Fritz Müller-Partenkirchen
München
Fritz Müller-Partenkirchen

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Schastikum Gummi Elastikum

Es gibt Zauberworte. Die platten Realisten mögen lächeln, wenn man von Zauberworten spricht. Laßt sie lächeln. Denn wir wissen es besser. Freilich geht es mit den Zauberworten, wie mit allen zauberhaften Dingen: Man sieht ihnen ihren Zauber nicht gleich an der Nasenspitze an. Täppischem Zugriff weichen sie aus, kalten Schellfischaugen weisen sie eine zauberlose Schale.

Zum Beispiel:

Schastikum Gummi Elastikum.

Was ist das, Schastikum Gummi Elastikum?

»Blech,« sagen die zünftigen Sprachforscher.

»Schmarrn,« sagen die rechtwinkligen Spießer.

»Eine Viecherei vielleicht, hehe?« meckern die allzeit Lachbereiten, deren höchster Gott der »Mikosch« ist.

Aber es ist kein Blech, kein Schmarrn, keine Viecherei: sondern ein Zauberwort.


Ich hatte einen alten Onkel. Der war Oberbibliothekar an der Königlichen Hof- und Staatsbibliothek. Es war ein gemütlicher, ein stiller Onkel. Nicht nur ein Onkel für den Hausgebrauch. Sondern ein Onkel, zu dem man auch gern kam, wenn einem etwas über die Leber gekrochen war, wenn irgend etwas schief ging, wenn man rechtschaffenen Kummer hatte.

Jeder Neffe hat einmal rechtschaffenen 64 Kummer. Gar in der Schulzeit. Dann ging ich gegen Abend in die Königliche Hof- und Staatsbibliothek und holte meinen Onkel ab. Zwischen »Dunkel und Sixtminet« ging ich dann an seiner Seite die Ludwigsstraße hinauf und – beichtete. Es war gar nicht schwer, diesem Onkel zu beichten. Denn es war keiner von den Onkeln, die einen kreuz und quer ausfrugen und jedes Fältchen Kummer extra ausbügelten. Sondern dieser Onkel holte einem durch sein gütiges Schweigen das Bekenntnis aus der Brust. Und was drinnen blieb, das erriet er. Nur seine alte liebe Hand, die einem so leicht über den Scheitel streichen konnte, verriet es, daß er es erriet.

Einmal, als wir am Kriegsministerium vorüberschritten, hatte ich einen schweren Knabenkummer zu ihm hinübergewälzt. Ein hundert Meter langes Schweigen bis zum Hofgartencafé von Tambosi tat uns beiden gut.

»Siehst du, Fritzl,« sagte er dann beim Ludwigsmonument, »bei solchen Sachen gibt es keinen guten Rat und keinen schlechten Rat. Da kann man sich nur selber helfen. Sich selber, weißt du, mit einem Zauberwort.«

»Mit einem Zauberwort?«

»Mit einem Zauberwort.«

Dann war wieder langes Schweigen.

»Du, Onkel,« sagte ich dann bei der Feldherrnhalle, »wie heißt das Zauberwort?«

»Schastikum Gummi Elastikum.«

»Schast –?«

»Schastikum Gummi Elastikum. Am besten ist es, man stellt sich irgendwo in einen Sonnenstreifen hinein, weißt du, und sagt das Zauberwort«

65 Wieder war ein langes Schweigen bis zur Bayerischen Hypotheken- und Wechselbank.

»Also Onkel, wie? Schastikum Gummi . . . Gummi . . . Was für ein Gummi, Onkel?«

»Schastikum Gummi Elastikum,« sagte er in seiner gleichmäßigen, duldsamen Sprechweise und strich mir übers Haar.

Ich weiß nicht, wie es kam, aber als ich am andern Tag aufwachte, hatte ich den Zauberspruch gar nicht mehr nötig. Der Kummer war von mir gegangen über Nacht. Glatt und sauber hatte er sich abgeschält wie die Haut von einer Zwiebel. Ich überlegte: Gestern Nacht auf dem Heimweg von Onkels Wohnung – Onkel wohnte Löwengrube Nummer sechs – war ich an jeder Straßenecke stehn geblieben und hatte laut und deutlich in die stillen Gassen hineingerufen:

»Schastikum Gummi Elastikum.«

Einmal war ein Gendarm auf mich zugekommen.

»Was sagen Sie da?« hatte er gesagt.

»Schastikum Gummi Elastikum.

»So, so – so, so . . .«

Und heute in der Früh war alles gut. Ich war voller Dankbarkeit. Und daß der Sonnenstreifen, in dem man stehen sollte, nicht immer absolut nötig war, das war auch recht gut so damals, denn es regnete vom Verschwinden meines Kummers weg dreizehn Tage lang.


Später, hinter der Schulzeit, als dann die wirklichen Kummer kamen . . . Merkwürdig, wirkliche Kummer heißen wir sie, weil wir die Kummer aus der Knabenzeit nicht mehr begreifen. Und doch 66 können wir später nie mehr so voll, so herzbrechend schluchzen, wie damals, als wir in den kurzen Hosen steckten. Also, später, da die Kummer für die »reifere Jugend« kamen, als die Sorgengeschwader der Manneszeit vorbeidefilierten, da hab ich oft an jenes Zauberwort meines Onkels gedacht, meines Onkels in der Königlichen Hof- und Staatsbibliothek . . .

Aber nicht wahr, hinter dem zwanzigsten Jahr stellt man sich in keinen breiten Sonnenstreifen mehr und sagt Schastikum Gummi Elastikum? Da ist man viel zu gescheit geworden dazu, nicht wahr? Leider, leider war ich auch so gescheit damals, so gescheit . . .

Dann aber kam einmal ein Tag und eine Stunde mit einem ganz ausnahmsweise harten Kummer. Einem, wo auch das Zähnezusammenbeißen nichts mehr nützte. Damals war es, daß ich verzweifelt und zerwühlt zur Feldherrnhalle lief, an einem Vormittag, daß ich in einen breiten Sonnenstreifen trat, ein weniges zum Himmel schaute und mit zerbissener Inbrunst sagte:

»Schastikum Gummi Elastikum.«

Laut und deutlich sagte. Ich höre es heute noch. Ich sehe es heute noch, wie der alte erzene Tilly auf mich herunterlächelte. Und wunderbar genug – mir wurde leichter –. Mir wurde freier. Das Ätzende war weg von meinem Schmerz. Nur klebrig war er noch. Halt noch einmal.

»Schastikum Gummi Elastikum!«

Ich schrie es und ich – lachte. Auch der Schleimstoff meines Schmerzes hatte sich gelöst. Was lag daran? Ich lebte ja. Die Welt war wieder gut, und ich ging mit einem zärtlichen 67 Gedanken an meinen alten Onkel quer durch den grünen Hofgarten.

Seitdem hat mich mein Schastikum nicht mehr verlassen. Ich trage es als Amulett auf dem Herzen. Ich mißbrauche es nicht. Ich spare es für die trüben Morgenstunden auf, wo einen der Schlummer vor der Zeit der grauen Dämmerung in die Arme wirft.

Ich gebe es weiter, lasse es wandern von Hand zu Hand, wie alte gute Taler. Die Leute nehmen es und brauchen nichts dazu zu tun als nur den guten Glauben. Der freilich ist vonnöten, daß es helfe. Und dann natürlich auch ein wortgetreues Wiederholen. Nicht, daß es einem gehe wie dem Leschner Karl in der Friesenstraße. Der hatte sich von mir das Zauberwort erbeten, sauber ins Notizbuch eingeschrieben, das er dann verlor, und beschwerte sich schon ein paar Tage später bei mir darüber.

»Das ist ein schöner Schwindel mit deinem Schastikum,« sagte er.

»Warum?« entgegnete ich, »hast du's probiert?«

»Freilich habe ich's probiert,« sagte er, »aber geholfen hat es nichts, gar nichts.«

»Was hast du denn gesagt?«

»Schastikum Gummi Arabikum.«

»Ja,« sagte ein dritter Kamerad, der auch dabei stand und der auf das Zauberwort schwor, »da glaube ich es freilich. Das ist ja gerade so, als wenn dir der Doktor Opiumtropfen verschreibt und du kaufst Sennesblätter.«

Also »wortgetreu und gläubig« steht auf der Etikette meines Zauberwortes. Die Vorschrift schreckt von selbst die Unberufenen ab. Und den Berufnen gibt man es am besten in der Jugend. 68 Ich reiche es als Erbe meines Onkels vom Katheder an die Schüler wieder, wenn ich Abschied nehme von den schlanken Jungen, in der letzten Stunde in dem letzten Schuljahr:

». . . Und Jungens,« sage ich einviertel scherzend und dreiviertel ernst, »wenn's einmal schief geht draußen, wenn der Kummer und die Sorgen kommen – in den nächsten Sonnenstrahl gestellt, versteht ihr, die gepreßten Lippen aufgemacht, die Augen und die Herzen aufgemacht, versteht ihr, und laut und deutlich, halb zur Sonne auf, das Zauberwort gesprochen: Schastikum Gummi Elastikum.«

Ich weiß, es steht nicht in der Königlichen Lehramtsordnung, das Zauberwort, und es ist, behördlich gesprochen, »ein Unfug«, aber es hilft, es hilft.

Wie heißt es doch im Prinzen von Homburg?

»Was kümmert dich, ich bitte dich, die Regel,
Nach der der Feind sich schlägt: wenn er nur nieder
Vor dir mit allen seinen Fahnen sinkt?«

Der Feind ist der Kummer, der Feind ist die humorlose Maschinenzeit, der Feind ist das platte Philistertum.

Und das Schastikum hat Sprößlinge getrieben. Feine, fröhliche Reiser hat es angesetzt. Da und dort. Manchmal, wenn ich durch die Straßen wandere, selbst ein alter Onkel und ein alter Lehrer schon, kommt ein junger Mann auf mich zu.

»Herr Lehrer,« sagt er, »das Zauberwort von damals, wissen Sie, in der letzten Unterrichtsstunde – das Schastikum ist so übel nicht.« 69

 


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