Fritz Müller-Partenkirchen
München
Fritz Müller-Partenkirchen

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Das Tellurium

Das Tellurium ist eine handgetriebene Maschinerie. »Eine durchtriebene!« sagte unser Schulwart. In der Mitte steht eine Kerzenflamme als Sonne. Um sie läuft die Erde, und um die Erde kreist der Mond. Dazu eine Kurbel und Gestänge, das ist alles.

Jede bessere Schule hat ein Tellurium. Jede Schule ist stolz auf ihr Tellurium. In jeder Schule streiten sich der Geographielehrer und der Physiklehrer um das Tellurium.

»Kinder,« sagte unser Geox, »heute kommen wir zum Tellurium. Welzl, hol es!« »Jowohl,« sagte Welzl und rollte donnernd die Wandkarte auf: Die Erde in Merkators Projektion. Der Geox lächelte hohnvoll: »Du hast eine Ahnung von Tellurien! Leschner, beschäme ihn!«

Der Leschner kletterte auf den Wandschrank. Der Globus platschte aufs Katheder. Tinte spritzte. »Rindvieh!« sagte der Geox, »Schwegerl, zeig es dem Kamel im Gangschrank!«

Der Sinn war klar, die Satzbildung mangelhaft. Aber das war gleich. Grammatik war erst in der nächsten Stunde. Der Schwegerl kam nach unendlich langer Zeit vom Gang zurück: »Der Schrank ist zu. Den Schlüssel hat der Herr Physikprofessor. Er sagte, das Tellurium gehöre in die Physik.«

»Hornochs!«

54 Die Satzbildung war klar, der Sinn mangelhaft. »Meinetwegen,« setzte der Geox hinzu, »ich gönn's ihm, das Tellurium. Welzl, die Erdkarte!« »Jawohl,« sagte Welzl und rollte donnernd die Wandkarte nach Merkators Projektion – zusammen. »Rindvieh! Kamel! Hornochs!« faßte der Geox das bisherige Unterrichtsergebnis zusammen.

Das war so erfrischend, daß wir durch die nächste Grammatikstunde ohne Gähnen kamen. Dann war ohnehin Physik.

Die Tür flog auf. Aber niemand kam herein. Es tat einen Bums. Des Schulwarts Stimme wurde hörbar: »Dös Malefizglump, dös öländige, dös miserablige!« Er war mit dem Tellurium angestoßen. Der Mond hatte gescheppert. Das Gestänge, an dem die Erde befestigt war, war krummgebogen.

Er stellte das Tellurium mißgünstig aufs Katheder und wollte gehen. Aber da war der Physiklehrer nachgekommen. »Knörich,« sagte er, »Sie bleiben.« »Entschuldigen S', ich muß dem Herrn Professor Marzell seine Nagetiere für die Botanikstund –« »Erstens gehören die Nagetiere in die Zoologie. Zweitens ist diese erst nachmittags. Drittens rangiert das Tellurium unter allen Umständen vor den Nagetieren. Viertens haben Sie mir beim Tellurium zu assistieren. Verstanden, Knörich!«

»Jawohl,« sagten Knörichs Lippen. Aber seine Augen, störrisch aufs Tellurium geheftet, wiederholten: Dös Malefizglump, dös öländige, dös miserablige!

An der offenen Türe kam der Religionslehrer 55 vorüber. »Aha, Tellurium, Herr Kollege,« lächelte er, »eigentlich gehört es in meine Stunde – nichts für ungut, guten Morgen.«

»Nichts für ungut,« brummte unser Physiklehrer halblaut, »und Galilei, he? und Josua? und Sonne, stehe still im Tale Josaphat, he . . . Knörich, zünden Sie die Sonne an.«

Unsere Augen wurden kullrig: Sollte der Physikprofessor plötzlich irrsinnig –? »Nun, wird's bald – halt, erst die Fensterläden zu!«

Sonne anzünden? Fensterläden zu? Es überlief uns wohlig-gruselig: Es war klar – komplett verrückt – mindestens ein Dutzend Physikstunden würden ausfallen, bis ein anderer Professor als Ersatz –

Knörich hatte die Läden zugemacht. Es wurde düster. Ob die Irrenzellen auch so düster oder nur gepolstert –? Knörich hatte ein Streichholz angestrichen. Es versagte. »Dös Glump!« sagte er, »dös öländige!« »Knörich, ich bitte mir aus –« »No ja, die Zündhölzl heutzutag – so, d' Sonne hätten ma!« Die Kerze in der Mitte des Telluriums brannte.

»Schön, jetzt kurbeln Sie mal –«

Über den alten Schulwart mußte eine Erinnerung gekommen sein, weil er seinen alten Mauskopf so versonnen schüttelte: »Naa, mei Lieba –« »Knörich, ich bitte mir aus –« »Entschuldigen S' gehorsamst, Herr Professor, aber – aber, wenn's nacha net geht –« »Es geht.« »O mei, Herr Professor – Sie san ja erst neu bei uns – aber i – i hab's ja eine Öften scho derlebt mit dem – mit dem Sau-Dullurion –!«

»Erstens heißt es Tellurium, und zweitens: 56 Was haben Sie mit ihm erlebt?« »Daß 's net geht.«

»Es muß gehen, – zwangsläufig. Kurbeln Sie. Die Klasse wartet.«

»Und wenn's dann doch net geht? Dann heißt's: wer ist schuld? Der Knörich natürlich, der hat's verdreht, natürlich.«

»Sie selber sind verdreht. Wenn Sie jetzt nicht kurbeln –«

»Ich – ich – die Hand verstaucht – beim Mangeln – gestern Abend – meine Frau –«

Die Klasse kicherte. Der Physiker wurde ganz Würde. Knörich wurde Luft für ihn. Er überblickte die Klasse. Er deutete auf die Kerze, auf die Erde, auf den Mond, auf das Gestänge, auf das Zahngetriebe, er sagte: »Dies ist ein Tellurium. Ein Tellurium ist ein Teil des Sonnensystems. Das Sonnensystem ist ein Teil des Weltalls. Das Weltall ist – Leschner, warum lachst du?«

»Weil – weil –« »Sprich im ganzen Satz!« »Ich lache, weil der Welzl was gesagt hat.« »Welzl, was hast du gesagt?« »Nix, ich habe nichts gesagt.« »Leschner, was hat der Welzl gesagt?« »Der Welzl hat gesagt: Wenn er's nur endlich amal rumdraahdeln taat, 's Dullurion.«

»Erstens heißt es Tellurium, und zweitens werdet ihr es wohl erwarten können. Also, wenn ich hier jetzt drehe – drehen würde – läuft die Erde um die Sonne und der Mond um die Erde. Für die Mondbewegung ergibt dies, von der Sonne aus betrachtet, Schlangenlinien. Könnt ihr euch das vorstellen?«

»Ja,« sagte der Primus Hausmann. »Nein,« sagte der Welzl.

58 Der Physiklehrer sah den Welzl zornig an: »Entscheidend für den Wert eines Menschen ist die Vorstellungskraft. Wenn ich jetzt drehe, – drehen würde – versteht's ein jeder Schafskopf. Aber darauf kommt's nicht an, sondern – Leschner, warum lachst du wieder?« »Weil – weil ich mir was – was denkt hab'.« – »Soll das deutsch sein?« – »Ich lache, weil ich mir etwas gedacht habe.« – »Was hast du dir gedacht?« – »Ich habe mir gedacht: Wenn er's nur endlich amal rumdraahdeln taat, 's Dullurion.«

Die Klasse grinste. Der Schulwart grinste. Der Professor grinste. Das Tellurium grinste. Aber alle Grinsen – gibt's überhaupt für Grinsen einen Plural – alle vier Grinsen waren grundverschieden.

Im Türspalt erschien der Kopf des Rektors. »Aha, Sie führen das Tellurium vor – schön, Herr Kollege, schön – Anschauung, vor allem Anschauung! – Vorstellungsbilder ohne Anschauung sind Stangen im Nebel – will nicht weiter stören . . .«

Der Professor hatte zu kurbeln begonnen. Aus Ärger, nicht aus Überzeugung. Ein Kurbler – wahrhaftig, die Erde drehte sich ums Licht. Zwei Kurbler – um sie der Mond. Ehrfurchtsvolles Staunen in der Klasse.

»Hätt mir net denkt,« schnupft Knörich, »hätt mir net denkt –«

Hatte das Tellurium nicht geseufzt, geknarrt? Krack – es stand still, stockstill.

Der Professor tat, als wäre es sein Wille gewesen. Er versuchte dazustehn wie Gott, der 59 Sonnen laufen ließ am Finger und sie stillstehn hieß. Sogar Gottes Unerforschlichkeit legte er in seine Mienen. Es wäre noch feierlicher gewesen, als das Kurbeln, wenn der Leschner nicht wieder gelacht hätte. Oder wenn Gott wenigstens nicht gesagt hätte: »Leschner, wenn du jetzt noch einmal lachst . . .« Seine Gottheit war dahin. Zumindest seine unerforschliche Allwissenheit. Denn sonst hätte er im voraus wissen müssen, ob Leschner noch einmal lachen würde oder nicht.

»Hab' ich's net gsagt!« triumphierte Knörich.

Der Professor hätte ihn nicht entfernter ansehen können, wäre er Schulwart auf dem Sirius gewesen. »Hab' ich's net gsagt,« wiederholte der, »koa einzigs Dullurien geht in koaner einzigen Schul, dös is amal so. I bin nur grad froh, daß koaner sagn kann, i bin's gwesen.«

»Nur Ruhe,« sagte der Professor zu uns, »nur Ruhe!« Wir hatten gar nicht gemuckt.

»Es ist übrigens sehr gut, daß es steht. Wir können jetzt bequem aus der Art der Bestrahlung feststellen, welche Jahreszeit die Erde augenblicklich in unseren Breiten hat – kommt heraus, Welzl, – nun?«

»Sonntag.« – »Unglaublich! Leschner?« – »Mitternacht.« – »Hausmann, sag es diesen – diesen –«

»Die durch die Achsenstellung der Erde veranlaßte Ekliptik von dreiundzwanzigeinhalb Grad bedingt bei der augenblicklichen Konstellation des Telluriums in der Gegend nördlich des Wendekreises des Krebses –«

»Krack,« machte das Tellurium. War etwas 60 gebrochen? Oder äußerte es sich nur über das Geschnurr des Hausmann?

»Herr Professor,« schrie der Leschner, »der Mond – der Mond!« – »Was ist damit?« – »Runtergefalln is er! Hinter der Tafel liegt er!«

»A Glump is's,« sagte der Schulwart, »i hab's ja gewußt – dös is net's erstemal, daß der Mond runterfallt – erst vorigs Jahr hab i 'n wieder anleimen müssen mit Gummiarabikum – und d' Erden taugt auch net viel, da wo d' Achsen durchgeht, weil wir vorigs Jahr a Stricknadel abbrochen hamm beim Repariern – und überhaupts dös ganze Dullurium –«

»D' Sonn' tropft!« schrie der Welzl.

Da löschte der Professor die Sonne und gab es auf. »Knörich, tragen Sie das Tellurium hinaus,« sagte er beherrscht.

Wir fühlten, er war traurig. Auf einmal war die Klasse nicht mehr störrisch. Nicht einmal der Welzl, der flüsterte: »Und hat's so gut behandelt, des Luaderl«

Wir machten die Läden auf. Es wurde hell. Der Schulwart kam zurück. Er brachte einen Rektoratsschrieb. Der Professor las ihn. »Die Klasse hat heute nachmittag den Maiausflug,« sagte er, »es ist ihr gestattet, selbst den Lehrer zu erbitten, den sie zur Begleitung –«

»Sie, Herr Professor, bitt' schön,« sagte die Klasse.


Es wurde eine schöne Wanderung hügelauf, hügelab. Die Isar rauschte. Die Sonne schien. Sie tropfte nicht. Gegen Abend zog der Mond 61 herauf. Er war nicht mit Gummiarabikum aufgeklebt und fiel nicht ab. Auch die Erde hielt. –

»Sie achtet offenbar der Stricknadeln nicht, die ihre Achse korrigieren wollen,« sagte der Professor auf dem Heimweg lächelnd und legte seine alte Hand auf junge Schultern.

Wir verstanden es nicht ganz. Aber darauf kam es gar nicht an. Die besten Dinge aus der Schule gehen erst nach Jahren auf.

»Unter uns, Kinder,« hatte er bei der letzten Abendrast geplaudert, »Tellurien sind vorübergehend. Heute kann man sie noch kurbeln. Morgen tun sie einen Knack. Ist doch nichts beständig. Nicht einmal die Sonne. Sie schwingt um einen Stern im Großen Bären. Und dieser wiederum um einen unbekannten Mittelpunkt. Und so fort. Kein Tellurium der Welt kann da Schritt halten. Wir alle schwingen mit. Wir alle rasen durch die Himmelsräume. Kein Mensch weiß: mit welchen Schlangenlinien vor den Augen Gottes. Es ist alles nur ein Gleichnis. Die große Wahrheit können wir noch nicht vertragen. Kleinweis müssen wir sie uns erwandern. Dann und wann verschnaufen wir und machen ein Tellurium. Wir halten's sonst nicht aus. Mit Tellurien ist der große Weg besät. Auf einmal fällt ein Mond herab. Wir leimen. Plötzlich ist es altes Eisen. Und wir damit! – Keine Angst, ihr seid noch jung. Euch erschreckt es nicht, wenn ein Tellurium knackt. Ihr baut euch neue. Ein wenig dauerhafter als das alte, bitt ich mir aus! – Es wird kühl, wir müssen heim . . .«

Das war vor reichlich dreißig Jahren.

Gestern wanderte ich mit meinem Freund und 62 meinen Kindern hügelauf und hügelab. Die Isar rauschte. Die Sonne schien. Gegen Abend zog der Mond herauf.

Wir machten eine letzte Abendrast und einen letzten Plausch.

Beweglich hat der Freund die Zeiten angeklagt. Europa ginge aus dem Leim. –

»Wie das Tellurium in der Schule,« sagte ich, »du weißt doch noch?«

Aber er wußte nichts mehr. Er jammerte.

Die Kinder aber sah ich lächeln.

Da ergrimmte der Freund.

»Bscht,« sagte ich und erzählte ihnen die Geschichte des Telluriums meiner Jugend.

Da nickten sie und sagten: »Und?«

»Und? – und auf einmal fällt ein Mond herab. Wir leimen. Plötzlich ist es altes Eisen. Und wir damit! – Keine Angst, ihr seid jung. Euch erschreckt es nicht, wenn ein Tellurium knackt. Ihr baut euch neue. Ein wenig dauerhafter als das alte, bitt ich mir aus! – Kommt, es wird kühl, wir müssen heim . . .« 63

 


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