Fritz Müller-Partenkirchen
München
Fritz Müller-Partenkirchen

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Die Landsbergerstraßler

Die Landsbergerstraßler sind natürlich in München. Denn nur dort erblühen solche unbekümmerte Wortgebilde. Und ebenso natürlich sind die Landsbergerstraßler trotz ihres Volksschulalters blutig ernst zu nehmen. Denn sie haben die ganze Gegend dort unterjocht.

Zuerst hatten sie sich die Westendstraßler untertan gemacht. Dann die Schießstättstraßler. Worauf ein fürchterliches Ringen mit den vereinigten Theresienwieslern erfolgte, das am Samstag knapp nach dem Mittagessen anhub, sich über das Bavariadenkmal hinzog und am hellen Tage den dortigen Parkwärter überrannte, einen alten, weißschnauzigen Veteran aus dem Siebzigerkrieg.

»Ausg'schaamte Bande, ölöndige, miserablige!« drohte er der Staubwolke mit geschwungener Krücke nach und fügte schmunzelnd hinzu, indem er die Fortsetzung seiner Rede an einen leichtverwundeten Soldaten richtete, der sich auf einer Parkbank sonnte: »Die treib'n's ja stärker als bei Grahwilott – wiss'n S, i hab Grahwilott mitg'macht – und Sie?«

»Rußland,« sagte der Soldat mit einer weitausholenden Bewegung seines gesunden Arms. In das Riesenwort rann die Schlacht von Gravelotte wie ein Tropfen ein, und respektvoll setzte sich der weiße Schnauzbart von Gravelotte neben den 26 Flaumbärtigen, um von einst und jetzt zu planschen.

Unterdessen raste der Kampf der Landsbergerstraßler über die historische Theresienwiese. So erbittert und so achtungslos gegenüber aller Friedenslockung wurde gekämpft, daß zu Hause Mutters ebenso historische Vieruhrbrote an diesem Tage vergeblich auf die Streiter warteten. Erst dicht vor dem Abendessen und vor Vaters Steckendrohung kehrten die Landsbergerstraßler vom Siege dampfend zu den heimatlichen Fluren zurück. Was verschlug es ihrem Hochgefühl, daß die Willkommenkränze fehlten? War doch ihr Machtbereich der größte in der ganzen Stadt geworden. Wenigstens versicherte ein alter, ausgedienter Landsturm, der in die Nichts-als-Lern-Gefilde der Lateinschule eingerückt war, daß zu ihrer Kampfzeit solche Riesenreiche nicht vorhanden waren.

Verbindungen mit dem angrenzenden Großherzogtum der Bayerstraßler wurden angeknüpft. Frühstückssemmeln wurden ausgetauscht, und freundnachbarliche Verträge wurden ernst beredet. Ja, von diplomatischen Gesandtschaften in die fernsten Stadtviertel habe ich reden hören. Ein Rückversicherungsvertrag mit dem Reich jenseits der großen Eisenbahnlinie wurde vorbereitet, und eine hochpolitische Interessensphäre in dem unwirtlichen Vorstadt-Erdteil Giesing wurde begründet.

Große Ereignisse werfen ihre Schatten voraus: Zu derselben Zeit, als die braven Väter der Landsbergerstraßler erst dabei waren, das Weltreich von Berlin bis Bagdad schweißen zu helfen, hatten ihre Söhne das Riesenreich Hirschgarten-Theresienwiese mit der Landsbergerstraße als Wirbelsäule schon 27 errichtet. So festgefügt war dieses Reiches Herrlichkeit, daß sie nach den errungenen Siegen musterhafte Ordnung auf den Handels- und Verkehrswegen hielten, die ihr Gebiet durchquerten. Keine leeren Fässer wurden mehr von den Bierwagen geschmissen, keine Bremse an den schnellen Bäckerwagen von hinten heimtückisch angedreht, keine Milchkarren mehr umgeworfen, auf keine vorübergehenden hohen Personen vom noch höheren vierten Stock herabgespuckt, keine Hunde mehr in den Schwanz gezwickt, um unter den Fenstern unbeliebter Persönlichkeiten Aufmerksamkeit zu erregen und kein Schulmädel, es mochte noch so kichern, am Zopf gezogen. Ja, was der weiße Schnauzbart im Bavariapark nie für möglich gehalten hätte: die Parkwege wurden von den unternehmungslustigsten Jungenfüßen strikte eingehalten und keine Papierfetzen umhergestreut. Man hatte seinen Frieden mit dem Mann von Gravelotte geschlossen und ging mit dem abenteuerlichen Plane um, den Schnauzbärtigen zum heimlichen Kaiser des neuen Weltreiches zu bestellen.

Freilich lag bei so viel Jungenbravheit die Gefahr des Rostens nahe. Schon war der und jener von der alten Garde vor der Zeit in die öden Büffelherden eingeschwenkt, die ihren ganzen Ehrgeiz in blödsinnig guten Zensuren erschöpfen zu müssen glaubten.

Um diesen Alterserscheinungen zu begegnen, wurden alle Mittwoch und Samstag Expeditionen an die Reichsgrenzen unternommen, um in Übungskämpfen mit den dortigen Barbarenstämmen das ruhmreiche Schwert der Landsbergerstraßler scharf und blank zu halten. Allzu blutig 28 wurden diese Kämpfe nicht. Denn im Ernst und auf die Dauer konnte kein noch so wilder Stamm den Landsbergerstraßlern widerstehen. Nicht einmal die halbwilden Daiserstraßler, die ihren Gegner ein für allemal in die Bauchgegend zu boxen pflegten.

Und endlich kam die große Zeit heran, wo es für die Landsbergerstraßler nichts mehr zu unterwerfen gab. Wo sie nur mehr Übungskämpfe unter sich selber abhalten konnten, um mit der Zeit ihrer Väter noch in Fühlung zu bleiben. Ich habe durch die Beziehungen meines Söhnchens als neutraler Militärattaché einem solchen Kampfabschnitt von einer Alleebank aus beigewohnt.

Das Kampfgetöse war nur mäßig, der Kampfausgang der gewohnte: Die Landsbergerstraßler siegten. Man ging ans Einsammeln der Leichen. Zu dem Zwecke fuhr man einen richtigen großen Dienstmannkarren herum, den der Leininger Emil stiften konnte, weil ihn sein Vater, der Dienstmann Leininger, nicht gut in den Kampf nach Polen hatte mitnehmen können.

Nun aber hatte es sich herausgestellt, daß die Leichenzahl in gar keinem Verhältnis zu der Schwere des vorhergegangenen Kampfes stand. So daß man auf den begründeten Verdacht geriet, es stellten sich viele tot, nur um in dem geräumigen Karren bequem herumgefahren zu werden.

Eben war die Sanität mit ihrem Dienstmannskarren bei einem Regungslosen am Wiesenrand.

»Ha,« rief der Leininger Emil, »i glaub allaweil, der stellt si' bloß tot, damit daß 'n mir in mei'm Karr'n spazier'nfahr'n derfet'n.«

»Dös wer'n ma glei ham, ob der tot is oder 29 net,« sagte der Werner Franz und kitzelte den Verdächtigen in der Achselhöhle. Da dieser aber nicht kitzlich war, hielt er die Probe aus und wurde in Ehren verladen. Da der vielbegehrte Sanitätskarren fast voll war, wurde die Totenprobe bei dem Nächsten erheblich schärfer genommen. Man kitzelte ihn mit einem Strohhalm unter der Nase. Der Tote hatte zwar beschlossen, nicht zu nießen und machte zu diesem Zwecke ein blödsinnig krampfhaftes Gesicht, aber der Werner Franz schrie dem, der kitzelte, zu:

»Weiter 'nauf mußt eahm fahrn in der Nasn!«

Das ging über des Toten Kräfte.

»Ha-ha-ha-zii!« nieste er, daß alles krachte.

»Schwindler, ölöndiger!« hieß es empört. »Gell, dös könnt dir so passn, tot im Wagn drinz'liegen – wart, mir wern dir's Totsein scho vertreibn!« Und unbarmherzig wurde er vom Wagen wieder abgeladen und den Gefangenen zugetrieben.

Nachdem das Sanitätsgeschäft erledigt war, wurden die Gefangenen sortiert. Es galt, die verschiedenen Nationen einwandfrei festzustellen.

»Dös is a Russ!« behauptete der Leininger Emil.

»Woher willstn dös wissn?« protestierte der Werner Franz.

»Dös is do net schwer, wo sei Vatter in Schwabing wohnt.« Der Beweisgrund schlug durch.

»Und dem sei' Vatter wohnt in der Orleansstraßn, also is er a Franzos.« Auch dieser Entscheid war zureichend.

Aber bei dem Nächsten standen keine Wohnungsmerkmale zur Verfügung. Die Gefangenenuntersuchungskommission kratzte sich hinter den 30 Jungenohren. »Wie hoaßd?« wurde der Gefangene angefahren. »Salzmann.«

»Hm, Salzmann,« sagte der Leininger Emil, mit dem Finger an der Nase, »Salzmann – Salzgurken – zu den Wildn ghört der, zu die Gurkha.«

Als ich das hörte, kam ich auf meiner Alleebank in ein solches Prusten, daß die Gefangenensortiererei erheblich gestört wurde. Man setzte mich als Militärattaché einer neutralen Macht kurzerhand ab. Was mit vereinfachtem diplomatischem Verfahren so geschah, daß der Leininger Emil sagte:

»Kommts, gehts weg von dem faden Deppn!«

Und am Abend erklärte mir mein Söhnchen, daß ich ihn bei den Landsbergerstraßlern blamiert hätte und daß ich nie mehr zugezogen würde.

Aber einmal bin ich doch noch zugezogen worden.

Das war, als ich an einem Samstagnachmittag über die Theresienwiese nach Hause ging. Es fing schon an dunkel zu werden. Fast zart schwebte der Kranz in der Luft, den die Bavaria nun seit einem halben Hundert Jahren zweifelnd in der Hand hält: Wem geb' ich ihn? Wem könnt' ich ihn wohl geben?

Gedämpftes Schlachtgeschrei kam von dort herüber. Ich ging hin. Wahrhaftig, sie kämpften wieder einmal bis in den Abend hinein. Und mein Söhnchen war auch dabei, und der Leininger Emil, und der Werner Franz, und –

»Entschuldigen Sie,« sagte eine Frauenstimme hinter mir, »möchten Sie mir nicht meinen Buben herausholen?«

Ich sah in ein mütterliches Gesicht, in dem es 31 sonderbar zuckte. »Sind Sie nicht Frau Leininger, die über uns im vierten Stock wohnt?« fragte ich.

»Ja, die bin ich,« sagte sie einfach, und jetzt zuckte auch der Brief in ihrer Hand, »und ich muß jetzt meinen Buben haben – meinen Buben haben, jetzt wo sein Vater tot ist – in Polen ist er gefallen, Herr – da drin steht's.«

Der Brief flackerte nicht mehr so arg in ihrer Hand. Es tat der Dienstmannsfrau Leininger wohl, sich ein weniges auszusprechen, dachte ich. Aber sie sprach sich nicht aus, sondern schwieg und wartete, daß ich ihren Buben aus dem kämpfenden Jungenhaufen holen würde.

Mitten hinein ging ich in den Kampf. Wie ein Schicksal kam ich mir vor, das gradlinig einem Ziele zugeht. Um mich herum kämpften die Landsbergerstraßler wütend weiter. Nur den Werner Franzl hörte ich rufen:

»Schaug, Leininger, da is er ja wieder, der Mensch, der wo neulings auf der Alleebank –«

Aber da hatte ich den Leininger Emil schon an der Hand. Er schien empört, daß ich ihm beim Kampf in die Arme fiel, er machte gar Anstalten, auch gegen mich zu kämpfen –

»Leininger Emil,« sagte ich ernst, »du mußt jetzt aufhören zu kämpfen« – ich wunderte mich, was plötzlich für eine Stille unter den Jungen eintrat, wie sie alle an meinem Munde hingen –, »aufhören zu kämpfen – dein Vater hat auch aufgehört draußen zu kämpfen – komm zu deiner Mutter – sie wartet dort.«

Totenstille. Die Holzschwerter sanken. Sie hatten es alle verstanden, daß der Dienstmann Leininger, dem Leininger Emil sein Vater, 32 gefallen war. Auch die Bavaria drüben hatte es verstanden. In tiefer Trauer stand sie da. Auch ihr zitterte etwas in der Hand: der Kranz: Wem geb' ich ihn? Wem geb' ich jetzt den Kranz?

Willenlos war der Anführer Emil Leininger an meiner Hand über die Wiese zu seiner Mutter gegangen. Er weinte nicht. Auch seine Mutter weinte nicht. Sie nickte mir einen stummen Dank zu. Dann gingen sie fort, Hand in Hand und aufrecht. Im Abenddämmer schien der Junge zu wachsen. War der nicht ein richtiger Mann?

Auch mein Söhnchen hatte mich bei der Hand genommen. Hinter uns kam ein leise flüsternder Heerhaufen, die Landsbergerstraßler. Sie alle sahen jetzt im Dunkel aus wie Männer, wie ernste Männer.

Im weiten Abstand gingen wir hinter Mutter und Sohn her, ein zweites Trauergefolge für den gefallenen Dienstmann in Polen. 33

 


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