen mir Vorwürfe, daß ich an demselben Tage, an dem die große Agitationsversammlung in Favsing abgehalten wurde, ein etwas altmodisches Fastnachtsfest für die Leute hier auf dem Gut veranstaltet habe.«

»Ja, es erstaunte mich sehr, das zu hören. Ich hatte das eigentlich nicht von einem früheren Gesinnungsgenossen erwartet. Denn es konnte ja nur als Demonstration aufgefaßt werden.«

»Das war es auch, und ich will Ihnen lieber gleich sagen, daß ich die Absicht habe, bei der ersten Gelegenheit die Demonstration zu wiederholen, zum Beispiel am Johannisabend, falls wirklich für diesen Abend eine neue Versammlung auf dem Sandhügel vorbereitet ist. Soviel ich weiß, erzählten die Zeitungen, daß Sie selbst einer der Redner sein würden. Ich lade an diesem Tage zu einem Hochsommerfest hier in der Gegend ein, und ich kann Sie versichern, daß es auch bei dieser Gelegenheit weder an guter Bewirtung noch an reichlicher Tanzmusik fehlen soll.«

Björn Hamre, der den Hut auf den Tisch gelegt und in seinem üppigen Dichterhaar gewühlt hatte, bekam wieder gleichsam einen Schlag vor die Brust. Er sah Torben mit aufrichtiger Betrübnis an.

»Sagen Sie mir, Herr Dihmer – was ist eigentlich der Grund, daß Sie uns so ganz verlassen haben? Ich glaube, das wird bittere Gefühle in weiten Kreisen erregen. Ich für meine Person kann Ihnen erklären, daß ich niemals den Abend im ›Aprilverein‹ vergessen werde, als ich Sie zum ersten Mal reden hörte. Es war so schön, zu denken, daß ein Mann wie Sie – einer der größten Grundbesitzer des Landes – jetzt auch Fürsprecher für die Kleinen und Benachteiligten in der menschlichen Gesellschaft geworden war. Das gab so reiche Verheißungen für die Zukunft. Und als ich im vorigen Jahre in den Zeitungen von dem mustergültigen Altersheim las, das Sie auf Ihre Kosten hier in Favsing eingerichtet hatten, – ach, da war es mir, als werde es hier im Lande so hoch bis zum Himmel hinauf. Es war, als höre man die erste Lerche über der im Banne des Winters liegenden Erde tirilieren.«

In der zuverlässigen Herzlichkeit, mit der seine Worte ausgesprochen wurden, lag etwas, das trotz der hohen Töne Eindruck auf Torben Dihmer machte und ihn veranlaßte, mit einem Bekenntnis zu antworten.

»Ist es Ihnen jemals vorgekommen, Herr Hamre, daß Sie von einem Fest etwas früh aufbrechen mußten und dann spät in der Nacht wieder dahin zurückgekehrt sind? In dem Fall wissen Sie, wie sonderbar fremd man sich zwischen denselben Menschen fühlt, mir denen man noch vor wenig Stunden so kameradschaftlich dagesessen hat. Man kommt von draußen aus der nächtlichen Stille herein und begreift nicht gleich, ob man selber es ist oder ob es die andern sind, die sich in der Zwischenzeit verändert haben. Man sieht nur die Gebärden und die Schminke und hat ein Gefühl, als sei man in ein unheimliches Maskenfest hineingeraten. Sehen Sie, das war mein Fall, und ich habe den Entschluß gefaßt, mich in aller Stille zu drücken. Eine andre Antwort auf Ihre Frage kann ich Ihnen nicht geben, und die befriedigt Sie wahrscheinlich nicht.«

Björn Hamre hatte wieder seinen Hut auf den Kopf gesetzt. Der Stock stand zwischen seinen Beinen aufgepflanzt, und die beiden wettergebräunten Hände ruhten darauf.

»Sie haben Ihre eigenen Umgangskreise vor Augen gehabt, Herr Dihmer. Und natürlich – die Zustände dort müssen bei jedem rechtlich denkenden Menschen Ekel und Abscheu erregen. Das ist sicher und gewiß. Aber Sie äußerten einmal – und das Wort habe ich nicht vergessen –: jetzt habe der Reichtum seit Jahrtausenden die Welt beherrscht und sie verdorben. Jetzt müsse die Errettung von dem armen Manne ausgehen.«

»An dem Worte halte ich auch jetzt noch fest.«

»Dann müssen Sie verzeihen. Dann begreife ich Ihr Auftreten noch weniger.«

»Ja, das ist ganz erklärlich. Sie können dem Reichtum ja nicht verzeihen, daß er reich ist, während ich mich zu der alten Lehre bekenne: Je mehr Geld, um so mehr Plagen.«

»Ja, das Sprichwort kenne ich auch. Das ist der Seufzer der überfüllten Bäuche. Aber nicht in diesem Sinne haben Sie damals die Worte gebraucht, die ich erwähnte.«

»Ach nein, ich gebe gern zu, daß ich den Aberglauben meiner Zeit geteilt habe. Ich habe über die alten Goldmacher in ihren Hexenküchen gelächelt, aber unsere eigenen Eldoradoträume ernst genommen. – Doch darüber wollten wir eigentlich nicht reden. Wissen Sie, Herr Hamre, daß Ihre Freunde hier in der Gegend mir gedroht haben, Favsingholm über meinem Kopf anstecken zu wollen? Ich bin gerade nicht bange, daß sie im buchstäblichen Sinne Ernst aus der Drohung machen werden, aber deswegen könnten sie mir doch die Hölle heiß genug machen. Ich habe zum Beispiel die Absicht, in diesem Sommer mit großen Umbauten hier auf dem Gut zu beginnen, nun höre ich aber, daß man versuchen will, mich zu boykottieren, so daß ich keine Handwerker bekommen kann. Und nun wollte ich Sie fragen, Herr Hamre, ob Sie Ihre Freunde nicht zu der Ansicht bringen können, daß ich ein Mensch bin, der nur in Frieden zu leben wünscht, und daß ich außerhalb der Grenzen Favsingholms ihren Bestrebungen keinen Strohhalm in den Weg legen will.«

»Es tut mir leid, Herr Dihmer, aber bei dem Standpunkt, den Sie eingenommen haben – und also auch einzunehmen gedenken –, wird es schwer genug sein, mich selbst von Ihrer friedlichen Gesinnung zu überzeugen, geschweige denn die andern. In dem Kampf zwischen arm und reich, der der Kampf des Jahrhunderts werden wird – in dieser endgültigen Weltenabrechnung vor dem großen Völkerfrieden –, in dem hat niemand das Recht, sich zu drücken. Wer nicht mit uns ist, der ist wider uns. Und nach der Losung müssen wir handeln.«

»Aber wer ist reich und wer ist arm?« sagte Torben nach einer Pause. »Alle wirklichen Güter des Lebens erhalten wir gratis. Um was können wir einander da beneiden? Die Sonne scheint auf uns alle herab, und der Tod geht ja auch nicht an der Tür des armen Mannes vorüber. Und welchen Wert hat denn alles übrige? Sie haben dem Gott der Zeit nicht richtig auf den Zahn gefühlt, Herr Hamre! Denn sonst würden Sie sicher nicht den Mut gehabt haben, Ihre Freunde in den Raubtierrachen zu treiben. Als ich vor einigen Monaten von einer langen Reise zurückkehrte, wurde mir klar, daß der kleine dänische Kätner mit seiner einzigen Kuh und seinen vier Hühnern der glücklichste Mensch der Welt ist.«

»Ja, von den Fenstern des Reichtums aus macht die Armut so einen idyllischen Eindruck.«

»Ach ja! Wir idealisieren ja gerne das Glück, das wir verloren haben.«

Björn Hamre gab es auf, zu antworten. Es war ihm klar geworden, daß die Gerüchte über Torben Dihmers geistigen Zustand nicht aus der Luft gegriffen waren. Die Krankheit hatte sich auf das Gehirn des armen Mannes geschlagen und sein Gemüt verfinstert.

Aber nun begann Torben selbst von seinem mißglückten Altersheim zu reden, das er mit so großen Kosten zu einem Musterheim gemacht hatte, mit Badezimmern, Wasserklosetts und einem bibliotheksartig ausgestatteten Lesezimmer. Ein paar von den alten Leuten gingen dort noch mit mißvergnügten Mienen auf dem Hof umher, aber der größte Teil hatte Reißaus genommen wie aus einer Strafanstalt.

»Ich war übrigens von einem Manne gewarnt, der es später zu einer gewissen Berühmtheit gebracht hat. Ich meine Mads Vestrup. Er war seinerzeit Pfarrer hier in Favsing. Ich weiß nicht, was jetzt aus ihm geworden ist. Aber im ›Fünften Juni‹ las ich einmal im Winter ein paar von den Reden, mit denen er in Kopenhagen so großes Aufsehen erregte. Der merkwürdige Mann gehört ja einer entschwundenen Zeit an und redet eine mittelalterliche Sprache, aber – das verstehe ich jetzt – der innerste Sinn seiner Worte hat ewigwährende Gültigkeit. Sie selbst werden die gleiche Erfahrung machen, Herr Hamre, wenn Sie einmal Ihren Idealstaat in die Wirklichkeit übertragen: eine Erdhütte und ein Kohlgarten, das ist das verlorene Paradies der Menschheit. – Sie haben wohl gelesen, was Anton Bjerreby kürzlich über seine letzten Gespräche mit Enslev auf dem Totenlager mitgeteilt hat. Es schneidet einem ins Herz, zu denken, daß dieser Mann dem Leben mit so bitteren und gehässigen Worten Lebewohl sagen mußte. Kann seine Lebenstragödie Sie nicht abschrecken? Enslev war ja auch eine Art Moses, der das Volk aus der Sklaverei führen wollte, indem er einen Wolfsappetit auf das Leben in ihnen weckte. Vielleicht haben wir nie einen göttlicheren Willen hier im Lande gehabt als den seinen, solange er noch jung und begeistert war. Jetzt sehen wir als Ergebnis des Befreiungswerks eine Schar Unglücklicher, die sich an dem Leben überfressen haben und Ekel vor sich selbst und andern empfinden. Überall in der Welt begegnen wir Menschen, die von Überdruß am Dasein erfüllt sind und doch nicht genug davon bekommen können, die das Leben hassen und verfluchen und sich gleichzeitig mit all ihren Wünschen und Hoffnungen daran klammern.«

Björn Hamre fand es noch immer zwecklos, die Diskussion mit dem kranken Mann aufzunehmen, und Torben, dem jetzt der Grund seines Schweigens klar wurde, verstummte nun selbst auch. Obwohl er sich allmählich daran gewöhnt hatte, von seiner Umgebung als verrückt betrachtet zu werden, stimmte es ihn doch jedesmal traurig, wenn er von neuem diesem vollkommenen Mangel an Verständnis bei Leuten begegnete, mit denen er früher einer Ansicht gewesen war. Und er hatte Björn Hamre immer hoch gestellt als einen begnadeten Dichter, als Freiluftsänger, aus der Rippe des Volkes herausgeschnitten, frisch und stark und üppig wie die Natur in seiner ostjütischen Heimat.

Die Unterhaltung erstarb nach und nach. Torbens Blick folgte eine Weile Fräulein Hecht, die wie gewöhnlich draußen auf dem Grasplatz umherging und nach Blumen suchte, und es fiel ihm auf, daß ihr Wesen sich verändert hatte. Scheinbar ging sie in ihre eigenen sorglosen Gedanken verloren, aber die Art und Weise, wie sie hin und wieder die Hand prüfend über den Gürtel hinführte, oder schnell die Enden des Schleiers auf den Rücken zurückschlug, plauderte aus der Schule und verriet, wie sehr Björn Hamres Anwesenheit sie in Anspruch nahm.

»So haben Sie also jetzt den großen Dichter gesehen,« sagte er zu ihr, als sie bald nach der Verabschiedung des Gastes ins Haus gingen. »Er ist ein schöner Mann, nicht wahr?«

»Ja, das ist er wohl.«

Es klang gleichgültig, aber Torben war mißtrauisch geworden und fand, daß der Ton nicht ganz echt war.

Am Abend, als sie ihm in seinem Zimmer bei dem Ordnen des Archivs zur Hand ging, brachte er absichtlich wieder die Rede auf den Dichter, und aus den Fragen, die sie an ihn richtete, glaubte er zu verstehen, daß sie noch stark von dem Besuch in Anspruch genommen war. Als sie ihm später aus der Zeitung vorlas, war es ihm auch, als strauchle sie häufiger als sonst über die Worte, weil sie ihren eigenen Gedanken nachgehangen hatte.

Er sagte sich, der Zauber ist gehoben. Ihr Sehnen hat über die Klostermauer gelugt. Eines Tages wird es darüber hinausstürmen, zurück zur Welt, und sie von hier fortführen. Das war ja nur, was er erwartet und auch selber gewünscht hatte, um nicht in ein neues Liebesabenteuer hineingeführt zu werden, das gleich entwürdigend für beide Teile war. Aber er hatte sich so daran gewöhnt, dies kleine, stille Wesen Tag und Nacht um sich zu haben, und er wußte, daß er sich noch einsamer und greisenhafter fühlen würde, wenn er nicht mehr den Anblick ihrer jungen Gesundheit hatte, um sich daran zu verjüngen.

Am nächsten Tage hielt er sich fast ausschließlich in seinem Zimmer auf, ohne jemand sehen zu wollen, und bei Tisch, wo der Inspektor, der Verwalter und der Molkereivorsteher wie gewöhnlich zugegen waren, wurde fast gar nicht gesprochen. Die drei Männer, die längst mit diesem plötzlichen Umschlag in Torbens Stimmung vertraut waren, taten, als bemerkten sie es nicht. Fräulein Hecht dagegen war sehr unglücklich und begriff nicht, was hier vor sich ging.

Nach Tische rief er sie zu sich herein und bat sie freundlich, Platz zu nehmen. Er sagte, er habe wohl über das nachgedacht, worüber er gestern mit ihr gesprochen, daß das Leben hier auf Favsingholm auf die Dauer zu trübselig und einförmig für sie werden müsse. Vielleicht fühle sie es selber noch nicht. In Wirklichkeit aber bedürfe sie sicher einer Veränderung.

»Sie müssen lieber fortreisen, Fräulein Hecht! Sie haben in jeder Beziehung Ihre Pflicht getan und mehr als das, aber ich habe nicht ins Recht, Ihre Geduld zu mißbrauchen. Habe ich Ihnen nicht von einer alten Wartefrau erzählt, die vor einem Jahr aus dem Asyl drüben verschollen war? Die habe ich jetzt gerade wiedergefunden, so daß ich nicht in Verlegenheit komme. So ein altes Inventar paßt besser für die Verhältnisse hier.«

Das junge Mädchen hatte ein paarmal mit einem aufgescheuchten Blick zu ihm hinübergesehen. Das bestimmte ihn, die Qual für sie beide kurz zu machen.

»Gehen Sie jetzt hinein und packen Sie Ihren Koffer, dann werde ich dafür sorgen, daß der Wagen morgen vormittag vor der Tür hält! Aber sie müssen spätestens um halb neun hier fortfahren, um den Schnellzug zu erreichen.«

Draußen auf dem Gang lief Fräulein Hecht der Mamsell in die Arme, die beim Anblick ihres Gesichtes entsetzt in die Worte ausbrach: »Mein Gott, Sie sind doch nicht krank?« Das junge Mädchen antwortete, sie habe Zahnschmerzen, und eilte auf ihr Zimmer, das Taschentuch vor den Mund haltend.

Am nächsten Tage um die Mittagszeit saß Torben wieder vor seinem Zelt. Über seinen Knien lang eine ausgebreitete Zeitung, die er zur Zerstreuung mitgebracht hatte, in die er aber nur hin und wieder einen Blick warf. Er saß fast die ganze Zeit in den Stuhl zurückgelehnt da und starrte mit seinen halbgeschlossenen Augen vor sich hin. Fräulein Hecht, die zur festgesetzten Zeit abgereist war, hatte beim Abschied einen Augenblick an seiner Brust geweint. Er hatte den verschämten Mund des kleinen Wesens gegen den seinen gefühlt, und ihre feuchten Wimpern hatten seine Wange gestreift. Aber es war ja kein Unglück für ein junges Mädchen, einen alten Methusalem geküßt zu haben. Wenn sie nun, in kürzerer oder fernerer Zukunft, am Arm eines Bräutigams dahinwandelte, würde sie bei der Erinnerung an ihre Verirrung lächeln. Aber er konnte es sich selbst nicht verzeihen, daß er sich von neuem in das Netz von zehntausend winzig kleinen Lügen, die man weibliche Unschuld nennt, hatte hineinlocken lassen, am allerwenigsten, daß er wieder angefangen hatte, Asmus' Wunderpillen zu nehmen, um seine männliche Kraft wieder zu gewinnen. Verständiger war er nicht geworden!

Die Luft wogte von Sonnenlicht. Irgendwo in seiner Nähe saß eine Meise in einem Baumwipfel und schrie ihre Frühlingsfreude mit einer unverdrossenen Eintönigkeit hinaus wie ein Handwerker, der bei seiner Arbeit pfeift. Weit da draußen auf den Wiesen glitt ein dreimastiger Schoner langsam mit vollen Segeln dahin. Es war wie eine Luftspiegelung – ein Wüstenbild. Auf Grund der Entfernung konnte man den Stromlauf nicht sehen, deswegen sah es so aus, als ob das Schiff mit seinen vielen gefüllten Segeln über die Wiesenfläche selbst dahinschwebe.

Seine Augen schlössen sich. Halb im Traum, halb wach, führten ihn seine Gedanken nach Ägypten, nach Indien, nach Jerusalem und andern fernen Stätten, die er auf seiner Reise besucht hatte. Schließlich befand er sich auf einer schwindelnd hohen steinernen Treppe, die zwischen südländischen Gartenmauern im Zickzack einen Berg hinaufführte. Die Stufen waren hoch, und Jytte, die ihm folgte, bedurfte oft einer Handreichung. Vor ihnen her ging Frau Berta. Infolge der Biegungen der Treppe ward sie ihnen zuweilen unsichtbar, und gerade als sie auf einen solchen Augenblick warteten, erwachte er mit einem Ruck und mußte wegen des wilden Pochens seines Herzens nach Luft schnappen.

Er sah sich um. Über dem Rasenplatz flimmerte das Licht. Die Meise schaukelte sich noch da oben in dem Baumwipfel und setzte den Sonnenschein in Musik. Er war nur ein paar Minuten abwesend gewesen.

»Ja, hier ist gut sein!« dachte er und atmete tief aus.

Als sein Blick wieder in die Zeitung fiel, sah er eine Notiz mit der Überschrift »Doktor Gaardbo«. Er wurde aufmerksam. Nachdem er sie gelesen, schlug er empört mit der Hand auf die Armlehne des Stuhles.

»Der ehemalige Kreisarzt in Jerve auf Fünen, der von seiner ärztlichen Tätigkeit her unvorteilhaft bekannte Doktor Gaardbo, hat in der angesehenen überseeischen Agentur P. C. Christensen für sich und seine Familie Fahrkarten nach Australien bestellt. Daher kann man wohl vermuten, daß Herr Gaardbo beschlossen hat, seinem undankbaren Vaterland den Rücken zu wenden, und daß jener ferne Weltteil in Zukunft mit seinen eigentümlichen Heilmethoden beglückt werden soll.«

Sein Besuch in Jerve vor vier Monaten war ihm seither oft als die einzige gute Erinnerung erschienen, die er von seiner weitschweifenden Erdumseglung heimgebracht hatte. Das kleine fünensche Doktorheim mit dem glücklichen Familienleben stand vor seiner Erinnerung wie eine Oase aus blühender Wirklichkeit mitten in einer wüstengrauen, chaotischen Gespensterwelt. Und nun sollte auch dieser kleine sprudelnde Lebensquell getrübt werden!

Draußen auf dem Kies wurden Schritte vernehmbar. Es war der Architekt Schmidt aus Randers, der der geplanten Instandsetzung von Favsingholm vorstehen sollte.

Torben empfing ihn freundlich, befand sich aber noch lange unter dem Bann seiner eigenen Gedanken. Statt die mitgebrachten Zeichnungen des Architekten zu besichtigen, sprach er bitter über das moderne Inquisitionstribunal, das man die öffentliche Meinung nannte, und über die Presse, die den Pranger, die Brandmarkung und die übrige mittelalterliche Tortur wieder eingeführt hatte.

»Schadenfreude ist ja eine eigentümlich menschliche Lust, die wir mit keinem andern Geschöpf der Welt teilen, und sie ist wohl die häßlichste von allen Leidenschaften. Man kann wirklich oft berechtigten Grund haben, darüber zu trauern, daß man als Mensch geboren wurde und nicht als Hyäne oder Tiger oder irgendein verhältnismäßig gutmütiges Tier zur Welt kam. Wie denken Sie darüber, Herr Architekt?«

Aber der Architekt starrte gekränkt auf seine unbeachteten Zeichnungen nieder und sagte bittersüß: »Sie müssen mir gestatten, Ihnen die Antwort schuldig zu bleiben.«


 << zurück weiter >>