Fritz Müller-Partenkirchen
München
Fritz Müller-Partenkirchen

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An der böhmischen Grenz . . .

Unser neuer Deutschlehrer war aus Preußen. Er war für Reformen. Er blätterte im Klassenbuch: »Wie hieß euer letztes Thema?«

»Beharrlichkeit führt zum Ziel,« sagte die Klasse.

»Schön, und vorher?«

»Das Leben ist der Güter höchstes nicht.«

»Hm, und noch früher?«

»Rom ist nicht an einem Tage erbaut worden.«

»Na ja, das übliche – damit hat's bei mir ein Ende.«

»Ein Ende?« dachten wir.

»Also überhaupt kein Deutsch mehr, hurra!« flüsterte mein Nachbar links, der dicke Schwegerl.

»Oder Turnen anstatt Deutsch, famos!« mein Nachbar rechts, der lange Götz.

»Hm, oder Rechnen, pfui Deifi,« sagte ich.

»Übrigens, wie kommt es, daß ihr euch immer solch, na sagen wir klassische Themen ausgesucht habt?«

»Wir? ausgesucht? klassisch? – jetzt, der ist klassisch!« dachten wir.

»Warum, also, Schwegerl, habt ihr ›das Leben ist der Güter höchstes nicht‹ genommen?«

»Weil – weil's von Schiller ist.«

Der Neue lächelte spöttisch: »So, deshalb? und warum ›Beharrlichkeit führt zum Ziel‹, Götz?«

38 »Weil – weil's nicht von Schiller ist.«

»Soll das ein Witz sein, he?«

»Nein, ein Sprichwort.«

Der Neue lachte: »Und warum habt ihr Rom nicht in einem Tage erbaut, Müller?«

»Weil das schon seit fünfzehn Jahren in der Klasse drankommt,« sagte ich. Ich wußte das von meinem großen Bruder.

»Ha, dann wäre es ja hohe Zeit, es wehte einmal ein andrer Wind bei euch in Bayern,« sagte der Neue. »Frei muß der deutsche Aufsatz sein, bei uns in Preußen wählt die Klasse jeweils selbst das Thema.«

Wir staunten.

»Das sollt ihr auch von jetzt ab, wollt ihr?«

Wir waren baff.

»Lämmer, die sich ihre Weide selber wählen, geben die beste Wolle. – Welches Thema schlagt ihr also für den nächsten Aufsatz vor?«

Schweigen in der Klasse. Wenn eine Hürde plötzlich fällt, steht das Lamm verwirrt.

»Nun, Schwegerl, Thema, Thema?« ermunterte der Neue.

Schwegerl schwieg.

»Irgend eines, Schwegerl, du hast volle Freiheit.«

Langgehegte Lämmer, plötzlich freigegeben, pflegen in den Stall zurückzurennen.

»Morgenstund hat Gold im Mund,« sagte der Schwegerl.

»Das hatten wir im letzten Jahr,« sagte ich.

»Es muß kein Sprichwort sein. Auch Gedichte sind mir recht – na, Götz?«

»Es – es braust ein Ruf wie Donnerhall.«

39 »Nicht übel. Aber offiziell. Sonderbar, ich dachte, ihr in Bayern wäret darin Preußen über. Auf den Bergen wohnt die Freiheit. Man kann aus allem einen guten Aufsatz machen. Wenn's nur echt ist. – Müller, ich seh dir's an, du weißt was echtes.«

»Ich hab' einmal auf einer Alm – aber ich weiß nicht, ob es paßt.«

»Nur heraus damit. Almen sind echt.«

»Und – weil es Dialekt ist.«

»Auch aus einem Dialektwort kann man hochdeutsch einen Aufsatz machen – also los, mein Lieber.«

»Und – und – und weil man's eigentlich singen müßte.«

»Also sing es, Müller.«

»An der böhmischen Grenz hat's ein' Fuhrmann verwaaht,
Grad recht is eahm gschehgn, für was fahrt er so staad.«

Die Klasse hielt den Atem an: Wird's ein Donnerwetter geben oder ein Gelächter?

Keins von beiden. Der Neue schien zwar etwas überrascht, bezwang sich aber. »Gut,« sagte er sachlich, »das freie Aufsatzthema also hätten wir – willst du's nochmals wiederholen, Müller.«

»An der böhmischen Grenz hat's ein' Fuhrmann verwaaht,
Grad recht is eahm gschehgn, für was fahrt er so staad.«

Der Neue hatte angestrengt aufgepaßt. An seiner Brille rückte er nervös: »Nun, ich muß sagen, ganz so einfach ist das Thema nicht. 40 Indes, wir wollen ihm zu Leibe rücken. Also wiederhole nochmal, Müller.«

Ich begann zum drittenmal zu singen: »An der böhmischen Grenz – . . .«

»Halt, Müller, also Ort der Handlung: Böhmische Grenze. Die böhmische Grenze ist lang. Nehmt einmal den Atlas. Zeig mir die böhmische Grenze, Schwegerl.«

Schwegerl fuhr die böhmische Grenze mit dem Finger entlang. »Halt, nicht so schnell, Schwegerl. Hm, ja, wieviele Kilometer glaubst du, Schwegerl, daß die ganze böhmische Grenze – wie sagst du, das gehört in die Geographie – ei, münden nicht im deutschen Aufsatz alle Stunden – und an welchem Punkt der Grenze meinst du, Schwegerl, daß sich das Ereignis zugetragen haben könnte?«

Schwegerl wußte es nicht. Götz wußte es auch nicht. »Hm,« sagte der Neue erleichtert, »dann müssen wir mangels genügender Tatsächlichkeit auf dieses Aufsatzthema wohl verzich –«

»In Eisenstein,« fiel ich ein.

»Woher weißt du das?« runzelte mich der Neue an.

»Ich – ich habe einen Vetter,« log ich, »der ist dort zu Hause.«

»Schön, dann können wir zur Handlung selber übergehen. Was also sagst du, habe sich dort zutragen, Müller?«

»Hat's ein' Fuhrmann verwaaht,« sang ich.

»Fuhrmann, gut,« zog's der Neue in die Länge und schaute auf die Uhr, »nun, was für einen Fuhrmann? Was hat er gefahren? Das scheint 42 ihr nicht zu wissen? Dann werden wir, so reizvoll dieses Thema wäre, wohl darauf ver –«

»Alois Kreuzpointner hieß er, und fünfeinhalb Ster Fichtenholz hatt' er geladen,« sagte ich rasch.

Der Neue schaute mich mißtrauisch an: »Woher –?«

»Mein Vetter –«

»Schon gut,« sagte er mißvergnügt, »wir kämen also zum Ereignis selber: Was passierte sotanem Fuhrmann.«

»Hat's ein' Fuhrmann verwaaht.«

»Hochdeutsch, bitte ich mir aus.«

»Hat es einen Fuhrmann verwehet.«

»Gut, nun kommt's drauf an: womit?«

»Mit Schnee,« sagte ich unerbittlich.

»Und wenn's nun Sand gewesen wäre?« stemmte sich der Neue.

»Ausgeschlossen, am einundzwanzigsten Dezember siebzehnhundert.«

»Woher willst du –«

»Mein Vetter, Herr Professor –«

»Schön, schneeverweht also. Nun fragt es sich, mit welchem Ausgang, tödlich oder –«

»Tödlich, Herr Professor,« sagte ich bestimmt, »weil es heißt: Ganz recht is eahm gschehgn.«

»Hochdeutsch, Junge, hochdeutsch.«

»Es ist ihm ganz recht ge–sche–hen –«

»Warum ist ihm ganz recht geschehen?«

»Für was fahrt er so staad.«

»Wie oft soll ich dir noch sagen –«

»Warum ist er so staad ge–fah–ren –«

»Was heißt staad gefahren?«

»Fad.«

»Was heißt fad?«

43 »Loamig, Herr Professor, langweilig.«

»Mit andern Worten, der Dichter dieses Volksliedes glaubt die Berechtigung einer Schneeverwehung mit tödlichem Ausgang moralisch verantworten zu können mit der Art der beruflichen Fortbewegung, die er als eine von mäßiger Eile beflügelte bezeichnen zu müssen vermeint – was willst du, Götz?«

»Zwölfe is's.«

»Das tut nichts zur Sache.«

»Und der Schwegerl schnarcht.«

»Wie kommt der Mensch dazu!«

Götz beugte sich zu mir herüber: »In unsrer Klass' hat's den Schwegerl verwaaht, – Ganz recht is eahm geschehgn, für was fahrt er so staad.«

»Müller, was hat dein Nachbar zu dir gesagt!«

»Das Leben ist der Güter höchstes nicht.«

»Sondern?« sagte der Professor abgelenkt.

»Der freie deutsche Aufsatz.«

Der Professor sah mich durchdringend an: »Müller, das ist eine Frechheit! Und zur Strafe dafür ziehe ich hiermit die Erlaubnis zu einem freien Aufsatz zurück und bestimme das Thema – das Thema –«

In diesem Augenblicke wachte der Schwegerl auf. Verstört sah er sich um.

»Thema?« glaubte er sich gefragt, »Thema?« stotterte er: »Morgenstund hat Gold im Mund.« 44

 


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