Fritz Müller-Partenkirchen
München
Fritz Müller-Partenkirchen

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Frau Hirschberg

Frau Hirschberg war unsere Näherin. Alle vierzehn Tage war Gewandappell für uns sechse, – fünf Buben und ein Mädel.

»Hosen, Röcke vorgewiesen! Heute kommt Frau Hirschberg, Kinder!« hieß es.

Und dann kam sie angewackelt und besichtigte zunächst im groben einen großen Kleiderberg mit Löchern, Triangeln, Aufschlitzungen, Ausfransungen, Durchwetzungen, Unterlagsbedürftigkeiten und so weiter.

»Dß, dß, dß,« machte sie mit einem sonderbaren Schnalzen, »dß, dß, dß, ich sag's ja – die Buam, die Buam,«

»Frau Hirschberg,« warf ich ein, »von unsrer Schwester ist nicht weniger zerrissen.«

»So? No ja, no ja – aber d' Hauptsach sind halt doch die Hosenboden bei die Buam. Dß, dß, dß, wie sie's nur grad anstell'n, möcht ich wissen . . .«

Aber es war nur eine rhetorische Frage. Denn sie fuhr gleich weiter fort:

»Dß, dß, dß, an Gußeisernen wenn ma' ihnen einsetzet hinten, Frau Müller, den täten s' auch zerreißen.«

Beleidigt über den ›Gußeisernen‹ gingen wir Buben aus dem Zimmer.

»Ja, schaun S' nur grad her, dß, dß, dß,« hörten wir es noch draußen auf dem Gange.

83 Aber wenn wir wiederkamen, war aller Schaden repariert.

»Dß, dß, dß,« machte Frau Hirschberg, »und wenn ich wiederkomme in vierzehn Tag, werd'n Ihre Herrn Buam hoffentlich nicht wieder gar so viel zerrissen hab'n, Frau Müller. Dß, dß, dß, es ist ja ganz aus der Weis heutzutage, so a Wildigkeit hat's doch zu meiner Zeit net geb'n, Frau Müller. So, und jetzt pfüat God beisammen . . .«

Frau Hirschberg hatte einen festen Tagessatz. Eine halbe Mark bekam sie für den Tag bei freier Kost, eine halbe Mark . . . Seit Jahren schon. Mehr nahm sie nicht, um keinen Preis. Ich weiß noch gut, wie sie die Mark zurückschob, die die Mutter geben wollte.

Frau Hirschberg hatte einen Sohn. Der ging vor vielen Jahren nach Amerika. Auch von uns fünfen wollte einer übers große Wasser.

»Also nacha, Herr Hans, net wahr: grüßen S' mir mein Alois halt, wissen S' . . .,« und dabei beugte sie sich mit plötzlich intensiver Sorgfalt tief über einen Hosenschaden unseres Jüngsten.

»Wo wohnt Ihr Sohn, Frau Hirschberg?«

»Ja, die Straßen weiß ich nimmer, ich hab mir denkt . . .«

»Den Ort, Frau Hirschberg, mein ich.«

»Den Ort? Halt in Amerika, Herr Hans, Sie müssen ihn schon finden, wenn –«

Hans wollte lachen. Aber Mutter winkte mit den Augen.

»– wenn Sie sich umschaun, gelt, das tun Sie? Und sag'n S' halt dann an schönen Gruß, an schönen Gruß . . .«

84 Noch tiefer beugte sie sich über ihre grausame Flickarbeit. Fast nicht mehr aufschaun wollte sie. Und das heiße Bügeleisen machte an der Stelle, wo die alten Augen grade drüber waren, einen Zischer . . .

»Jawohl, Frau Hirschberg,« sagte Hans mit starker Zuversicht, »ich find ihn schon, den Alois.«

Unter siebzig Millionen Menschen in einem Riesenlande, wo kein Mensch sich um den andern kümmert . . .

Von da ab, wenn sie kam, vergaß sie auf das ›Dß, dß, dß, . . .,‹ und fragte vorher regelmäßig:

»Nun, was schreibt der Herr Hans? Hat er ihn schon g'fund'n?« Hans fand ihn nie, den Alois. Wir aber fanden nur zu bald, daß dieser Sohn ein Taugenichts gewesen war und ein gerüttelt Maß von Herzeleid über seine Mutter ausgoß, ehe er nach drüben ging vor Jahren. Freilich, freilich – mit der Liebe seiner Mutter hat das alles nichts zu tun. Und uns war es gar nicht wohl, wenn wir vierzehntäglich auf ihre Frage sagen mußten:

»Nein, noch nicht, Frau Hirschberg – aber er wird ihn schon noch finden.«

Dann kam ein Flicktag, wo Frau Hirschberg ausblieb. Seit dreizehn Jahren oder so zum erstenmal. Da wanderte die Mutter auf den Unteranger Nummer sechsunddreißig, stieg die steilen Treppen aufwärts, klopfte und trat ein:

»Nun, Frau Hirschberg, krank?«

»Oh, mei', wie mich des freut, daß Sie kommen, dß, dß, dß, und der Herr Sohn ist auch dabei, dß, dß, dß, ja, was wäre denn jetzt net des . . .«

85 »Wie's Ihnen geht, Frau Hirschberg, möchten wir auch wissen.«

»Oh mei', morgen bin ich wieder auf, es ist ja nicht der Mühe wert, nur a bissel schwindlig, dß, dß, dß, wissen S'.«

Wir wußten's nicht. Jedoch der Arzt, der nachher kam, der wußte es und sagte auf der Treppe ruhig und freundlich:

»Wie lange noch, meinen Sie? Drei, vier Tage vielleicht. Da sind wir leider hilflos. Aber einen Kummer hat sie – nicht? Sie spricht da immerzu von einem Sohn . . .«

Am nächsten Tage ging ich nach der Schule auf den Unteranger. Die alte Näherin war matt, so matt. Aber in den Augen brannte es. Brannte es stets von derselben Frage:

»Nun, hat er ihn gefunden, meinen Alois?«

»Nein, Frau Hirschberg, aber mir hat Hans geschrieben, er sei ihm auf der Spur.«

Ich weiß nicht, wie mir diese glatte Lüge plötzlich auf die Lippen kam. Und erschrocken war ich erst, als ich die Wirkung sah. Auf schrie sie vor Freude.

Zwei Tage drauf ging es zu Ende. Meine Mutter war noch vormittags bei ihr. Und nachmittags kam ich auch nochmal. An einem Ansichtskartenhändler ging mein Weg vorbei.

»Haben Sie eine Karte von New York?« fragte ich im Laden.

»Ja, diese mit der Freiheitsgöttin – schön, nicht wahr?«

»Die nehme ich.«

Dann schrieb ich auf die Karte. Fest und sicher – an mich selbst. Und mit Absicht klebte ich 86 die gebrauchte Washington Zwei Centmarke aus meinem Markenbuch darauf. Mit dem Gummiarabikum des Ansichtskartenhändlers . . .

Vor der Türe nahm ich einen Anlauf.

»Frau Hirschberg, Frau Hirschberg, schau'n Sie her, der Hans schreibt eine Karte – er hat ihn jetzt gefunden, den Alois – ja, freilich, freilich – ja, das da vorne ist der Hafen von New York – die Freiheitsstatue, jawohl – da lesen Sie es selber, was darauf steht, Frau Hirschberg.«

Sie war nun doch zu schwach dazu.

»Dß, dß, dß, bittschön, lesen Sie mir's vor, dß, dß, dß.«

Ach, wie klang es matt, dies altgewohnte›dß, dß, dß‹.

Und wie hell und sicher meine Stimme, womit ich vorlas:

›Lieber Bruder! Denke dir, soeben traf ich den Herrn Hirschberg Alois. Es geht ihm gut, sehr gut. Er sieht vortrefflich aus. Seine Mutter läßt er herzlich grüßen. Bald schreibt er selber . . .‹

Was soll ich weiter sagen?

Mit dieser Karte in den alten, nadelzerstochenen Händen starb sie noch am gleichen Abend.

Mutter war von ihr zur Testamentsvollstreckerin erbeten worden. Ich seh sie noch vor mir, die alte Lade, wo sie ihre Schätze hatte. Lauter Fünfzigpfennigstücke in kleinen Rollen mit Papier umwickelt. Und darauf stand deutlich aufgezeichnet:

»Für meine Beerdigung.«

»Für den Vinzentiusverein.«

»Für die Blindenanstalt da und da.«

Sieben Päckchen waren es im ganzen, alle 87 mäßig hohe Pfeilerchen von Fünfzigpfennigstücken. Und das letzte Päckchen war:

»Für meinen Alois.«

Alle Päckchen, bis auf dieses letzte, haben wir in Treuen der Bestimmung zugeführt.

Das siebente aber habe ich mit Siegellack petschiert! Und so lange, bis der Alois kommt und es sich holt, so lange liegt's auf meinem Schreibtisch als Briefbeschwerer.

Der Alois wird es schon verzeihen. 88

 


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