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Vierzehnter Theil
Elfte Rede

Der Wahrheit Abzeichen

Das hab' ich gehört. Zu einer Zeit weilte der Erhabene bei Benāres, am Sehersteine, im Wildparke. Dort nun wandte sich der Erhabene an die Mönche: »Ihr Mönche!« – »Erlauchter!« antworteten da jene Mönche dem Erhabenen aufmerksam. Der Erhabene sprach also:

»Der Vollendete, ihr Mönche, der Heilige, vollkommen Erwachte hat zu Benāres, am Sehersteine, im Wildparke das höchste Reich der Wahrheit dargestellt: und darwiderstellen kann sich kein Asket und kein Priester, kein Gott, kein böser und kein heiliger Geist, noch irgend wer in der Welt; es ist das Anzeigen, Aufweisen, Darlegen, Darstellen, Enthüllen, Entwickeln, Offenbarmachen der vier heiligen Wahrheiten. Welcher vier? Der heiligen Wahrheit vom Leiden, der heiligen Wahrheit von der Leidensentwicklung, der heiligen Wahrheit von der Leidensauflösung, der heiligen Wahrheit von dem zur Leidensauflösung führenden Pfade. Der Vollendete, ihr Mönche, der Heilige, vollkommen Erwachte hat zu Benāres, am Sehersteine, im Wildparke das höchste Reich der Wahrheit dargestellt: und darwiderstellen kann sich kein Asket und kein Priester, kein Gott, kein böser und kein heiliger Geist, noch irgend wer in der Welt; es ist das Anzeigen, Aufweisen, Darlegen, Darstellen, Enthüllen, Entwickeln, Offenbarmachen dieser vier heiligen Wahrheiten.

»Wendet euch, Mönche, an Sāriputto und Moggallāno, haltet euch, Mönche, an Sāriputto und Moggallāno: weise Mönche sind Wohlthäter ihrer Ordensgenossen.

Wie ein Erzeuger, ihr Mönche, ist Sāriputto, wie des Erzeugten Ernährer Moggallāno zu gewahren. Sāriputto, ihr Mönche, führt euch dem Ziele der Hörerschaft zu, Moggallāno bestem Gewinne. Sāriputto, ihr Mönche, ist imstande die vier heiligen Wahrheiten je einzeln anzuzeigen, aufzuweisen, darzulegen, darzustellen, zu enthüllen, zu entwickeln, offenbar zu machen.«

 

Also sprach der Erhabene. Als der Willkommene das gesagt hatte, stand er auf und zog sich in das Wohnhaus zurück.

Da wandte sich denn der ehrwürdige Sāriputto, bald nachdem der Erhabene fortgegangen war, an die Mönche: »Brüder Mönche!« – »Bruder!« antworteten da jene Mönche dem ehrwürdigen Sāriputto aufmerksam. Der ehrwürdige Sāriputto sprach also:

»Der Vollendete, ihr Brüder, der Heilige, vollkommen Erwachte hat zu Benāres, am Sehersteine, im Wildparke das höchste Reich der Wahrheit dargestellt: und darwiderstellen kann sich kein Asket und kein Priester, kein Gott, kein böser und kein heiliger Geist, noch irgend wer in der Welt; es ist das Anzeigen, Aufweisen, Darlegen, Darstellen, Enthüllen, Entwickeln, Offenbarmachen der vier heiligen Wahrheiten. Welcher vier? Der heiligen Wahrheit vom Leiden, der heiligen Wahrheit von der Leidensentwicklung, der heiligen Wahrheit von der Leidensauflösung, der heiligen Wahrheit von dem zur Leidensauflösung führenden Pfade.

»Was ist aber, Brüder, die heilige Wahrheit vom Leiden? Geburt ist Leiden, Alter ist Leiden, Sterben ist Leiden, Kummer, Jammer, Schmerz, Gram und Verzweiflung sind Leiden, was man begehrt nicht erlangen, das ist Leiden, kurz gesagt: die fünf Stücke des Anhangens sind Leiden. – Was ist nun, Brüder, die Geburt? Der jeweiligen Wesen in jeweilig wesender Gattung Geburt, Gebärung, Bildung, Keimung, Empfängniss, das Erscheinen der Theile, das Ergreifen der Gebiete: das nennt man, Brüder, Geburt. Was ist nun, Brüder, das Alter? Der jeweiligen Wesen in jeweilig wesender Gattung altern und abnutzen, gebrechlich, grau und runzelig werden, der Kräfteverfall, das Abreifen der Sinne: das nennt man, Brüder, Alter. Was ist nun, Brüder, das Sterben? Der jeweiligen Wesen in jeweilig wesender Gattung Hinschwund, Auflösung, Zersetzung, Untergang, Todessterben, Zeiterfüllung, kālakiriyā, von kālaṃ haroti die Zeit erfüllen, wörtl. »die Zeit machen«, d. i. sterben (Augenblick des Todes); vergl. das gegenüberstehende kālaṃ gacchati die Zeit erlangen, wörtl. »in die Zeit gehn«, d. i. keimen (Augenblick der Empfängniss): Chāndogyopaniṣat II, 13, 1. das Zerfallen der Theile, das Verwesen der Leiche: das nennt man, Brüder, Sterben. Was ist nun, Brüder, der Kummer? Was da, Brüder, bei solchem und solchem Verluste, den man erfährt, bei solchem und solchem Unglücke, das einen betrifft, Kummer, Kümmerniss, Bekümmerung, innerer Kummer, innere Verkümmerung ist: das nennt man, Brüder, Kummer. Was ist nun, Brüder, der Jammer? Was da, Brüder, bei solchem und solchem Verluste, den man erfährt, bei solchem und solchem Unglücke, das einen betrifft, Klage und Jammer, Beklagen und Bejammern, Wehklage, Wehjammer ist: das nennt man, Brüder, Jammer. Was ist nun, Brüder, der Schmerz? Was da, Brüder, körperlich schmerzhaft, körperlich unangenehm ist, durch körperhafte Berührung schmerzhaft, unangenehm empfunden wird: das nennt man, Brüder, Schmerz. Was ist nun, Brüder, der Gram? Was da, Brüder, geistig schmerzhaft, geistig unangenehm ist, durch gedankenhafte Berührung schmerzhaft, unangenehm empfunden wird: das nennt man, Brüder, Gram. Was ist nun, Brüder, die Verzweiflung? Was da, Brüder, bei solchem und solchem Verluste, den man erfährt, bei solchem und solchem Unglücke, das einen betrifft, Verzagen und Verzweifeln, Verzagtsein und Verzweifeltsein ist: das nennt man, Brüder, Verzweiflung. Was ist nun, Brüder, was man begehrt nicht erlangen für Leiden? Die Wesen, Brüder, der Geburt unterworfen, kommt das Begehren an: ›O dass wir doch nicht der Geburt unterworfen wären, dass uns doch keine Geburt bevorstände!‹; aber das kann man durch Begehren nicht erreichen: das nun eben nicht erlangen, was man begehrt, ist Leiden. Die Wesen, Brüder, dem Alter, dem Sterben, dem Kummer, Jammer, Schmerz, dem Gram, der Verzweiflung unterworfen, kommt das Begehren an: ›O dass wir doch nicht dem Alter, dem Sterben dem Kummer, Jammer, Schmerz, dem Gram, der Verzweiflung unterworfen wären, dass uns doch kein Altern und Sterben, kein Kummer und Jammer und Schmerz, kein Gram und keine Verzweiflung bevorstände!‹; aber das kann man durch Begehren nicht erreichen: das nun eben nicht erlangen, was man b egehrt, ist Leiden. Vergl. Raṭṭhapālo vor König Koravyo, in der 82. Rede; = Theognis v. 727/8. Was sind nun, Brüder, kurz gesagt, die fünf Stücke des Anhangens für Leiden? Es ist da ein Stück Anhangen an der Form, ein Stück Anhangen am Gefühl, ein Stück Anhangen an der Wahrnehmung, ein Stück Anhangen an der Unterscheidung, ein Stück Anhangen am Bewusstsein: das nennt man, Brüder, kurz gesagt, die fünf Stücke des Anhangens als Leiden. – Das heißt man, Brüder, heilige Wahrheit vom Leiden.

»Was ist aber, Brüder, die heilige Wahrheit von der Leidensentwicklung? Es ist dieser Durst, der Wiederdasein säende, gnügensgierverbundene, bald da bald dort sich ergetzende, ist der Geschlechtsdurst, der Daseinsdurst, der Wohlseinsdurst. Das heißt man, Brüder, heilige Wahrheit von der Leidensentwicklung. »Was ist aber, Brüder, die heilige Wahrheit von der Leidensauflösung? Es ist eben dieses Durstes vollkommen restlose Auflösung, ihn abstoßen, austreiben, fällen, vertilgen. Das heißt man, Brüder, heilige Wahrheit von der Leidensauflösung.

»Was ist aber, Brüder, die heilige Wahrheit von dem zur Leidensauflösung führenden Pfade? Dieser heilige achtfaltige Weg ist es, der zur Leidensauflösung führende Pfad, nämlich: rechte Erkenntniss, rechte Gesinnung, rechte Rede, rechtes Handeln, rechtes Wandeln, rechtes Mühn, rechte Einsicht, rechte Einigung. – Was ist nun, Brüder, rechte Erkenntniss? Das Leiden kennen, ihr Brüder, die Entwicklung des Leidens kennen, die Auflösung des Leidens kennen, den zur Auflösung des Leidens führenden Pfad kennen: das nennt man, Brüder, rechte Erkenntniss. Was ist nun, Brüder, rechte Gesinnung? Entsagung sinnen, keinen Groll hegen, keine Wuth hegen: das nennt man, Brüder, rechte Gesinnung. Was ist nun, Brüder, rechte Rede? Lüge vermeiden, Verleumdung vermeiden, barsche Worte vermeiden, Geschwätz vermeiden: das nennt man, Brüder, rechte Rede. Was ist nun, Brüder, rechtes Handeln? Lebendiges umzubringen vermeiden, Nichtgegebenes zu nehmen vermeiden, Ausschweifung zu begehn vermeiden: das nennt man, Brüder, rechtes Handeln. Was ist nun, Brüder, rechtes Wandeln? Da hat, Brüder, der heilige Jünger falschen Wandel verlassen und fristet sein Leben auf rechte Weise: das nennt man, Brüder, rechtes Wandeln. Was ist nun, Brüder, rechtes Mühn? Da weckt, Brüder, der Mönch seinen Willen, dass er unaufgestiegene üble, unheilsame Dinge nicht aufsteigen lasse, er müht sich darum, muthig bestrebt, rüstet das Herz, macht es kampfbereit; weckt seinen Willen, dass er aufgestiegene üble, unheilsame Dinge vertreibe, er müht sich darum, muthig bestrebt, rüstet das Herz, macht es kampfbereit; weckt seinen Willen, dass er unaufgestiegene heilsame Dinge aufsteigen lasse, er müht sich darum, muthig bestrebt, rüstet das Herz, macht es kampfbereit; weckt seinen Willen, dass er aufgestiegene heilsame Dinge sich festigen, nicht lockern, weiterentwickeln, erschließen, entfalten, erfüllen lasse, er müht sich darum, muthig bestrebt, rüstet das Herz, macht es kampfbereit: das nennt man, Brüder, rechtes Mühn. Was ist nun, Brüder, rechte Einsicht ? Da wacht, Brüder, ein Mönch beim Körper über den Körper, unermüdlich, klaren Sinnes, einsichtig, nach Verwindung weltlichen Begehrens und Bekümmerns; wacht bei den Gefühlen über die Gefühle, unermüdlich, klaren Sinnes, einsichtig, nach Verwindung weltlichen Begehrens und Bekümmerns; wacht beim Gemüthe über das Gemüth, unermüdlich, klaren Sinnes, einsichtig, nach Verwindung weltlichen Begehrens und Bekümmerns; wacht bei den Erscheinungen über die Erscheinungen, unermüdlich, klaren Sinnes, einsichtig, nach Verwindung weltlichen Begehrens und Bekümmerns: das nennt man, Brüder, rechte Einsicht. Was ist nun, Brüder, rechte Einigung? Da weilt, Brüder, ein Mönch, gar fern von Begierden, fern von unheilsamen Dingen, in sinnend gedenkender ruhegeborener säliger Heiterkeit, in der Weihe der ersten Schauung. Nach Vollendung des Sinnens und Gedenkens erwirkt er die innere Meeresstille, ajjhattaṃ sampasādanam = nistaraṉgasamudravan (nirvatāsthitadīpavad acalasampūrṇabhāvābhāvavihīnakaivalyajyotir bhavati): Maṇḍalabrāhmaṇopaniṣat II, 3 im Anf.; cf. auch Bd. II, Anmerkung 4. die Einheit des Gemüthes, die von sinnen, von gedenken freie, in der Einigung geborene sälige Heiterkeit, die Weihe der zweiten Schauung. In heiterer Ruhe verweilt er gleichmüthig, einsichtig, klar bewusst, ein Glück empfindet er im Körper, von dem die Heiligen sagen: ›Der gleichmüthig Einsichtige lebt beglückt‹: so erwirkt er die Weihe der dritten Schauung. Nach Verwerfung der Freuden und Leiden, nach Vernichtung des einstigen Frohsinns und Trübsinns erwirkt er die Weihe der leidlosen, freudlosen, gleichmüthig einsichtigen vollkommenen Reine, die vierte Schauung. Das nennt man, Brüder, rechte Einigung. – Das heißt man, Brüder, heilige Wahrheit von dem zur Leidensauflösung führenden Pfade. »Der Vollendete, ihr Brüder, der Heilige, vollkommen Erwachte hat zu Benāres, am Sehersteine, im Wildparke das höchste Reich der Wahrheit dargestellt: und darwiderstellen kann sich kein Asket und kein Priester, kein Gott, kein böser und kein heiliger Geist, noch irgend wer in der Welt; es ist das Anzeigen, Aufweisen, Darlegen, Darstellen, Enthüllen, Entwickeln, Offenbarmachen dieser vier heiligen Wahrheiten.«

Also sprach der ehrwürdige Sāriputto. Zufrieden freuten sich jene Mönche über das Wort des ehrwürdigen Sāriputto. Das Exordium der buddhistischen Lehre, die heilige Wahrheit vom Leiden, S. 546–548 und sonst ausführlich begründet, ist mit anderen Worten als »Heiligthum des Schmerzes« von Goethe das Würdigste genannt worden, als »jene letzte Religion, die aus der Ehrfurcht vor dem, was unter uns ist, entspringt«, Wilhelm Meisters Wanderjahre, 2. Buch, 2. Kap. gegen Ende. Bei uns ist diese erste der heiligen Wahrheiten allerdings nur als Basis rechter Erkenntniss dargestellt, während die vierte ein Zenith erreicht, wo Leiden nicht mehr bestehn kann: »dâ kein leit stat enhât«, wie Eckhart, p. 42, erkannt. – Cf. das Gleichniss vom Pfeilschmidt, in der 101. Rede, S. 23.


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