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Das
ist wohl das herrlichste Gebet, mit welchem wir uns an den lieben Gott wenden können, denn es enthält alle Bitten, die ein Mensch zu seinem leiblichen wie geistigen Besten anheben mag und ist uns überdies von unserm Heilande und Erlöser selbst gelehrt worden. Wie viele Vaterunser die Bauern des Jahres beten, das ist wohl kaum zu zählen, bedenken wir das Morgen-, Mittag- und Abendgebet, dann alle Hochämter und heiligen Messen, wie noch sonstige Gelegenheiten in der Kirche und außerhalb derselben. Dies wäre nun allerdings sehr lobenswert; denn das Vielbeten, wenn dabei die notwendige Arbeit nicht versäumt wird, hat gewiß noch niemanden geschadet; ist ja doch jedes wahrhaftige, aufrichtige Gebet ein Gespräch mit Gott und wird dadurch unser Inneres immer mehr zu Ihm gezogen und mit Ihm vereinigt und wird dem guten Christen nach einem herzlichen Gebete in Freud und Leid immer ganz leicht und froh im Herzen. Dies kann ein jeder an sich selbst beobachten. Nun hat's aber mit dem Vaterunserbeten seine eigene Bewandtnis: der Mund plappert's oft herunter und das Herz ist nicht dabei, worüber uns schon die erste Bitte den deutlichsten Nachweis liefert; denn wenn ich des Jahres über viel hundertmal zu unserm lieben Herrgott sage: »Vater unser, der Du im Himmel bist, geheiliget werde Dein Name« – wenn ich aber zugleich viel hundertmal des Jahres diesen Worten gerad' entgegen handle, nämlich im Fluchen und Schimpfen den Namen Gottes entheilige
und entweihe, so mag es mit der »Vaterunserandacht« nit weit her sein. Und so geht's denn auch mit mancher anderen Bitte, welche das heilige Vaterunser enthält. Sagen wir oft »Dein Wille geschehe« und leben im Unmut über das kleinste Ungemach, das wir zu erleiden haben – so geben wir dadurch wieder kund, daß unser Gebet nur in leeren Worten besteht. Und um das »vergib uns, wie auch wir andern vergeben«, steht es gewaltig schlecht, wenn Haß, Mißgunst, Neid und Zorn uns erfüllen und bei erster Gelegenheit dem Nebenmenschen der Maßkrug an den Kopf geworfen wird! – Tritt man in eine Kirche, wo gerade die ganze Gemeinde den Rosenkranz betet (leider oft nur plappert!), so sollte man meinen, daß etwas im Herzen hängen geblieben wäre von den vielen Vaterunsern, wenn die andächtigen Beter heimgehen. Tritt man aber gleich darauf in einen Bauernhof, so bemerkt man vielmehr, daß das Vaterunser in der Kirche geblieben ist und es der Mesner etwa gar beim Türschluß drin eingesperrt hat; denn von der christlichen Anwendung will sich heraußen nicht viel verspüren lassen. Was auch der liebe gekreuzigte Heiland, der in jeder Bauernstube hängt, alles anhören und ansehen muß, könnte ihn wohl veranlassen, vom Kreuze herabzusteigen und zur Türe hinauszuwandeln, wenn er nicht von Holz wäre. Der hölzerne hört und sieht freilich nichts, aber der lebendige, allwissende Gott sieht allenthalben in eure Herzen hinein, durch und durch, und hört allenthalben, was aus dem Munde herausfährt, der tagtäglich zum mindesten ein halb Dutzend Vaterunser spricht! Bei dieser Gelegenheit verweisen wir auf den Buchstaben C, wo wir so beiläufig das Christentum einer Gemeinde geschildert haben und dabei andeuten wollten, daß nur der lebendige Glaube das wahre Christentum ist; wie denn hier gesagt werden möchte, daß auch nur das Gebet ein wahrhaftes und
lebendig wirkendes ist, wenn der Inhalt desselben nicht bloß über die Lippen geht, sondern im Herzen festgehalten wird, weil es mit dem »Herr, Herr!« rufen allein nicht abgetan ist, wie geschrieben steht. Wäre aber der, zu welchem wir beten, nicht anderen Sinnes als wir, die Betenden, und wäre Er nicht der Allbarmherzige, der mit der menschlichen Schwäche Mitleid hat, so müßte Er oft in dem Kirchenturme den Blitz einschlagen lassen, um den Vaterunserbetern anzudeuten, daß es mit dem Geplapper allein nicht getan ist!
War euch dieses Kapitel gar zu deutlich, so braucht ihr nicht weiter zu lesen; übrigens ist es ohnedies damit zu Ende!