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VI

Die Dunkelheit wuchs, und der Regen hielt an. Eines Tages Mitte Dezember fiel der erste Schnee. Er wirbelte von einem rußgeschwärzten Himmel herab wie große Gänsedaunen und schmolz gleich im Schmutz der Straßen. Aber auf den aufgespannten Regenschirmen, auf dem Verdeck der Droschken, auf den Hutkrempen und Stiefelschnauzen blieb der Schnee liegen, und dieser Vorgeschmack des weißen Winters mitten in dem einförmigen Grau des Herbstes versetzte die Leute in Stimmung. Man rief seine Freunde über die Straße laut an und lächelte Menschen zu, die man gar nicht kannte. In der kleinen halben Stunde, die das Schneegestöber währte, entfaltete sich die munterste Fastnachtsfröhlichkeit vom Rathausplatz bis zum Kongens Nytorv.

Mads Vestrup hatte sein Stübchen in der Knabrosträde verlassen, um Fräulein Susse Frederiksen zu besuchen, die nach ihrem Selbstmordversuch noch im Krankenhaus lag. Wie ein wandelnder Schneemann kam er mit seinem schweren Stock in der Hand über den Nytorv und erregte überall Aufsehen.

Der jütische Erweckungsprediger war eine bekannte Figur in den Kopenhagener Straßen geworden. Man hatte dem »Fünften Juni« einräumen müssen, daß er eine Sehenswürdigkeit war. Überall in der Stadt wurde von ihm gesprochen. Auf den Mittagsgesellschaften wurden seine Äußerungen von Leuten verhandelt, die sich sonst nicht mit Religionsfragen beschäftigten und für die deswegen alles, was er sagte, neu und erstaunlich war. Es waren Gerüchte über verschiedene aufsehenerregende Bekehrungen im Umlauf. So hieß es, daß mehrere junge Künstler und Schriftsteller sich von ihm hätten beeinflussen lassen und sich für eine Rückkehr zum Christentum erklärt hätten.

In der »Lichtputzschere« war es wirklich auffallend leer an den Abenden, an denen Mads Vestrup seine Versammlungen abhielt. Sowohl Karl May als Leif Knudsen, Jörgen Berg und Frau Maja fanden sich regelmäßig im »Elysium« ein, wenn er sprach, und Karl May erregte in dieser Zeit Aufsehen auf den belebten Straßen der Stadt, in einem dunkelbraunen Mantel mit Kapuze, die seiner südländischen Gestalt eine beabsichtigte Ähnlichkeit mit einem italienischen Mönch verlieh. An dem großen Ecktisch des Cafés, der dem Künstlerkreis vorbehalten war, saß an diesen Abenden nur der dicke Möller und strich sich schlaff mit der schwammigen Hand über die Napoleonlocke. Der Abfall der Freunde, die ganze entartete Zeit ärgerte ihn, und in seiner Einsamkeit genoß er sich selbst als tragische Gestalt, als letzten Bohême von Kopenhagen.

Ganz unbeeinflußt von Mads Vestrup war jedoch auch er nicht. Späterhin in der Nacht, nachdem das Lokal geschlossen worden war, entwickelte er, die Hand um sein Glas, dem Kellner Hansen und dem andächtigen Pikkolo eine düstere Lebensphilosophie.

»Das Leben ist nur Schmerz, Hansen! Am besten ist es, gar nicht geboren zu werden. Unter Leiden kommen wir zur Welt, und wir sterben unter Leiden. Der Rest ist Schweigen, Hansen!« – –

Mads Vestrup selbst ging während alles dessen mutlos in der winterdunklen Stadt umher, bedrückt von demselben Einsamkeitsgefühl, das in seiner Studentenzeit zwischen all diesem Fremden schon so schwer auf ihm gelastet hatte. Die Sehnsucht nach Hause konnte ihn bisweilen wie eine wirkliche Krankheit überwältigen. Die endlosen Häuserreihen riefen Angstgefühle in ihm wach, der Magen war schlecht und der Schlaf unruhig. Deswegen wurde auch der Ton in seinen Reden und Aufsätzen immer düsterer und feindseliger gegen das ruhelose und aufgescheuchte Großstadtgewimmel, das in seinen Augen das Leben wie einen dummen Karnevalscherz verbummelte. Samuelsens »Gerichtsposaune« nannten die Leute ihn nicht ohne Grund.

Er ließ sich jedoch nicht durch das Aufsehen, das er in der Stadt erregte, und den Zulauf zu seinen Versammlungen täuschen. Nicht um dergleichen Spektakel zu erregen, hatte ihn Gott hierher gesandt. Täglich erhielt er verschrobene Briefe von Leuten, die ihn einen neuen Messias nannten und sich seine Handschrift oder eine Haarlocke ausbaten. Er hatte Besuch von aufgeputzten Damen, die ihn versicherten, daß er sie bekehrt habe, von vor Eitelkeit strotzenden Dichtern, die großmütig erklärten, den lieben Gott in ihrem nächsten Buch wieder in Gnaden aufnehmen zu wollen. Was war mit solchen Menschen anzustellen? Auch Jörgen Berg war ihm eine Enttäuschung geworden. Während sich der verfahrene Komponist einbildete, ein wahrer Christ geworden zu sein, war er neugierig erpicht darauf, was das Publikum über seine Bekehrung sagte und was die Zeitungen über ihn schrieben.

Mads Vestrup war in der Hoffnung hierhergekommen, den einen oder den andern von den Toten in dieser Steinwüste auferwecken zu können, aber es schien ihm manchmal, als predige er sie noch tiefer in die Verderbnis hinein.

Zerstreut ringsumher in der unruhigen Schar der Neugierigen, die zu seinen Versammlungen strömten, weil es im Augenblick Modesache in Kopenhagen geworden war, Samuelsens »Gerichtsposaune« zu hören, saßen doch einige stille Andächtige, die sich stark ergriffen fühlten von dem, was sie hörten. Es waren dies Leute aus verschiedenen Kreisen der Gesellschaft; aber sie gehörten nicht zu denen, die ihm hinterher hysterische Dankschreiben und Mittagseinladungen sandten. Ohne daß er etwas davon wußte, wuchs eine kleine Gemeinde um ihn herum auf. Seine eigenartige, tief persönliche Verkündigung machte ihn für mehr als einen des Kreises zu einem wirklichen Propheten.

Daß aus dieser Veranlassung eine gewisse Unruhe in der Kopenhagener Geistlichkeit entstand, ahnte er ebenfalls nicht. Außer im »Fünften Juni« und in ein paar Schmutzblättern wurde sein Name in der Presse nicht genannt. Aber im Hause des Bischofs war man bedenklich geworden, als man von dieser schismatischen Bewegung hörte, die von einem abgesetzten Pfarrer ausging, und man hatte dort ein paar Versammlungen abgehalten, um darüber zu verhandeln, wie die Kirche nötigenfalls dagegen auftreten solle.

 

Als Mads Vestrup in den großen Krankensaal trat, in dem Susse Frederiksen lag, empfing sie ihn mit einem verlegenen Blick. Die Sängerin hatte zum erstenmal ihr Haar in Locken geordnet und war überhaupt so geputzt, wie es die Krankenhausvorschrift nur gestattete.

An ihrem Bett saß ein Herr, der im selben Augenblick aufstand, um zu gehen. Es war A. B. D.

»Ja, daß wir uns an diesem traurigen Ort treffen sollen!« sagte der Journalist, der merkwürdigerweise ziemlich nüchtern war. »Ich habe endlich Erlaubnis erhalten, unserer gemeinsamen Freundin einige Neuigkeiten abzuzapfen. Es war auch die höchste Zeit. Unsere vierhunderttausend Leser sind nahe daran, uns den Kopf abzureißen, weil wir noch kein persönliches Interview gebracht haben.«

Die Oberschwester des Pavillons, eine große, blonde Dame mit einem vornehmen Wesen, die an einem der andern Betten beschäftigt gewesen war, trat heran und ermahnte ihn zur Ruhe. Er dürfe nicht so laut sprechen.

Er trat zur Seite und machte entschuldigend einen Kratzfuß mit den Bewegungen eines betrunkenen Mannes, die der alte Saufbold auch in nüchternem Zustand beibehielt.

Erst als er gegangen war, näherte sich Mads Vestrup dem Bett und setzte sich.

»Nie hat man doch Ruhe vor diesen gräßlichen Journalisten,« sagte Susse. »Sie sind so zudringlich und fragen einen über alles mögliche aus. Und ich sagte A. B. D. doch, daß er meinetwegen wieder gehen könne, denn es sei meine bestimmte Absicht, nie wieder aufzutreten.«

Obwohl ihr Mads Vestrup anhören konnte, daß sie die Wahrheit nicht sprach, sagte er doch nichts. Er nahm ein Buch, das auf dem Nachttisch lag, und las den Titel: »Angelika mit den Tigeraugen«. Auf dem buntfarbigen Umschlag sah man einen rasenden Mann, im Begriff, einen Revolver auf eine halbnackte Dame abzufeuern.

»Ist das Ihr Buch?«

»Nein, es gehört Assistenzarzt Hvidt. Er hat es mir geliehen. Er sagt, in der Zeitung hätte gestanden, es sei das beste Buch, das überhaupt geschrieben wäre. Es ist auch schrecklich spannend.«

Mads Vestrup legte stumm das Buch wieder hin. Und nun saß er einige Zeit da, die Arme auf den Knien, und sah zu Boden, während seine einzige Äußerung in dem unfreiwilligen, rollenden Halston bestand, der ihm eigen war.

Währenddessen ließ die Oberschwester einen dreiteiligen Bettschirm vor das Bett stellen, in der unverkennbaren Absicht, ihnen Ruhe für ihre Andacht zu schaffen. Diese Fürsorge überraschte Mads Vestrup, weil dies ein ganz anderer Geist war, als er sonst in der Abteilung herrschte. Er hatte wohl früher schon die vornehme, stattliche Dame bemerkt – Fräulein Mohn hieß sie –, aber er hatte nie mit ihr gesprochen, sie sogar absichtlich gemieden, denn sie war eine dieser großen, üppigen Frauen, die ihn an seinen Fall erinnerten und veranlaßten, die Augen niederzuschlagen.

Zu Susse Frederiksens gelindem Schrecken holte er jetzt die kleine Reisebibel aus der Tasche. Es lag ein Zeichen darin, da wo er ihr zuletzt etwas vorgelesen hatte, und er fuhr dann fort, bis er an die Worte kam: »Wer mir folgt, wandelt nicht in der Finsternis.«

Er hatte nie mit ihr über die Ereignisse gesprochen, die mit ihrem Selbstmordversuch in Verbindung standen. Er wurde selbst nicht gern an den Abend erinnert, weil er sich in einem Gefühlszustand befunden hatte, in den er sonst nur in den bösen Tagen geriet, wenn er vor Zorn oder vor Brunst außer sich war. Er wußte in Wirklichkeit nur wenig davon, was sich ereignet hatte, oder welchen Anteil er an ihrer Rettung gehabt. An Stine hatte er nur geschrieben, er sei behilflich gewesen, ein Menschenleben zu retten.

Fräulein Susse hatte natürlich dieselbe Scheu, an jenen Abend und seine Unheimlichkeit erinnert zu werden. Sie sprach nie ein Wort davon. Und doch konnte er merken, daß ihre Gedanken beständig diese Begebenheit umkreisten und sich auf neugierige Weise mit dem Zustand nach dem Tode beschäftigten. Sie hatte ihm die törichtsten Fragen in bezug auf die Seligkeit und das Paradies gestellt und ihm gestanden, daß ihre Eltern, die eine kleine Soldatenkantine in Christianshavn gehabt, sie wie eine Heidin hatten aufwachsen lassen.

Er erzählte ihr nun ein wenig von seiner eignen glücklichen Kindheit und von seiner frommen Mutter; aber obwohl er mit großer Innigkeit sprach, war Fräulein Susse die ganze Zeit zerstreut. Trotz des Bettschirms hatte sie eine freie Aussicht auf die Tür, und sobald die ging, mußte sie absolut nachsehen, wer da kam. Als einmal einer der jungen Ärzte in seinem weißen Kittel eintrat, begrüßte sie ihn lächelnd, und solange er sich im Zimmer aufhielt, war sie so geistesabwesend, daß Mads Vestrup das Hoffnungslose, fortzufahren, einsah. Er steckte die Bibel wieder in die Tasche und sagte sich selbst mit einem Seufzer, daß es ihm wohl auch nicht gelingen würde, diese arme Menschenseele aus dem Schatten des Todes in die Gnadensonne hinüberzuführen; die Hölle ließ ihre einmal gewonnene Beute nicht los!

Als er sich erhob und Susse seine mutlose Miene sah, bereute sie ihre Gleichgültigkeit. Sie ergriff seine Hand und hielt sie fest, bis er ihr versprochen hatte, recht bald wiederzukommen.

Eine Weile, nachdem er gegangen war, kam die Oberschwester, Fräulein Mohn, an das Bett der Sängerin und fragte nach ihrem Befinden, legte die Kopfkissen ein wenig zurück und sagte dann:

»Wenn ich nicht irre, versprachen Sie Pastor Vestrup, nicht mehr aufzutreten?«

»Hat er das gesagt?«

»Nein, aber es schien mir, als ob ich Sie selber es hätte sagen hören, damals, als Pastor Vestrup kam. Zu dem Entschluß beglückwünsche ich Sie. Jetzt möchte ich Sie nur fragen, ob Sie darüber nachgedacht haben, was für eine Beschäftigung Sie ergreifen wollen, wenn Sie nun entlassen werden?«

Fräulein Susse kam in Verlegenheit über die Antwort. Sie war nicht gewohnt, sich Sorgen um den morgigen Tag zu machen.

»Ich darf Ihnen vielleicht eine meiner Freundinnen empfehlen, die eine große Nähstube eingerichtet hat. Dort werden Sie mit lauter guten und rechtschaffenen Menschen zusammenkommen, an deren Bekanntschaft Sie Freude haben werden.«

Fräulein Susse sah nach der Seite hin. Von dieser Zukunft fühlte sie sich keineswegs angezogen. Sie erwiderte, ihre Eltern hätten seinerzeit so viel geopfert, um sie als Künstlerin auszubilden, deswegen wolle sie am liebsten irgendeine Beschäftigung ergreifen, in der sie ihre Singstimme nutzbar machen könne. Übrigens glaube sie auch nicht, daß sie mehr versprochen habe, als nicht mehr im Kostüm aufzutreten.

Fräulein Mohn hatte eine eigene Weise, die Augen zu schließen, wenn ihr etwas mißfiel. Es war, als zöge sie einen unsichtbaren Schleier vor ihr Gesicht.

»Haben Sie immer noch nicht gehört, wer es gewesen ist, der an jenem Abend, als Sie hierher ins Krankenhaus gebracht wurden, Ihnen nachgesprungen ist?« fragte sie, nachdem der Schleier wieder gelüftet war.

»Nee – er hat sich nich gemeldet. Das is ganz schnurrig, denn er würde doch sicher die Rettungsmedaille kriegen. Das sagt A. B. D. auch.«

»Wer?«

»Na! der Herr von der Presse, der erst hier war. Er spricht mit so vielen von denen da im Ministerium.«

»Haben Sie nie an die Möglichkeit gedacht, daß es Pastor Vestrup gewesen sein kann?«

Susse hätte beinahe laut aufgelacht.

»Gott! Der! Wie können Sie doch bloß auf so was kommen, Fräulein?«

»Sie haben mir erzählt – aber dessen erinnern Sie sich vielleicht nicht mehr –, daß Sie an dem Abend bei ihm gewesen waren. Pastor Vestrup war auch, soweit ich mich erinnere, der erste, der hierher ins Krankenhaus zu Ihnen kam, sobald Sie Besuch empfangen durften.«

Susses Gesicht hatte einen Ausdruck angenommen, als ob ihre Gedanken auf der Jagd nach einer flüchtigen Erinnerung seien. Aber sie schüttelte energisch den Kopf.

»Nee – wenn er es gewesen wär, warum sollt er es denn nich sagen? Wozu sollt er es woll geheimhalten?«

Fräulein Mohn sah sie fest an.

»Er könnte ja vielleicht seine Gründe dafür haben.«

»Ja, was sollten das woll für Gründe sein? Es is doch keine Schande, ein Menschenleben zu retten. – Aber is es wirklich nich, das kann ich nich glauben.«

Das klang so zuverlässig, daß Fräulein Mohn unwillkürlich ihren Arm streichelte.

»Nun ja, es ist ja eigentlich auch gleichgültig, wer Ihr Retter ist. Er war ja doch nur das Werkzeug einer höheren Macht.«

»Ja,« sagte Fräulein Susse und sah mit einem forschenden und verlegenen Blick zu ihr auf.

Im selben Augenblick vernahmen sie die Stimme des Oberarztes draußen auf dem Gang. Die Tür ging auf, und sein Kopf wurde sichtbar.

»Hier ist wohl nichts von Bedeutung?« fragte er Fräulein Mohn. »Ja, dann komme ich morgen wieder.«

Professor Mundt war ein sehr beschäftigter Mann. Außer seinem Hospitaldienst hatte er eine ausgedehnte Privatpraxis zu besorgen. Er war der Vetter des bekannten großen und schönen Hofpredigers, dem er auch in bezug auf Gestalt und würdige Eleganz glich. Wie der Pfarrer hatte auch er seine Kundschaft in den reichsten Häusern der Stadt, wo er ein Laienbeichtvater für die nervösen Damen der Familien war. Bald saß er als Tröster an dem Lehnstuhl einer melancholischen Etatsrätin; bald unternahm er mit Zartgefühl die Untersuchung an einer allzufetten und hysterischen Großhändlersgattin; bald stand er an einem Totenbett und drückte den Hinterbliebenen teilnehmend die Hand nach dem besten geistlichen Muster. Und so wie sein Vetter, der Hofprediger, beschloß er in der Regel seinen langen und einbringenden Arbeitstag, indem er zu einer Mittagsgesellschaft fuhr, oder er zeigte sich in einem der Theater in Begleitung seiner schönen Gattin, die er jedes Jahr dichter und dichter mit Diamanten übersäte.

In diesem Augenblick befand er sich auf einer verspäteten Visite durch die Abteilungen, flog durch die Gänge mit einem liebenswürdigen Gruß für die Patienten, Volontäre und Krankenpflegerinnen, um nach Verlauf einer Viertelstunde bei Jägermeister Hagen in Pavillon C abzuschließen.

Der verunglückte Politiker und Ehemann war in einer Einzelstube untergebracht, die nach dem Garten des Hospitals hinauslag. Sein Aussehen war sehr verändert. Er ging trübselig umher, gleichsam sein eigenes Gespenst, fahl und mager. Um ihn zu beschäftigen, hatte man ihn dabei angestellt, einen alten Jahrgang des Kopenhagener Adreßbuchs abzuschreiben, eine Arbeit, die ihn weit mehr interessierte, als er eingestehen wollte. Er hatte eine schöne Handschrift und schwelgte in dem Anblick seiner langen Reihen von Namen und Zahlen, die er mit einer Gewissenhaftigkeit und einem Fleiße niedermalte, den er bedauerlicherweise bei keiner früheren Wirksamkeit entwickelt hatte.

Aber sobald er die Feder niederlegte, sank er zusammen und setzte sich hin, um über sein Unglück zu brüten.

»Ich kann nicht begreifen,« sagte er jetzt zu dem Professor, »warum meine Frau nicht kommt. Ich habe doch geschrieben und geschrieben, und sie weiß, daß ich jetzt selbst davon überzeugt bin, daß nicht sie es war, die ich sah. Es war – wie Sie sagen – eine Gesichtsverirrung. Aller Symptome erinnere ich mich jetzt ganz deutlich. Da war das Sausen vor den Ohren, das Herzklopfen und alles andre, was Sie genannt haben. Und ich habe das alles meiner Frau geschrieben. Können Sie sie nicht anklingeln, Herr Professor, und ihr sagen, daß sie nichts mehr von mir zu fürchten braucht? Ich bin jetzt ganz normal. Nicht im geringsten nervös mehr. In der nächsten Woche kann ich nach Hause kommen, nicht wahr?«

»Hoffen wir das!« sagte der Professor. Er saß da und trommelte auf den Tisch mit der einen Hand, an deren Mittelfinger ein Ring mit einem großen blauweißen Stein saß, der bei jeder Bewegung der Hand den Farbenschimmer wechselte wie ein lebendes Menschenauge.

»Ich fürchte fast, daß meine Frau krank geworden ist, da sie gar nicht schreibt. Sie erkältet sich so leicht. Wenn ich auf diesen letzten Brief nichts von ihr höre, dann müssen Sie mich gleich nach Hause kommen lassen, Herr Professor. Denn dann ist da etwas nicht in Ordnung.«

»Sagen Sie mir doch, Herr Jägermeister – haben Sie sich in dem Verhältnis zu Ihrer Frau nichts weiter vorzuwerfen als die Übereilung, die Sie hierher führte, und die Sie also jetzt selbst anerkennen?«

Der Jägermeister sah ängstlich zu ihm hinüber, mit einer unsichern Ahnung im Blick.

»Wie meinen Sie?«

»Haben Sie nicht bei andern Gelegenheiten Ihrer Frau mit körperlichen Mißhandlungen gedroht? Einmal sogar mit einer Hundepeitsche?«

Der Jägermeister schlug beschämt die Augen nieder.

»Dann haben Sie mit meiner Frau gesprochen.«

»Sie können also nicht leugnen, daß Sie schon früher versucht haben, Ihre Frau einzuschüchtern?«

»Darüber möchte ich am liebsten nicht sprechen, Herr Professor. Ich habe meiner Frau geschrieben, daß wir jetzt beide die Vergangenheit vergessen wollen. Daß ich als Politiker fertig bin – darin muß ich mich ja finden, nach dem Skandal, den ich gemacht habe. Mir bleibt ja nun nichts weiter übrig, als für mein Heim zu leben. Ein glückliches Familienleben kann einem über viele Enttäuschungen hinweghelfen.«

»Ja, ja, mein lieber Herr Jägermeister!« sagte der Professor und erhob sich. »Es freut mich, Ihre schöne Abschreibearbeit zu sehen. Daß Sie die jetzt nicht vernachlässigen!«

»Wann meinen Sie denn, daß ich nach Hause kommen darf, Herr Professor? In der nächsten Woche, nicht wahr?«

»Hoffen wir das!«


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