Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XI

Auf Storeholt hatte Großhändler Söholm jetzt eine Woche lang die Erhöhung der Familie in den Gutsbesitzerstand nach einem vorausgeplanten Programm gefeiert. Ohne Rücksicht auf die eingetretene Familientragödie waren ein paar Mittagsgesellschaften gegeben worden, und der neue Schwiegersohn, der deutsche Ulanenoffizier und Freiherr, hatte durch seine Gegenwart die Wirkung des Skandals mit dem Jägermeister ausgewetzt. Der eingesperrte Ehegatte wurde überhaupt dort im Hause nicht mehr erwähnt. Er wurde bereits als die Familie nicht angehend betrachtet. Frau Wilhelmine war in Kopenhagen zurückgeblieben, um mit ihrem praktischen Sinn auf eine Scheidung hinzuarbeiten, die sie in jeder Beziehung schadlos halten sollte.

Freiherr von Biebermarck war ein schöner Mann, der alle durch seine außerordentliche Höflichkeit einnahm. So erregte es großes Entzücken, als er schon nach Verlauf von ein paar Tagen gelernt hatte, »Danke« und »Gesegnete Mahlzeit« auf Dänisch zu sagen.

Die zu der Mittagsgesellschaft geladenen Gäste waren ungefähr dieselben Bank- und Geschäftsmänner aus Odense, mit denen der Jägermeister zu seinem Unglück in Verbindung gestanden und die er nur zu oft an seinem Tisch gesehen hatte. Es waren lebhafte und den Tafelfreuden nicht abgeneigte Provinzherren, die einander wie die Klöße in einer Suppe glichen. Sie kamen alle mit großen Erwartungen in bezug auf ein üppiges Diner dorthin, zogen aber enttäuscht von dannen. Großhändler Söholm hatte selbst kein Verständnis für die feineren Freuden der Tafel, und hätte er sie auch gehabt, so würde es ihm niemals eingefallen sein, mehr für seine Gäste zu opfern, als sie ihm wert waren. Auch eine Mittagsgesellschaft war für diesen Mann ein Geschäft, das sich bezahlen sollte.

Es gab überhaupt keinen Menschen in der Welt, vor dem sich zu genieren Großhändler Söholm einen Grund fand, und er achtete nur Leute, von denen er mit Bestimmtheit wußte, daß sie reicher waren als er selbst. Im Augenblick rechnete er sich für einen Mann von sechs Millionen, und diese lange Zahl rollte Tag und Nacht auf ihren dicken Nullen durch seine Gedanken. Anfänglich hatte ihm sein billiger Kaffee einen Namen gemacht und ihm den Ruf eines heimischen Handelsgenies nach amerikanischem Guß verschafft. Im übrigen handelte er mit allem, womit man schwindeln konnte, von Stecknadeln an bis zu südamerikanischen Goldminen und Menschenschicksalen en gros.

Der jetzt fünfundsechzigjährige Mann war hier auf Storeholt jeden Morgen um sechs Uhr aufgewesen. In einem alten Überrock aus seinem früheren Dasein, mit Holzschuhen und einer Mütze inspizierte er die Ställe und die verschiedenen Arbeitsplätze. Hinterher saß er dann ein paar Stunden am Schreibtisch, das Telephon am Ohr, nahm die Meldungen des Geschäfts in Kopenhagen in Empfang und expedierte seine Orders an Handelshäuser und Banken auf beiden Seiten des Atlantischen Ozeans. Außerdem hatte er in der Regel ein paarmal täglich Verhandlungen mit den Handwerksmeistern und den Unternehmern, die dem Umbau auf dem Gut vorstanden, und selbst wenn es sich nur um einen hölzernen Schuppen handelte, stieg der alte Raufbold aus der Borgergade sofort in ihm auf. Seine Art als Geschäftsmann war immer dieselbe. Er war kein Menschenkenner und machte keinen Unterschied in bezug auf Personen. Mit Flüchen und kräftigen Schlägen auf den Tisch lärmte er alle Einwendungen nieder und tummelte mit seinem Gegner herum, bis er diesem das äußerste Zugeständnis abgepreßt hatte.

Eines Abends saß er nach Tisch mit dem jungen Brautpaar im Gartensaal, wo er es sich in einem der breiten Lehnstühle, die aus der Zeit des Konferenzrats stammten, bequem gemacht hatte. Ohne Rücksicht auf die Anwesenheit seines freiherrlichen Schwiegersohnes hatte er seine Elefantenfüße auf einen Sessel gelegt, während er eine Zigarre rauchte.

Die beiden Verlobten saßen Hand in Hand auf dem Sofa. Von Herrn Söholms drei Töchtern war Fräulein Konstanze diejenige, die Reichtum und Müßiggang am wenigsten verdorben hatten. Sie war Gefühlsmensch, und ihre Verliebtheit in den stattlichen Offizier war eine aufrichtige Schwärmerei, die nicht nur der Uniform galt. Die schöne junge Dame, die seit ihrer Verlobung die Sitte der vornehmen Welt, zu Tisch in eleganter Gesellschaftstoilette zu erscheinen, angenommen hatte, saß infolge der Kälte, die in dem Zimmer herrschte, in einen großen Pelzkragen gehüllt. Nachdem es Großhändler Söholm klar geworden war, wieviel Feuerung die großen Räume verschlangen, hatte er es für überflüssig erachtet, mehr als einmal täglich die Öfen heizen zu lassen, und niemand wagte Einspruch zu erheben.

Herr Söholm unterhielt seinen Schwiegersohn mit dem Thema, das für ihn das einzige von wirklichem Interesse war, nämlich seine eigene Person und die Entwickelung seines Geschäfts. Gleich andern eingebildeten Genies war er ganz erfüllt von seiner eigenen Größe, betrachtete sein Leben als die Verwirklichung des Märchens von dem armen Jungen und der Fee des Glücks. In seinem Negerdeutsch erzählte er die Geschichte, wie er als neunjähriger Junge sein erstes Geschäft gemacht hatte, indem er die übriggebliebenen Hobelspäne auf den Bauplätzen zusammensammelte und hinterher an die Hausfrauen in der Borgergade, wo seine Eltern wohnten, verkaufte. Und nun saß »der kleine Schweinigel« hier in seinem eigenen Schloß und hatte einen Namen, den jedes Kind im Lande kannte.

Plötzlich hielt er mitten in einem Satz inne und saß eine Weile mit zusammengebissenen Zähnen da und rieb das eine Bein, während er leise jammerte.

Fräulein Konstanze sprang auf. »Bist du krank, Vater?«

Ihr Ausruf rief die Schwester und die alte Tante aus dem Wohnzimmer nebenan herbei. Auch der Freiherr hatte sich erhoben. Herr Söholm war jetzt kreideweiß im Gesicht und wimmerte jämmerlich.

»Bringt mich zu Bett! ... Schnell! Ruft Rasmussen!«

Von dem Diener des Hauses gestützt und von dem Schwiegersohn begleitet, wurde er die Treppe zu den Schlafzimmern hinaufgeführt. Unterwegs stöhnte er laut, und plötzlich hallte das ganze Haus wider von tierischem Schmerzgebrüll.

Sofort wurde ein Auto instand gesetzt, um Hilfe zu schaffen, und da Jerve das nächste Dorf war, wo ein Arzt wohnte, wurde Doktor Gaardbo geholt.

Während man auf ihn wartete, saßen die erschreckten Damen in der grellen elektrischen Beleuchtung des Wohnzimmers und zitterten vor Kälte und Unbehagen. Das alte Fräulein Söholm hatte sich in einen großen Schal gehüllt. Mit gespitzten Ohren lauschte sie dem ganz unbeherrschten Jammergeheul des Bruders, das noch immer die Treppe herabtönte. Die Tür des Schlafzimmers da oben stand auf ausdrücklichen Befehl des Alten nach dem Gang hinaus offen. Er wollte, daß alle im Hause hören sollten, wie er leiden mußte.

Freiherr von Biebermarck kam vom Patienten herab und wurde mit besorgten Fragen empfangen. Er bat die Damen, sich doch nicht zu ängstigen. Wahrscheinlich habe das feuchte Herbstwetter im Verein mit der Kälte in den Zimmern einen Anfall von Ischias hervorgerufen, an dem der Schwiegervater ja schon früher gelitten hatte.

Einen Augenblick später kam der Wagen mit Doktor Gaardbo zurück. Der Diener Rasmussen führte ihn gleich ins Schlafzimmer hinauf.

Gaardbo hatte seinen Patienten noch nie gesehen, aber er konnte ihn im voraus nicht leiden auf Grund der Art seiner Geschäfte. Jetzt hatte er außerdem ein bestimmtes Gefühl, daß Herr Söholm, wie so viele kräftige Männer, die nicht daran gewöhnt waren, daß ihnen etwas fehlte, seinen Schmerz in hohem Maße übertrieb. Kaum daß er ihm erlauben wollte, eine ordentliche Untersuchung vorzunehmen. Fortwährend schrie er nach Morphium und erzählte, daß sein Kopenhagener Arzt, als er das letzte Mal krank war, ihm gleich eine Einspritzung gemacht hatte.

Paul Gaardbo war sich schnell darüber klar, daß er es nicht verantworten könne, diesem Menschen zu verhelfen, sich um eine Stunde in der Schule des Leidens zu drücken. Es war gerade eine der Behauptungen, die er in seinem Zeitschriftartikel aufgestellt hatte, daß, wenn die Welt so voll von gewissenlosen und jämmerlichen Personen sei, die Ärzte einen Teil an der Schuld trügen. Indem sie stets bereit waren, allerlei beruhigende und betäubende Mittel zu geben, verschleierten sie die wahre Bedeutung des Lebens und brachten die Menschen um den Anlaß zu einem gesunden und nüchternen Nachdenken; denn dazu war das Krankenzimmer da, und das hatten die meisten nötig.

»Ich will Ihnen empfehlen, eine Tasse warmen Fliedertee mit ein wenig Honig zu nehmen,« sagte er. »Morphium kann ich Ihnen nicht geben, wenigstens vorläufig nicht, und übrigens will ich Ihnen raten, einmal in der Woche einen Fasttag einzuführen. Unsre Stoffwechselorgane bedürfen auch eines Ruhetages.«

Herr Söholm, der bisher den Doktor kaum angesehen hatte, richtete sich bei diesen Worten im Bett auf und glotzte ihn an wie ein Gespenst, das aus dem Fußboden aufgestiegen war.

»Was sagen Sie? ... Wer sind Sie? Wie kommen Sie hierher? Sind Sie ein Arzt?«

»Ich vermute, daß Sie selber nach mir geschickt haben.«

»Sind Sie verrückt, Mensch! Wollen Sie mir keine Einspritzung machen?«

»Nein! Die Verantwortung kann ich nicht übernehmen.«

»Verantwortung? Was ist das für ein Unsinn! Hat man je so was gehört! Wenn ein Mann wie Professor Bender, Königlicher Hofarzt, mir Morphium gegeben hat, dann können Sie – ein Dorfarzt – es doch wohl auch tun.«

Doktor Gaardbo schwieg hierzu.

»Nie im Leben hab ich doch – verdammt und verflucht! – so was gehört! Wollen Sie mir keine Einspritzung machen? ... Dazu werden Sie gezwungen werden, mein guter Mann. Das ist Ihre Pflicht! Ich habe nach Ihnen geschickt, um ärztliche Hilfe von Ihnen zu erlangen, nicht um Ihren Unsinn mit anzuhören. Soll ich vielleicht hier liegen und mich quälen und diese Nacht keinen Schlaf finden?«

»Der schweißtreibende Trank, den ich Ihnen verordnet habe, wird Ihren Schmerz im Laufe der Nacht wohl ein wenig lindern. Im übrigen kann ich Ihnen nur die besten guten Hausmittel: Geduld und Ruhe empfehlen.«

Herr Söholm drückte mit dem Finger auf einen Glockenknopf, der im Bett selbst angebracht war, und so lange läutete er, bis zuerst der Diener, dann der Schwiegersohn und schließlich alle Damen die Treppe hinaufgestürzt kamen.

Als sie alle im Zimmer standen, rief er in heller Wut:

»Seht euch den Mann da an! Er ist entweder betrunken oder verrückt! Und einen solchen Menschen schickt ihr mir auf den Hals!... Hier liege ich und leide ärgere Schmerzen als eine Frau in Kindsnöten, und dann will er mir nicht helfen! ... Aber das sollen Sie bereuen, mein guter Bauerndoktor! Ich verklage Sie bei den Behörden, und Sie können Gift darauf nehmen, daß ich Sie gehörig abstrafen lassen kann! ... Ihr seid alle meine Zeugen, daß dieser Herr sich geweigert hat, seine Pflicht zu tun!«

Doktor Gaardbo verabschiedete sich und ging auf die Tür zu. Beim Anblick seiner Verkrüppelung wichen die entsetzten Damen zur Seite, während Herr von Biebermarck, der nichts verstand, weil sein Schwiegervater Dänisch gesprochen hatte, sich ratlos umsah.

Es wurde sofort zu einem andern Arzt geschickt, der sich als liebenswürdiger Mann erwies, indem er bereitwilligst den Wunsch des Patienten erfüllte und ihm Ruhe verschaffte.

Auf den Morphiumrausch folgte jedoch am nächsten Tage ein recht ernstes Übelbefinden, und mitten in der Nacht war das ganze Haus wieder auf den Beinen, weil Herr Söholm nach einem heftigen Erbrechen einen Ohnmachtsanfall bekommen hatte. Abermals wurde der Arzt geholt, der jetzt ein belebendes Heilmittel gab.

Noch am Vormittag saß Herrn Söholm die Todesangst in den Gliedern, und als er kalten Schweiß auf seiner Stirn fühlte, ließ er dem Pfarrer einen Wagen schicken, denn er wollte das Abendmahl nehmen.

Erst als der Wagen gefahren war, erfuhren die Damen von den Dienstboten, daß der Pfarrer Gaardbo hieß und ein Bruder des Kreisarztes sei. Das verursachte große Bestürzung. In einem Kriegsrat, an dem auch Herr von Biebermarck teilnahm, einigte man sich dahin, dem Kranken den Namen zu verschweigen, da er noch immer außer sich vor Wut geriet, sobald der Kreisarzt nur erwähnt wurde.

Als der Pfarrer ins Krankenzimmer trat, fühlte sich Herr Söholm sofort sehr angenehm berührt von dem schönen Mann. Beim Anblick des kleinen silbernen Kelches und des Oblatentellers, die der Pfarrer in einer Handtasche mitbrachte, nahm sein Gesicht einen einfältigen Ausdruck an. Der einzige Zeuge der heiligen Handlung war der Diener Rasmussen, der den Pfarrer hinaufgeführt und den Befehl erhalten hatte, da oben zu bleiben und dem Großhändler zur Hand zu gehen. Er hatte sich am Fußende des Bettes, eine Serviette über dem Arm, aufgestellt, als gelte es eine Anrichtung.

Während der Beichtrede wie auch während des Genusses der Gnadenmittel war Herr Söholm tief ergriffen. Nach der Erteilung der Sündenvergebung drückte er dankbar bewegt dem Pfarrer die Hand.

»Setzen Sie sich, bitte, Herr Pastor!« sagte er darauf. »Es hat mich sehr gefreut, Ihre Bekanntschaft zu machen. Ich weiß nicht, ob Sie vielleicht Forderung auf eine Vergütung stellen können, aber das ist auch einerlei. Ich werde mir auf alle Fälle erlauben, Ihnen eine Summe zu senden. Dagegen haben Sie wohl nichts einzuwenden.«

Hierauf erwiderte Pastor Gaardbo, daß nur Gott Anspruch auf seine Dankbarkeit habe, und daß er jetzt alle seine Gedanken zu einem Gebet zu ihm sammeln müsse.

»Natürlich, Herr Pastor! Aber ich habe Ihnen doch Mühe gemacht, nicht wahr? Über Ihre Rede haben Sie doch auch ein wenig nachdenken müssen. Kurz – Sie haben mir den Trost der Religion geschenkt, und ich möchte gern, daß Sie mir gestatten, Ihnen eine kleine Aufmerksamkeit zu erweisen.«

Der Pfarrer wiederholte – und diesmal mit großer Bestimmtheit –, daß er sich keiner Anerkennung verdient gemacht habe und deswegen auch nichts dafür anzunehmen wünsche.

»Etwas andres ist es, wenn Sie das Bedürfnis empfinden, Gott durch eine Opfergabe zu danken – und das ist ja nur natürlich und anerkennenswert –, daß Sie dann unsre Gemeindearbeit hier im Kirchspiel bedenken wollten, – sie bedarf der Unterstützung sehr. Ich möchte zum Beispiel unsre Armenpflege und unsre Krippen nennen. Es würde überhaupt von großer Bedeutung sein, wenn wir darauf rechnen könnten, daß der neue Besitzer von Storeholt unsrer Arbeit Interesse entgegenbringen und ihr seine Unterstützung zuteil werden lassen wollte.«

Die Unterhaltung hatte hier eine Wendung genommen, die Herrn Söholm nicht gefiel. Er beschränkte sich darauf, für die Aufklärung zu danken, die er in Erinnerung zu halten versprach, worauf er von seiner Krankheit und den Qualen, die er durchgemacht hatte, zu reden begann.

»Während ich dasitze und mich mit meinem Schwiegersohn unterhalte, jagt plötzlich ein rasender Stich durch mein rechtes Bein, – hier an der unteren Seite des Schenkels. Niemand kann sich eine Vorstellung von dem Schmerz machen. Es ist genau so, als wenn ein Blitz in einen Baum niederschlägt und die Rinde an der einen Seite versengt. Das erstemal, als ich die Krankheit hatte, glaubte ich wirklich, die Haut sei mir abgezogen und das Ganze hinge in blutigen Fetzen herunter. Und nun stellen Sie sich vor! Als ich zum Doktor schicke, da weigert sich dieser Kerl von Kreisarzt, mir zu helfen. Sie kennen ihn wohl? Gaardbo heißt er. Ein wahrer Unmensch! Hier liege ich, und da sitzt er und redet von Fliedertee und Geduld und will mir keine Einspritzung machen, weigert sich geradezu, seine Pflicht zu tun. Haben Sie je so was gehört?«

Der Pfarrer wandte seine Augen ab, ohne zu antworten.

»Aber das soll ihm eine teure Geschichte werden, darauf kann er sich verlassen! Sobald ich nach Hause komme, werde ich ihn bei den Behörden verklagen. Ich verlange, daß der Kerl wegen Pflichtversäumnis abgesetzt wird. Es ist ein Skandal, daß solche Art Leute im Amt sitzen. Aber hierzulande ist keine Ordnung und keine Disziplin. Das sollte mal in Deutschland sein! Raus mit dem Kerl! Das sagt mein Schwiegersohn auch.«

Die Farbe auf Johannes' Wangen wechselte ein paarmal. Er hatte schon Miene gemacht, sich zu erheben, und doch blieb er sitzen und starrte zu Boden.

»Herr Söholm!« sagte er endlich. »Wir haben vorhin in unserm Gebet gebetet: ›Vergib uns unsre Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern.‹ Das Versprechen, das Sie Gott hier gegeben haben, können Sie doch nicht schon vergessen haben? Ich versichere Sie, daß Gott es in jedem Fall nicht vergessen hat. Welches Unrecht Ihnen auch angetan sein mag, es ist Ihre Pflicht, zu verzeihen. In einem Augenblick wie diesem dürfen Sie nicht daran denken, einen Menschen ins Unglück zu stürzen.«

Diese priesterliche Ermahnung übte insofern ihre Wirkung auf Herrn Söholm aus, als sein Antlitz gleich wieder denselben frömmelnden und gehorsamen Ausdruck annahm, den es während der Kommunion getragen hatte, aber sobald der Pfarrer schwieg, war er wieder der alte.

»So einer, der sich weigert, einem Kranken und Leidenden zu helfen, ist doch gar kein Mensch, Herr Pastor! Rasmussen erzählt mir auch, daß der Mann wie ein reiner Türke und Heide lebt und nicht mal seine Kinder taufen läßt. Hat man je so was Gräßliches gehört? Wie können Sie doch nur einen solchen Kerl in Schutz nehmen, Herr Pastor?«

»Ich nehme ihn nicht in Schutz, – am allerwenigsten natürlich seine Verirrungen. Ich bitte Sie nur, hauptsächlich um Ihrer selbst willen, den Gedanken an eine Klage aufzugeben. Das Recht der Vergeltung kommt allein Gott zu.«

»Natürlich! Das versteht sich! Aber ich muß doch die Erlaubnis haben, Ihnen zu sagen, Herr Pastor, daß ich sehr erstaunt bin, daß ein Pfarrer in unserer dänischen Volkskirche Fürbitte für einen Mann tut, der seine Kinder ohne die Taufe des Herrn herumlaufen läßt wie Negergören und Hottentotten. Ich will Ihnen ganz offen sagen, Herr Pastor, das hat mich sehr enttäuscht.«

»Er ist mein Bruder,« sagte der Pfarrer ruhig.

»Was sagen Sie da? Ihr ... Nein, hören Sie mal! ... Das ist nicht möglich! Darf ich mir die Frage erlauben, heißen Sie Gaardbo?«

»Ja.«

»Das ist doch des Teufels! Ihr Bruder! Das tut mir wirklich leid für Sie, Herr Pastor! Aber jetzt begreife ich natürlich Ihren Standpunkt besser! Es ist ja nicht mehr als selbstverständlich, daß Sie gern die Hand über einen so nahen Verwandten halten wollen, wenn er auch noch so entartet ist. Aber das verändert ja nichts an der Sache.«

Der Pfarrer erhob sich jetzt, um zu gehen.

Im selben Augenblick fiel es Herrn Söholm ein, daß sich die Lage zu einem profitablen Geschäft ausnutzen ließe. Falls er Pastor Gaardbo den Gefallen tat, die Klage gegen seinen Bruder fallen zu lassen, konnte er die Summe sparen, die er seiner Ansicht nach der Kirche schuldig war. Die Rechnung zwischen ihnen war ausgeglichen. Niemand hatte eine Forderung an ihn zu stellen in Veranlassung dieses Tages.

»Ich bin nicht rachsüchtig. Und wenn Sie meinen, daß es meine Christenpflicht ist, die Klage gegen den Kreisarzt fallen zu lassen, so tue ich das natürlich. Gottes Gebot steht über allem, das ist eine unumstößliche Wahrheit! Und nun sollen Sie Dank haben, Herr Pastor! Ich bewahre Ihre Worte in meinem Herzen. Seien Sie davon überzeugt! Wenn ich das nächste Mal hierher komme, hoffe ich das Vergnügen zu haben, Sie bei einer meiner Mittagsgesellschaften zu sehen.«

Unten in dem Wohnzimmer hatte die Tante und das noch unverlobte Fräulein Cäcilie voll Ungeduld darauf gewartet, daß der Pfarrer herunterkommen würde. Bei seiner Ankunft, als der Wagen vorfuhr, hatten sie jede hinter ihrer Gardine gestanden und hinausgelugt, und sie waren beide angenehm überrascht durch den Anblick des großen, schönen Mannes. Es war dem alten Fräulein außerdem klar geworden, daß sie von einem früheren Besuche her ihn schon kannte. Darauf hatten sich die Damen dahin geeinigt, daß es passend sein würde, ihn, wenn er zurückkam, aufzufordern, hereinzukommen. Es wurde ein Befehl nach der Küche heruntergeschickt, daß man ein Teebrett mit Wein und Kuchen bereithalten solle, und als sie den Pfarrer jetzt die Treppe hinabkommen hörten, ging die Alte hinaus und forderte ihn auf, eine kleine Erfrischung einzunehmen.

Johannes Gaardbo, den der Besuch aus mehreren Gründen verstimmt hatte, lehnte indessen die Einladung ab. Es hatte ihn von vornherein unangenehm berührt, diese Stätte wiederzusehen, die die beschämende Erinnerung an die Verirrung des Sommers bewahrte.

»Aber der Wagen ist noch nicht vorgefahren, Herr Pastor.«

»Das tut nichts, ich ziehe doch vor, zu gehen.«

Er ging durch den Wald nach Hause. Der Himmel war jetzt, um die Mittagsstunde, blau. Fast frühlingsmäßig leuchtete er über den entblätterten Baumkronen. Die winterlich niedrige Sonne schien abendlich zwischen den Stämmen hindurch, die lange Schatten über den roten Laubboden warfen.

Aber der Pfarrer ging in seinen eigenen trüben Gedanken dahin und sah nichts. Er war nicht ganz sicher, ob er recht getan hatte, indem er Großhändler Söholms Klage gegen den Bruder abwandte. Freilich, eine solche Gerichtsverhandlung würde wahrscheinlich dem Mißtrauen der Bevölkerung gegen die ärztliche Wirksamkeit des Bruders neue Nahrung gegeben haben, und die andern Ärzte der Gegend würden wohl verstanden haben, Nutzen daraus zu ziehen. Wie es hieß, hatten sich ein paar von ihnen schon Einpaß im Dorf Jerve selbst verschafft, und es würde sicher für den guten Paul nicht leicht werden, Schmalhans von der Tür zu halten, falls er mit seiner großen Familie gezwungen sein sollte, von dem kleinen Amtsgehalt und den Zinsen des winzigen Kapitals zu leben, das ihm der Vater hinterlassen hatte. Aber vielleicht war eine solche Prüfung, ein verzweifelter Zusammenbruch nötig, um sein Herz zu beugen und ihn wie auch Meta zur Erkenntnis der Wahrheit zu bringen.

Als er nach Hause kam, erfuhr er, daß der Bruder während seiner Abwesenheit dagewesen war. Auf seinem Schreibtisch fand er einen Brief von ihm vor und außerdem einige Kopenhagener Zeitungen.

»Meta ist nun vierundzwanzig Stunden ganz fieberfrei gewesen. Nach einem langen, ruhigen Schlaf erwachte sie heute morgen mit klaren und glücklichen Augen. Ich fand, Du solltest der Erste sein, der das erfuhr. Ich hätte es Dir gerne selbst erzählt, aber ich gucke bald einmal wieder bei Dir ein und hoffe, dann das Glück zu haben, Dich zu treffen.«

In einer Nachschrift stand: »Ich lege ein paar Zeitungsartikel bei, weil es Dich vielleicht interessieren kann, zu sehen, wie verhältnismäßig liebenswürdig ich gestäupt, gehenkt und gevierteilt werde in Anlaß meiner Abhandlung.«

Auf Grund dieser letzten Worte zerriß der Pfarrer den Brief nach dem Lesen und steckte ihn in den Ofen. Die Zeitungen ließ er unberührt liegen und konnte sich auch später nicht entschließen, sie zu öffnen.

Er wußte übrigens sehr wohl, daß mehrere der leitenden Zeitungen des Landes die Anschauungen des Bruders zur Erwägung aufgenommen hatten, aber er verstand das nicht. Es war ihm ein vollständiges Rätsel, wie jemand allen Ernstes es der Mühe wert erachtete, gegen dieses armselige, abgelebte Naturevangelium aufzutreten, in das der Unglaube immer wieder neues Leben einzublasen suchte. Und er nahm Anstoß daran, daß sogar christliche Blätter die Abhandlung mit einem gewissen Respekt besprochen haben sollten.

Wenn nur all dies Zeitungsgefasel dem lieben Paul nicht zu sehr zu Kopf steigen möchte! Leider erinnerte er ja nicht nur im Äußern in beunruhigender Weise an den Oheim Tyge. Sein Selbstgefühl war offenbar ebenso wie sein Eigenwille bedenklich auf dem Wege nach der Grenze, wo der Wahnsinn lauert.


 << zurück weiter >>