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II

Doktor Gaardbo hatte sich an dem äußersten Ende der Nörrebrogade niedergelassen, dem »Mastdarm Kopenhagens«, wie man die Straße wegen ihres bullernden Wagenverkehrs hinaus zu den Abfallplätzen der Stadt zu nennen pflegte. Er hatte eine kleine Vierzimmer-Wohnung gemietet, die außerdem in einer recht jammervollen Verfassung war, da er sie ohne Frist übernommen hatte.

Als Meta nach Hause kam, merkte sie, daß etwas mit ihm nicht in Ordnung war. Beim Abendbrot war er stumm und rührte die Speisen fast nicht an. Sie begriff nicht, was geschehen sein konnte. Mit Ausnahme einer Nachmittagsstunde, als er in der Stadt gewesen war, um ein Buch von der Bibliothek zu holen, hatte er wie gewöhnlich den ganzen Tag zu Hause gesessen, um auf Patienten zu warten, die nicht kamen.

Nach Tische ging er sofort in sein Zimmer, und sie hörte, wie er sich schwer in seinen Stuhl fallen ließ.

Nach einer Weile ging sie zu ihm hinein. Da saß er am Schreibtisch, die Hände um den Kopf.

»Ist dir etwas Unangenehmes begegnet, Paul?«

»Ja. Aber mache die Tür zu! Es hat keinen Zweck, daß die Kinder es hören.«

»Aber was ist es denn?«

»Du weißt, ich war in der Bibliothek, um das Buch zu holen. Als ich über Höjbro ging, begegnete ich Johannes. Er wohnt ja da in der Nähe.«

»So – was sagte er denn?«

»Nichts, du! Er ging vorüber, als sei ich Luft.«

»Und du bist sicher, daß er dich gesehen hat?«

»Es war unmöglich anders. Wir kamen auf demselben Bürgersteig gegangen. Als er mich bemerkte, sah ich auch, daß er schräg über den Fahrweg gehen wollte, aber im selben Augenblick kam eine Straßenbahn über die Brücke. Da ging er an mir vorüber, die Augen auf das Pflaster gesenkt.«

»Ach – pfui!«

»Ich wandte mich um und sagte: ›Guten Tag, Johannes!‹ – Ich weiß nicht, ob er es gehört hat. Jedenfalls ging er weiter.«

»Wie häßlich ist doch so etwas!« sagte Meta.

»Und wenn man dann bedenkt, daß er das selbst Frömmigkeit nennt! Aber nun wissen wir also, was wir von ihm zu erwarten haben. Wir existieren nicht mehr für ihn, und das ist vielleicht auch das beste für beide Teile.«

»Das glaube ich auch ganz bestimmt. Seit du mir das Schreckliche mit Rosalie erzählt hast, habe ich es fast nicht ertragen können, an Johannes zu denken. Ich träume noch des Nachts von ihr. Und jetzt mußt du ihm ihren Brief schicken, Paul. Tue es noch heute abend! Hörst du!«

»Ich weiß nicht recht –«

»Ich sage dir, Paul, du kannst es nicht verantworten, den Brief zu behalten. Hauptsächlich um Johannes' willen. Er hätte längst erfahren müssen, was er auf sein Gewissen geladen hat.«

»Aber wenn es ihn nun tötet?«

»Dann wäre das nur eine gerechte Vergeltung. Das süßeste und fröhlichste junge Mädchen hat er zu Tode gequält. Und jetzt geht er an seinem eigenen Bruder vorüber, ohne ihn kennen zu wollen. Wie nennst du das?«

»Johannes ist ein armer verhexter Mensch. Aber sprechen wir jetzt nicht mehr über ihn. Er ist so, wie er ist, und zu retten ist er nicht.«

Er zog seinen Überzieher an, um sich nach dem kranken Kind eines Arbeitsmannes umzusehen, das augenblicklich sein einziger Patient war.

»Ich werde gleich einen Spaziergang machen,« sagte er. »Erwarte mich nicht zu bald zurück.«

Metas bekümmerte Augen folgten ihm bis an die Tür. Armer Paul! – dachte sie. Sie wußte, daß er hier in Kopenhagen den Verlust des Bruders noch stärker empfand als in Jerve, weil er hier überall an ihr Zusammenleben in der Studentenzeit erinnert wurde, wo sie gemeinsam in der Regenz Eine aus dem Mittelalter stammende Stiftung, Freiwohnungen für Studenten. gewohnt und so unzertrennlich gewesen waren, daß die Kameraden sie die Siamesischen Zwillinge nannten. –

Doktor Gaardbo hatte seiner Frau nicht erzählen wollen, daß er nach »Bethesda« zu gehen beabsichtige, wo während der Fastenzeit jeden Abend große Erbauungsversammlungen unter Pastor Stensballes tatkräftiger Leitung abgehalten wurden. In der Zeitung hatte er gesehen, daß sein Bruder heute abend einer der Redner sein würde. Deswegen wollte er dahin. Obwohl er rechtzeitig kam, war der große Saal bereits überfüllt. Er mußte in eine der Seitengalerien hinaufgehen, wo er im letzten Augenblick einen Sitzplatz auf der hintersten von einigen stufenförmig erhöhten Bankreihen fand. Wenige Augenblicke später war auch der Gang hinter ihm gedrängt voll von Menschen.

Sobald Johannes auf der Rednertribüne erschien, machte sich eine gewisse Unruhe in dieser zusammengepackten Menge bemerkbar, die nichts sehen konnte. Namentlich waren da ein paar ältere Damen, die sich höchst unglücklich hin und her drängten, in der Hoffnung, ein Guckloch zu dem Redner hinab zu finden. Man mußte sie schließlich ermahnen, um Ruhe zu schaffen. Johannes Gaardbo war eigentlich kein beredter Mann. Im Vergleich zu der Gewandtheit, mit der Pastor Stensballe und andre von den bekannten Erweckungspredigern der Stadt mit dem Evangelium auftrumpften, war seine Rede schlicht und einfach. Wenn er trotzdem schon einer der beliebtesten Kanzelredner der Hauptstadt geworden war, namentlich unter den Frauen, so hatte er dies seinem schönen und männlichen Äußern zu verdanken und der ländlichen Treuherzigkeit, die in seinem ganzen Auftreten lag.

Er hatte den Text zu dem 13. Kapitel aus dem Ersten Brief Pauli an die Korinther gewählt, die berühmte Lobpreisung der Liebe: »Und wenn ich weissagen könnte und wüßte alle Geheimnisse und alle Erkenntnis, und hätte allen Glauben, also daß ich Berge versetzte, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts. Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe und ließe meinen Leib brennen, und hätte der Liebe nicht, so wäre es mir nichts nütze. Die Liebe höret nimmer auf, sie verträget alles, sie glaubet alles, sie hoffet alles, sie duldet alles. Nun aber bleibet Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.«

Während die Versammlung in tiefer Stille andächtig seinen Worten lauschte, die in all ihrer Schlichtheit durch die Innigkeit des Vortrags ergriffen, saß sein Bruder oben auf der Galerie und kaute an seinem Bart. Falls es ihm möglich gewesen wäre, hinauszukommen, so hätte er sich entfernt, um nicht in Versuchung zu geraten, über den Saal hinauszurufen: »Hört ihn nicht an! Er ist ein Heuchler!«

Und das war Johannes! Ein Scheinheiliger! ... Aber nein! Das konnte nicht möglich sein! Johannes wußte selber nicht, daß er dort in der Gewalt aller bösen Mächte stand und segnete! Er war ein unzurechnungsfähig Besessener, der nicht mehr den Unterschied zwischen Lüge und Wahrheit kannte und ihn nicht kennen wollte aus Angst, den Höllenbrand in der Seele zu löschen, den er seinen Glauben nannte ...

Nachdem Johannes geredet hatte, erhielten ein paar andere Geistliche das Wort, aber er hörte sie nicht, sah sie nicht einmal. Seine Augen waren ununterbrochen auf den Bruder gerichtet, der auf der ersten Stuhlreihe zwischen einigen Herren und Damen Platz genommen hatte, die ihn alle mit herzlichem Händedruck empfingen. Er sah ihn diesen fremden Menschen brüderlich zulächeln, gewahrte wieder in seinem Gesicht diesen fast verklärten Ausdruck, der einstmals seine eigene Freude gewesen war.

»Werwolf! ... Werwolf, Johannes!« rief er ihm in Gedanken zu.

Pastor Stensballe beschloß die Versammlung mit einem ermahnenden Aufruf. Der Siegesgang des Evangeliums dürfe nicht unterbrochen werden. Er bitte deswegen eindringlich, daß man die verschiedenen Sammlungen der Gemeinde nicht vergessen möge.

»Wir haben noch viele hunderttausend Kronen nötig. Und wir müssen sie haben – und sollten wir sie stehlen!« rief der eifrige kleine Mann munter über die Versammlung hinaus, die mit einem verständnisvollen Lächeln antwortete.

Dann sang man noch ein geistliches Lied, worauf sich der Saal langsam unter Orgelgebraus und dem Rasseln der Geldbüchsen leerte.

Doktor Gaardbo folgte dem Strom hinaus. Als er auf der ersten Stufe der hohen Treppe nach der Straße hinab stand und den mächtigen Wagenpark überblickte, der die Straßen zu beiden Seiten anfüllte, und worunter sich viele vornehme, herrschaftliche Fuhrwerke mit strahlenden Laternen und Dienern in Livree befanden, mußte er an seines Oheims Warnungsruf von dem Reich, der Macht und der Ehre denken, die durch einen Verrat in die machtgierigen Greisenhände der Kirche zurückkehren würden.

Mitten in dem Gedränge auf der Treppe entdeckte er Großhändler Söholm, der an dem Arm seines Dieners mühselig die Stufen herunterstolperte. Der fauststarke Börsenräuber hatte seinen Übermann gefunden. Der Tod hatte ihn wie einen verfallenen Wechsel mit einem sine mora gestempelt. Seine linke Seite war gelähmt, der ganze Mann ein zusammengebrochenes Wrack, das einen doppelt jammervollen Eindruck an der Seite des fetten und lächelnden Dieners machte.

Hinter dem Großhändler erblickte er eine seiner Töchter, Fräulein Cäcilie, die in einer prachtvollen Frühlingstoilette à la Silberfasan eigentümlich von den vielen kirchlich gekleideten Frauen abstach und offenbar nicht geringes Ärgernis unter ihnen erregte. Ihre Anwesenheit erinnerte ihn daran, was er schon in Jerve gehört hatte, daß Johannes eine Art Hauskaplan in dem Söholmschen Millionärheim geworden sei.

Statt direkt nach Hause zu gehen, machte er einen Umweg rund um die Seen. Er wollte Meta nicht wieder mit seiner schlechten Laune quälen.

Es war Mondschein. Ein gefleckter Wolkenhimmel leuchtete silbern über der Stadt. Das Wasser in den Seen war nervös unruhig nach dem Sturm am Tage. Es plätscherte gegen die steinerne Umrandung, und das Licht der Laternen aus den Brücken versenkte sich gleich schimmernden Feuersäulen darin. Wie gut er dieses Bild kannte aus jener Zeit, wo Johannes und er des Abends hier hinausgingen, nachdem sie bei der Petroleumlampe gesessen und sich die Köpfe glühheiß studiert hatten! Mit Sturmesschritten gingen sie um alle drei Seen herum, während sie ein Lied vor sich hinsummten. Es war fast wie ein Märchen, jetzt daran zurückzudenken.

Ganz so wie damals begegnete er mehreren zärtlichen Liebespaaren, aber auch allerlei einsamen Wanderern wie er selber. Und er dachte daran, daß die meisten von ihnen wohl so aussehen könnten, als wenn auch sie hier gingen und über den Verlust eines Bruders oder eines Freundes trauerten, der von dem schwarzen Schlammstrom der Leidenschaft verschlungen oder fortgewirbelt war. – Ach ja! Es brütete zurzeit ein Fluch über der Menschheit, die hektisch blühte wie ein Baum mit einer Krankheit in der Wurzel. Nicht die naturbestimmten Leiden, sondern alle möglichen selbstgeschaffenen Plagen und selbstverschuldeten Sorgen zehrten an ihrer Kraft und machten das Leben für so viele öde.

Als er nach Hause kam, schliefen die Kinder. Auch das Mädchen war zu Bett gegangen. Meta saß allein an ihrer Nähmaschine. Er erzählte, wo er gewesen war, und berichtete auch über seinen Eindruck von der Versammlung. Von Johannes sprach er nur wenig.

»Und ist hier niemand gewesen?« fragte er.

»Nein. Wie ging es denn dem kleinen Mädchen des Arbeiters?«

»Ein wenig besser.«

Er sah sie verstohlen von der Seite an. Meta hatte die Lampe näher gerückt, um besser bei ihrer Arbeit sehen zu können. Das Licht fiel scharf auf ihr Gesicht, und mit Besorgnis gewahrte er, wie all die Unruhe und die Entbehrungen, die sie ihm so gern fernhalten wollte, sie in den letzten Tagen angegriffen hatten. Sicher kehrten ihre Gedanken oft zurück zu ihrem schönen Heim in Jerve, das sie so sehr geliebt. Nie aber sprach sie von ihrem Kummer. Ohne Klage saß sie in diesen fremden, sonnenverlassenen Stuben, zwischen häßlichen, zerstörten Wänden, voller Nagellöcher und Spuren von den Bildern der früheren Bewohner, saß hier mit der Aussicht, daß der Hunger im Laufe von ein paar Monaten Einlaß in ihr Haus gewinnen würde.

Er setzte sich hin und verfiel in Gedanken, die Hand unter der Wange.

»Bethesda!« sagte er, als Meta einen Augenblick ihre Maschine anhielt, um eine Falte zu legen. »Das war ja der Name eines Teiches in Jerusalem. ›Am Schafstor.‹ Entsinnst du dich der Erzählung noch? Von Zeit zu Zeit kam ein Engel aus der Wolke herab und rührte das Wasser an, so daß es heilende Kraft erhielt. Sieht man nicht die ganze Szene leibhaftig vor sich? Ein Gewimmel von Krüppeln und Kranken, die ringsumher am Ufer sitzen und auf die Stunde des Wunders warten. Und alle stürzen sie wie ein Haufen Besessener jedesmal heran, wenn eine neugierige Fischschnauze die Wasserfläche kräuselt. Das ist ein Bild aus der Geschichte der Menschheit durch alle Zeiten. So haben wir Jahrtausende lang dagesessen und nach einer zauberhaften Handreichung in Gefahren und Not ausgespäht, die wir bald von den Geistlichen, bald von der Wissenschaft oder der Gesetzgebung erwarteten. Und trotz aller Enttäuschungen fährt das Volk fort, sich von dem ersten besten Stichling narren zu lassen, der aus dem Schlamm aufsteigt und den Wundermacher spielt.«

Er stand auf, ging hin und schlang den Arm um Meta. »Mütterchen! Ich hätte mich als Zauberer maskieren und Hokuspokus zu den Leuten sagen und sie nasführen sollen. Dann wäre ich so wie Johannes von meinen Zeitgenossen geliebt und nach dem Tode als Wohltäter gepriesen worden. Und du, mein Schatz, ja, wie war es noch? – habe ich dir nicht einmal das berühmte Königreich mit goldenen Bergen versprochen? Das pflegen wir Männer zu tun. Und nun sitzt du Ärmste hier und nähst dir die Augen rot.«

Sie streichelte ihm die Wangen.

»Du hast mehr gehalten, als du versprochen hast. Wie es uns auch ergehen mag, – ich freue mich, daß du so bist, wie du bist.«


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