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V

Am ersten Weihnachtstag hatte Enslev infolge von Fieber zu Bett gehen müssen. Der Aufenthalt auf dem offenen Balkon an jenem Abend, als er zu der Menge sprach, hatte ihm eine starke Erkältung zugezogen, und Professor Bendix fand hierin einen begründeten Vorwand, um die verabredete Operation aufzuschieben. Aber am Neujahrsabend fand er Enslev bedenklich entkräftet von dem Krankenlager und dem Fieber, und da sich auch zugleich Zeichen von dem Aufflackern der Schmerzen zeigten, entschloß er sich, einzugreifen, um einen zu qualvollen Abschluß zu verhindern.

Am nächsten Tage wurde Enslev in einem Krankenwagen nach seiner Privatklinik überführt, um operiert zu werden. Der Zustand wurde so weit wie möglich geheimgehalten. Nach der Operation wurde eine beruhigende Erklärung ausgegeben. Aber schon am nächsten Tage wußten alle, daß es der Tod war, und an den folgenden Abenden wanderte die ganze Stadt nach dem Vestre Boulevard, wo die Klinik lag. Bis spät in die Nacht war die Straße schwarz von Menschen, die stumm dastanden und zu den Fenstern hinaufsahen, hinter denen der alte Streiter des Volkes seinen letzten Kampf auskämpfte.

In seinen klaren Augenblicken begriff Enslev selbst, daß es vorbei war. Aber um ihn von Schmerzen zu befreien, ließ ihn der Professor fast immer in einem Morphiumschlummer liegen, währenddessen er jedoch von einem häßlichen Alpdruck gequält wurde. Während seine Umgebung den Eindruck hatte, daß er tief und traumlos schlief, jagte unaufhörlich ein chaotischer Strom von unheimlichen Bildern durch seine Seele, Reihen von tiefen Kellern mit allem möglichen ekelhaften Abfall, endlose Eisenbahnzüge in rasender Fahrt, Dampfschiffe, voll von Menschen mit lächerlichen oder häßlich verzerrten Gesichtszügen.

An dem Abend, ehe er starb, war er einige Stunden bei vollem Bewußtsein und konnte auch ein wenig sprechen. Fräulein Evaldsen war beständig bei ihm. Aber stets fragte er nach Bjerreby, wenn er irgend etwas sagen wollte.

Einmal sagte er zu ihm: »Sie haben mir vor einiger Zeit die Frage gestellt, ob ich zufrieden sei mit dem, was ich ausgerichtet habe. Darauf will ich antworten – und Sie sollen meine Worte beachten! –: ich übergebe mein Lebenswerk ohne Sorge dem Urteil der Geschichte. Daß die neue Volksregierung das Land nicht in ein Reich der Küstergewalt verwandelt hat, das wird die Nachwelt mir einstmals zur Ehre anrechnen.«

Er lag eine Weile still mit geschlossenen Augen da und begann dann von seinen Eltern zu reden, die ebenso wie seine ganze Kindheit in dem alten jütischen Schmiedeheim seine Gedanken offenbar beständig beschäftigten.

»Sie besaßen die große Langmut mit dem Leben. Die habe ich nicht geerbt. Das hat wohl auch sein Gutes gehabt. Nur nicht für mich selbst.«

Nach einer Weile fügte er hinzu, als sei es die Antwort auf eine Frage: »Für Menschen meiner Art gibt es kein Glück. Wir sind so wie die Aussätzigen zur Einsamkeit verurteilt.«

Bjerreby antwortete, er habe doch immer viele ergebene Freunde und treue Anhänger gehabt. Da aber schlug er die Augen auf, mit einem Anflug der alten Wildheit im Blick.

»Ja! Und für jeden aufrichtigen Freund dreißig falsche! ... Daß ich ein klein wenig klüger war als die Menge, das wurde mein Schicksal. Haß und kleinlicher Neid haben mich durch das Leben verfolgt, so treu wie mein eigener Schatten ... haben mir das Leben von Jugend an vergiftet. Das ist die Wahrheit über mein großes Glück!«

Draußen in dem Wartezimmer neben dem Flur saß Zaun. Der treue kleine Mann war während der ganzen Zeit der erste gewesen, der sich hier am Morgen einfand, um zu hören, wie die Nacht vergangen war, und wieder und wieder im Laufe des Tages war er gekommen, um seine Dienste anzubieten. Er hatte noch immer gehofft, daß er zu Enslev hereingerufen würde, um Abschied von dem Manne zu nehmen, der in seinen Augen fast mehr war als ein Mensch. Aber Enslev hatte keine Fremden sehen wollen.

Er saß da und wartete auf die letzten Nachrichten aus dem Krankenzimmer, als einer der Klinikdiener hereinkam und die letzten Abendzeitungen auf den Tisch legte. Trotz seiner tiefen Niedergeschlagenheit durchzuckte ihn sofort eine große Unruhe bei dem Anblick der Zeitungen, und nicht lange widerstand er der Versuchung, hineinzugucken und zu sehen, was für Nachrichten dort standen von dem großen Brand in New York, von dem Musette-Prozeß in Paris, von der Ministerkrisis in Portugal, von dem Riesenbankrott der Londoner Firma Blackburne, von den drei verbrannten Kindern in Frankfurt, von dem Gräberfund in Toulouse, dem Droschkenstreik in Wien, dem verschwundenen englischen Reisenden in Jerusalem, und von den Hunderten von andern Begebenheiten ringsumher in der Welt, die er mit so lebhaftem Interesse verfolgte.

Aber nun kam Professor Bendix, von seinem Assistenten begleitet, herein. Der Professor setzte sich hin, um das Abendbulletin für die Zeitungen zu schreiben.

»Noch immer keine Besserung?« fragte Zaun beklommen.

»Nein – da ist keine Hoffnung.«

Späterhin, in der Nacht, während Fräulein Evaldsen und Bjerreby zusammen mit einer Krankenpflegerin bei Enslev wachten, veränderte sich plötzlich sein Gesicht während des Schlafes. Der wachthabende Arzt wurde sofort geholt. Auch Professor Bendix wurde schnell herbeigerufen. Aber noch ehe er kam, hatte der Todeskampf begonnen. Ohne zum Bewußtsein zu erwachen, lag Enslev in einem Morphiumschlummer, der im Laufe von ein paar Stunden unmerklich in die ewige Ruhe überging.

Es brannte nur eine schwache Flamme über dem Kopfende des Bettes. Auf einem Stuhl am Fußende saß Bjerreby mit schwermütig gesenktem Kopf. Hinter ihm stand Zaun, der die ganze Nacht im Wartezimmer geblieben war und nun Erlaubnis erhalten hatte, hereinzukommen. In seiner jüdischen Scheu vor dem unbedeckten Kopf hielt er den Hut halb vor sein verwachtes und verweintes Gesicht.

Fräulein Evaldsen saß mit geschlossenen Augen da und hielt die Hände im Schoß, wie ein Grabdenkmal, das die Trauer darstellt. Bis zuletzt hatte sie gehofft, daß ihr Freund das Bedürfnis empfinden würde, ihr in einem einsamen Augenblick die Hand zu drücken und der Zeit ihres Glückes zu gedenken. Aber beständig richtete er das Wort an Bjerreby, und seiner Fürsorge übergab er, woran sein Herz noch gierig hing, seinen Ruf und die Unsterblichkeit seines Namens. Er hatte früh ihre Liebe auf dem Altar seines Molochs geopfert. Bis zu dem letzten Augenblick seines Lebens vergaß er sie jetzt über seine Feinde. Aber sie hatte das vorausgesehen! Er hatte immer ein schwaches Gedächtnis für die Hingebung gehabt, die ihm im Leben entgegengebracht wurde, wohingegen jede Widerwärtigkeit, jede geringfügige Kränkung sich mit unauslöschlicher, steinerner Schrift in seine Erinnerung eingrub. Und doch hatte sie ihn lieben müssen! Und sie wußte, daß sie ihn immer lieben müsse. Bis zu ihrer letzten Stunde würde sie vor seinem Andenken knien.

Gegen Morgen, als man die ersten Wagen unten auf der Straße hörte, erklärte Professor Bendix nach einer Untersuchung, daß der Tod eingetreten sei. Kurz darauf glitten auch die Augenlider des Toten in die Höhe.

 

Obwohl Enslevs Tod an vielen Orten im Lande als eine Befreiung empfunden wurde, fühlte man in diesen Tagen, daß er ein König für sein Volk gewesen war. Selbst Pastor Stensballes neues Blatt wagte nicht, sein Andenken auf kränkende Weise anzugreifen. In einem klugen und beherrschten Artikel wurde anerkannt, daß er etwas von der Fähigkeit des großen Staatsmannes besessen hatte, mit der Menschenmasse zu arbeiten, wie ein begnadeter Künstler mit seinem Ton; da es aber nicht Gottes Geist gewesen, der ihn leitete, sondern der Geist des Trotzes und des Ungehorsams, hatte er sein Land in Auflösung und Verfall gebracht und war schließlich von seiner eigenen Partei verlassen worden.

»So starb denn dieser einstmals so mächtige und vergötterte Mann einsam und verlassen. Was sich jetzt um seinen Namen scharen wird, sind nur Schatten.«

Am Beisetzungstage war ganz Kopenhagen auf den Beinen, und Tausende von Menschen folgten seinem Sarge, als er aus seiner Wohnung nach dem Königlichen Reithaus überführt wurde, wo eine große Trauerfeier abgehalten wurde. Voran im Zuge ging das gesamte Ministerium, dann folgten die Mitglieder des Reichstags, unter denen den Zuschauern namentlich Gjärup auffiel, der während der ganzen Zeit das Taschentuch vor den Mund hielt, um zu verbergen, daß er weinte. Alle Straßen, durch die der Leichenzug kam, waren auf Kosten der Stadt ausgeschmückt. Mit vollen Ehren geleitete die Hauptstadt des Landes ihren letzten Häuptling aus einer heroischen Zeit zur Ruhe.

Aber zwei Tage später veranstaltete die Mission als Demonstration ihren ersten großen kirchlichen Aufzug. Er zog singend durch die Stadt, mit Musikkorps, Bannern und kräftigen Aufrufen, und erinnerte viele von den erstaunten Kopenhagenern an die Verfassungszüge der Vergangenheit, als Enslev in den Tagen des Freiheitskampfes mit seinen Scharen nach Söndermarken hinauszog. Jetzt ging Pastor Stensballes äbtlich gekleidete kleine Gestalt an der Spitze des Zuges, und Johannes Gaardbos Kreuzheer mit seinen frischen, jungen Männern und Mädchen beschloß ihn.

In taktfestem Marsch und mit siegessichern Stimmen sangen sie den Schlachtgesang des Heeres:

Im Himmel ist mein Vaterland,
Und Christus ist mein König.

An einer Straßenecke stand A. B. D. Carlsen und betrachtete sie gaffend durch seinen Kneifer. Er war seinerzeit selbst im Zuge dahinmarschiert, das Feuer des Kampfmutes auf den Wangen, wo jetzt der Spiritus glühte. Und er entsann sich eines Wortes von Mads Vestrup aus jener berühmten Sommerversammlung im Striger Walde, wo er als Berichterstatter des »Fünften Juni« zugegen gewesen war:

»Beefsteak auf eine andere Weise!«


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