Fritz Müller-Partenkirchen
München
Fritz Müller-Partenkirchen

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Die Theres

Als die Theres zu uns kam, war sie nicht mehr jung.

»Nein, ich versteh dich nicht,« sagte Tante Pauline kritisch zu unserer Mutter, »wie kann man auch nur eine alte Dienstmagd einstellen!«

»Die bleibt am längsten,« sagte Mutter mit einem Blick auf unser zehnfüßiges Kindergewusel auf dem Stubenboden, »und außerdem scheint sie kinderlieb zu sein.«

Mutter behielt mit beidem recht. So kinderlieb war die alte Theres, daß man oft nicht wußte, wer das größte Kind war: sie oder eins von uns fünfen.

Und bleiben tat sie immerzu, immerzu. Was war das früher für eine Wirtschaft:

»Gnä' Frau, es tut mir leid, aber zum nächsten Ersten –«

»Aber wir haben Sie doch gut behandelt, Fanny?« sagte Mutter erschreckt.

»Dös scho', aber fünf Kinder, es is mir z'viel, gnä' Frau – bis zum nächsten Ersten also – sein S' net bees.«

Und wieder an einem andern Ersten ging die Berta, ging die Marie, ging die Leni, weil ihnen die fünfe zuviel waren – »sein S' net bees, gnä' Frau«.

»Nun, Theres,« sagte Vater einmal herzlich, »Ihnen sind unsre fünfe nicht zu viel, nicht wahr?«

89 »Da müßt'n mir ja die fünf Finger an meiner rechten Hand auch z'viel werd'n, gnä' Herr – na, na, ich werd scho' fertig mit die fünf, gnä' Herr.«

Meinte sie die Finger, meinte sie die Kinder?

»Ich werd' scho' fertig mit die fünf« – den Satz hab ich von ihr gehört, als ich ein kleiner Hosenknirps war. Den hörte ich, da ich zur Schule ging. Den hab ich zum letztenmal gehört, als ich die Universität bezog. Und jedesmal ist mir der Satz in einem neuen Sinne aufgegangen. Erst so, wie ihn die Theres meinte: fertig mit der Arbeit. Dann so, wie ihn Vater meinte: fertig wie ein Kämpfer mit dem Chor der Rache. Denn Chor der Rache nannte uns der Vater in unseren lebendigsten Augenblicken. Und schließlich so, wie er sich für die Theres am Ende ihrer Dienstzeit auswies: fertig durch die fünfe, aufgebraucht, erledigt, unerbittlich abgenutzt und altes Eisen.

Die alte Theres sah es freilich nicht, das alte Eisen, von dem die Kräfte blätterten wie brauner Rost vom letzten Jahr. Die tat noch so, als sei sie junges Eisen, dampfend von der Gießerei gekommen. Um so besser sah es Tante Pauline:

»Nein, ich kann es nicht verstehen,« sagte sie, »wie ihr euch mit der alten Krattlerin herumplagt. Die macht euch dreimal soviel Arbeit, wie sie euch abnimmt. Altes Eisen gehört in das Spital. Ihr habt sie ja vor Jahren schon dort eingekauft.«

Sie unternahm es, es ihr beizubringen. Schonend, wie sie sagte. Dieser Schonung wegen wartete sie, bis die Therese einmal leise jammerte:

»Jesses, mei Fuaß, mei Fuaß!« Dabei langten aber ihre alten dünnen Finger nach der Stirn. 90 Es ist nichts zum Lachen. Kopf und Fuß, das ist bei alten abgewerkelten Leuten dasselbe und mithin vertauschbar.

»Soso, Therese, der Fuß tut Ihnen weh?« sagte Tante Pauline mit einer schleimigen Milde, »da täte ich aber an Ihrer Stelle ins Spital geh'n, wo doch so schön für Sie gesorgt ist.«

Die Theres sah sie an, wie man einen Todfeind ansieht. Fuß und Hirn krampften sich zu einem Abwehrschlag zusammen. Mit dem Fuß stampfte sie auf, und aus dem Hirn sprang die Antwort:

»O mei', Freil'n Bauline, im Spital tut er mir auch weh, mei' Fuaß.«

Das war unanfechtbar. Tante Pauline war geschlagen. Die alte Theres blieb.

»Ist schon recht,« sagte Vater, »ein altes Arbeitspferd soll sterben, wo es ackerte.«

Vater hatte leicht reden: Mutter war's, an der die Arbeit hängen blieb. So viel hat sie sich noch nie geplagt. Ein Stück nach dem andern nahm sie der Theres ab. Heimlich noch dazu. Denn auch darin konnte sie empfindlich sein, die alte Theres:

»Jesses, jesses, jetzt hat scho' jemand anders den Kaffee g'mahlt!« begehrte sie auf.

»Aber Theres, Sie haben uns doch selbst gebeichtet, daß Sie die Gicht im rechten Arm zwickt,« sagte Mutter.

»No, und was is's nacha?« sagte sie beleidigt, »als ob ma mit'm linken Arm net auch mahl'n könnt – überhaupt, ich siech's scho': 'nausteufeln möcht's mi halt schön langsam.«

»Aber Theres, kein Mensch teufelt sie aus dem Haus.«

91 »Aus der Arbeit – mein' ich, aus meiner Arbeit, die wo mir g'hört.«

Es war nicht so leicht mit ihr. Eine Menge Kunstgriffe hat es der Mutter gekostet, so zu tun, als mache die Theres nach wie vor die ganze Arbeit und als schaue Mutter ihr bloß zu.

Gewiß, da war noch Tante Pauline. Die hätte einspringen können. Aber sie ist ihrer Lebtag nur mit spitzig-kritischen Bemerkungen eingesprungen.

»Eine Sünd und Schand ist es, wie ihr die alte ausgefranste Person so weiterpäppelt,« sagte sie und ging empört in ihr hinteres Zimmer, während Mutter die Kartoffeln schälte, die sich den Fingern der alten Theres nicht mehr fügen wollten.

Auch der Vater sah das mit der Sünd und Schande. Aber er ging nicht ins hintere Zimmer, sondern heimlich zur Stellenvermittlerin.

»Na, Theres,« sagte er nach dem Mittagessen mit einem zwangsweisen Anlauf hinter seiner Zeitung, »na, Theres, Sie werden nichts dagegen haben, wenn demnächst jemand zu uns kommt.«

Theres sah ihn mißtrauisch an. Mutter war ehrlich erstaunt: »Aber davon weiß ich ja gar nichts, Mann?«

»Eine entfernte junge Verwandte, weißt du,« sagte Vater schnell und augenzwinkernd, »sehr entfernt in der Tat – und sie möchte ein wenig den Haushalt lernen – ja, den Haushalt lernen – bei der Theres, weißt du.«

»Meinetwegen, wenn's aufpaßt und ord'ntlich is, des junge Flietscherl, und d' Aug'n aufmacht, nacha lass'n S' s' halt komma,« sagte sie und ging hinaus, um den Kaffee zu holen. Das 92 Kaffeeholen morgens, mittags, abends war fast das einzige, was ihr geblieben war.

Hinter ihr blieb ein grenzenloses Staunen der Familie. Vater hatte aus heiler Haut ein Mädchen eingestellt? Ohne Mutter zu befragen, eingestellt? Wenn das nur gut wird. Am schlimmsten aber schien es, daß er Tante Pauline nicht befragt hatte.

»Natürlich,« sagte sie beleidigt, »unsereiner is der reine – is das reine Nix.«

»Stimmt,« sagte Vater ruhig. Und es war meines Wissens das erstemal, daß Vater gegen Tante Pauline grob wurde.

Die sehr entfernte Verwandte trat ein. Wir hatten alle Vater unterschätzt. Es war ein liebes, tüchtiges »Ding«. »Ding« hieß sie von Tante Paulinens Gnaden. Lieb und tüchtig hießen wir sie. Die Theres hieß sie gar nichts. Sie schaute zu, ein wenig gutmütig, ein wenig gnädig, wie der Jungen die Arbeit flink und sauber durch die Finger lief.

»No ja,« brummte sie, »mit der Zeit wird vielleicht doch noch 'was Richtiges aus ihr – übrigens, gnä' Herr, Sie ham uns noch gar net g'sagt, wie daß s' eigentlich heißt.«

»Theres.«

»Ja, wie daß 's heißt, hab ich g'fragt,« wiederholte sie, die Hand am halbertaubten Ohr.

»Theres.«

»Jesses, gnä' Herr, halten S' mich doch net auf in der Arbeit – wie daß s' heißt, die neue, hab' ich g'fragt.«

»Theres,« lächelte der Vater unerschüttert, »genau so wie Sie, Theres.«

93 »Wie ich?« sagte die alte Theres grenzenlos beleidigt, »wie ich?« Den ganzen Tag wiederholte sie diese zwei Einsilber empört, brummend, kopfschüttelnd, schulterzuckend, bis schließlich ein Nicken daraus wurde, ein begönnerndes:

»No ja, schließlich kann der Mensch ja nix dafür, was er für'n Namen hat, und vielleicht wachst's noch 'nein mit der Zeit in ihren Namen.«

In Wirklichkeit brauchte die junge Theres nicht in ihren Namen hineinzuwachsen. Sie war schon alles, was der Name uns versprechen konnte. Sie war so gut und tüchtig, wie die alte Theres war. Damals, als sie und ich bei uns eintraten. Denn wir sind beide gleichzeitig eingetreten, sie mit einem Dienstbuch und ohne viel Geschrei, ich ohne Dienstbuch und mit viel Geschrei, wie Mutter sagt.

Und nun hätte alles gut sein können mit der alten Theres. Sie hätte morgen sterben können oder übermorgen oder in zehn Jahren. Sie wäre in Macht und Herrlichkeit und Ehren gestorben, wie ein braver, alter Ackergaul, der seinem Bauern seinerseits die letzte Ehre antut, in seinem letzten Stündlein aus dem Stall aufs Feld zu trotten und in den Ackerfurchen, die er einmal pflügte, still die Augen zuzumachen.

Aber so ein alter, braver Gaul bekommt oft Mucken. Die alte Theres bekam sie auch. Sie hatte sich in den langen Dienstjahren einen schönen Pfeiler Geld erspart. Der lag auf der Sparkasse. Auf einmal bekam sie es mit der Angst. Sie traute der Sparkasse nicht mehr. Das ganze Geld holte sie ab und verwühlte es in ihrer Altmädchenkammer. So oft jemand von uns an 94 ihrer Kammer vorbeiging, schaute sie ihn mit ihren armen, alten Augen lauernd an: Ob der wohl imstande ist, mein Geld zu stehlen . . .?

Natürlich waren wir nicht beleidigt. Es war ja eine Krankheit. »Krankheit hin, Krankheit her, die alte Person ist ja gemeingefährlich!« sagte Tante Pauline, »man sollte sie mit der Polizei –«

Und da war es, daß mein Vater meines Wissens zum zweiten Male grob zur Tante Pauline wurde.

»Gemeingefährlich?« unterbrach er sie, »sie ist ein Leben lang gemeinnützlich gewesen, die alte Theres, so darf sie ganz am Ende auch ein wenig gemeingefährlich bei uns sein. Wir können das Gemeinnützliche und das Gemeingefährliche vertragen, nur nicht schlechthin das Gemeine, Tante.«

Wir dachten darauf alle: Jetzt geht die Tante vor der Theres. Denn die Tante war reich und wohnte bei uns nur in der Pension. Die Pensionen waren anderwärts zu teuer. Also blieb die Tante.

Hämisch vermerkte sie es, daß es mit der alten Theres immer ärger wurde. Alle Augenblicke kam jemand von uns mit einem Goldstück zwischen Daumen und Zeigefinger gelaufen:

»Da seht, das habe ich hinter der Kommode gefunden. Damit hat uns die Theres wieder auf die Probe stellen wollen, wißt ihr.« Und wir versuchten zu lächeln und übergaben der alten Theres feierlich ihr Goldstück. Aber einmal lachten wir nicht mehr. Als nämlich die junge Theres weinend kam: zwei Goldstücke hätte sie in der Wäsche gefunden, aber die alte Theres sage, sie hätte drei hineingesteckt gehabt. Sie wolle ihr das dritte Goldstück schenken, aber das nächste Mal, wenn 95 die junge Theres wieder Geld nötig habe, solle sie drum bitten und nichts nehmen. Sie, die alte Theres, käme doch auf alle Schliche. Sie sähe alle Menschen durch und durch, je älter sie werde.

An diesem Tage machte der Vater seinen zweiten Ausgang der Theres wegen. Er hatte eine Unterredung mit dem Spitalverwalter. Ob das Schildchen am Eingang mit der Aufschrift »Spital« unbedingt nötig wäre?

Nein, es war nicht unbedingt nötig.

Dann, ob man nicht auf ein paar Wochen lang so tun könnte, als käme die alte Theres auf Besuch zu ihnen!

Ja, das ließe sich wohl machen, meinte der Verwalter lächelnd, sie hätten schon ein paarmal diesen Fall gehabt. Und meistens sei es so gewesen, daß sich nach dem »Besuche« alles von selber eingerenkt hätte.

Blieb noch das Schwerste: die alte Theres zum Besuche zu überreden.

»Hören Sie mal, Theres,« sagte Vater, »Sie haben Ihrer Lebtag keine ordentlichen Ferien gemacht. Ich habe vor der Stadt am Waldrand ein kleines hübsches Zimmerchen für Sie gemietet. Dahin müssen Sie auf einige Zeit in Pension. Der Herr Verwalter wird sich freuen, sagt er.«

Die Theres sah ihn groß an.

»Und ihr, wie wollt ihr denn mit eurer Arbeit fertig werden ohne mich?« sagte sie ein wenig zittrig. Tante Paulines Mund kräuselte sich bösartig. Vater sah es und sah sie mit einem Blicke an, der war der gröbste von allen dreien Malen. Es war die junge Theres, die die Lage 96 rettete. Sie, die so gut an unserm Tisch aß wie die alte Theres, sagte:

»Ja mei', Theres, es wird freilich schwer geh'n ohne Sie. Aber wir verlassen uns halt drauf, daß Sie in Ihren Ferien zwischenhinein ein bissel bei uns nachschau'n und nach dem Rechten seh'n.«

Die Theres fuhr mit dem Vater in die ersten Ferien. Jawohl, fahren tat sie. Sie war noch nie mit einer Kutsche gefahren. Stolz und steif setzte sie sich in den offenen Wagen, der unten wartete, nachdem ihr unser Vater ritterlich den Arm geboten hatte.

»So, Theres, jetzt geht's in die Ferien. Die meinigen werden wohl auch einmal kommen. Dann holen Sie mich im Wagen ab, gelt', Theres?«

Ernsthaft hat die Theres genickt. Ernsthaft hat sie nochmal zu den Fenstern hinaufgeschaut, wo wir in der Brüstung lagen und ihr zuwinkten: »Adiö, Theres, adiö – gute Ferien – auf Wiedersehn – auf Wiedersehn, Theres!«

»Hüh!« machte der Kutscher.

»Halt!« schrie die Theres, »halt!« Der Vater hat uns nachher erzählt, er hätte bei diesem Halt eine Heidenangst vor einer Katastrophe gehabt. Aber die Theres hatte sich nur noch einmal umgedreht und mit der dünn gewordenen Stimme zu der jungen Theres hinaufgerufen, die in der letzten Fensterbrüstung neben Tante Pauline stand:

»Also Theres, machen S' Ihr' Sach' gut, gelt und – und vergessen S' net, daß mir in der nächsten Woch'n ein' neuen Kaffeeseiher brauchen!«

»Nein, nein, Theres, ich will's nicht 97 vergessen!« sagte und winkte die Angeredete folgsam zurück.

Als der Wagen um die Ecke rollte, sagte Tante Pauline: »Eine Sünd' und Schand ist es, was man heutzutag' für G'schichten mit den Dienstboten macht.«

Der alten Theres gefiel es in den Ferien unerwartet gut. Sie war ganz für sich. Sie saß stundenlang auf einer Waldbank hinter der Anstalt und dröselte im Sonnenschein still für sich hin. Die große Müdigkeit war mit einem Male über sie gekommen.

Am Ende der ersten Woche besuchten wir sie. »Wir haben schauen wollen, wie es Ihnen in den Ferien geht, Theres,« sagten wir und strichen leise über ihre alte, kühle Greisenhand.

»Gut,« sagte sie, »gut« und dröselte lächelnd weiter im Sonnenschein. Sie schien zu schlafen. Da haben wir beruhigt gehen wollen. Als aber der Kies knirschte, wurde sie lebendig:

»Und – und hat die Theres einen neuen Kaffeeseiher b'sorgt?« fragte sie langsam.

»Ja, besorgt hat sie ihn schon,« sagte Vater und sah Mutter ermutigend an.

»Ja,« wiederholte Mutter, »aber ganz so gut ist er doch nicht, Theres, als wie die Kaffeeseiher, die Sie uns früher selbst immer gemacht haben.«

Da lächelte die alte Theres so schön, wie ich sie nie lächeln sah, und dröselte mit geschlossenen Augen in die Sonne. Und wir traten auf den Rasen, damit der Kies beim Fortgehen nicht knirschen konnte. Und wir waren gar nicht arg erstaunt, als der Verwalter dem Vater gleich nach unserer Heimkunft telephonisch mitteilte, 98 er habe die alte Theres auf der Waldbank in der Sonne sanft entschlafen vorgefunden. »Mit einem Lächeln auf dem Gesicht,« setzte er durchs Telephon hinzu.

»Dem Lächeln der Unersetzlichkeit,« gab Vater leise durch denselben Draht zurück. 99

 


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