Fritz Müller-Partenkirchen
Kramer & Friemann
Fritz Müller-Partenkirchen

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Gehilfe

Auf einmal war die Lehrzeit um. Die Lehrzeituhr ist komisch. Erst sah ich nur den Stundenzeiger. Wie der kroch. Nie würde meine Lehrzeit enden, nie. Im zweiten Lehrjahr hielt ich's mit dem Zeiger der Minute. Bewegung sah man, man sah Zweck und Ziel. Im letzten Lehrjahr ritt ich auf dem Zeiger der Sekunde Galopp ins Land des freien Handlungsgehilfen. Halt, nicht so schnell! Wie, der Freispruch schon am nächsten Samstag? Ist ja richtig, daß Lehrlingssüße nicht auf Daunen gehen, aber einer weiteren Lehrlingsrunde wäre ich bei Gott nicht gram gewesen. Hatte in der letzten Zeit mehr als einen Lehrling ins Gehilfenland marschieren sehen. Habe nicht finden können, daß er eine Woche nach dem Freispruch wie ein großer Losgewinner ausgesehen hätte. Es sei denn, daß beginnende Philisterfalten und der erste zarte Bauchansatz als großes Los zu werten wären. Also Freispruch hin und Freispruch her, was kümmert mich –

»Müller«, stand plötzlich der Prokurist an meinem Pulte, »nächsten Samstag sind Sie frei.« – »Ich weiß, Herr Mathis.« – »Wir wollen eine kleine Feier machen.« – »Feier? meinetwegen? bei den andern Lehrlingen ist doch auch nicht –«

Er lächelte: »Sie sind ein ganz besonderer Lehrling, Müller«. Ich wurde rot. Alle meine Lehrlingsböcke schossen mir durchs Hirn – nein, ich hatte nichts voraus, es sei denn einen kleinen Ueberschuß an Böcken. Der Prokurist ließ mich lächelnd weiterzappeln. Endlich sagte er ernst: »Wir sind stark gewachsen. Damit wächst die Arbeitsleistung. Diese ist der Tod des Lehrlings. Wir nehmen keine neuen Lehrlinge mehr. Sie sind der letzte unsrer Firma. Darin sind Sie was Besonderes. Daher die Feier oder, wenn Sie wollen, das Begräbnis nächsten Samstag. Sind Sie mit dem Zollauszug schon fertig – ein bißchen eilig, wenn ich bitten darf, Herr Müller . . .«

Der Zollauszug wäre fast mißglückt. Festgepränge drohte seine Zeilen zu zersprengen. Zwischen seine Zahlen schlangen sich Girlanden. Oder waren's Totenkränze?

»Mutter«, sagte ich am Samstag morgen, »meinen 236 Sonntagsanzug bitte.« – »Hast dich einen Tag verzählt, mein Junge, heute ist –« – »Schlußtag meiner Lehre, Mutter. Ab Montag bin ich Gehilfe mit hundert Mark im Monat – denk' mal: hundert Mark bring' ich dir an jedem Ersten . . .«

Sie sah mich groß an. Ich saß noch halb im Bett und wühlte mit den Armen Hundertmärkerrenommagen in die Kissen. Auf einmal sah ich runde Flecken auf die weiße Decke fallen, größer werden, größer – »Mutter, warum weinst du?« – »Weil du jetzt ein Mann bist und nicht mehr mein – mein –.« – »Da irrst du, Mutter, ich bleibe doch dein großer Junge – warum weinst du noch immer, Mutter?« – »Weil du heute ein studierter Mann sein könntest, wenn damals Onkel Adam nicht so knauserig . . .«

Das Mitleid mit mir selber überfiel mich. Ja, ich hätte heute bunte Mütze und Bänder tragen können, morgen durch das Staatsexamen Doktor werden, übermorgen als ein Mann mit Würden durch die Straßen gehen können, wenn – ja wenn – »Onkel Adam ist ein Schuft!« sagte ich und schlug einen Riß ins Oberbett, daß es wirbelte von Federn.

Schweigend holte Mutter Faden her und Nadel. Während sie den Federnausbruch flickte, wusch ich mein Gesicht mit Seife. »Wenn auch kein Schuft«, plusterte ich in Seifenblasen, »so doch wenigstens ein Geizhals!« Dabei schmiß ich eine Seifenschale in zwei Stücke.

Schweigend holte Mutter den Porzellankitt. Während sie strich und aneinanderfügte, zog ich Hose an und Kragen. »Und wenn er auch kein Schuft und Geizhals ist«, riß ich an den Hosenträgern, »so ist er mindestens kein nobler Mensch – ich habe gesprochen!« Dabei riß der Gummiteil des Hosenträgers.

Schweigend streifte Mutter ihr Strumpfband ab und half meinem Hosenträger wieder auf den Gummi. Das Mitleid mit mir selber schwand, die Selbsterkenntnis lohte: »Und ich, Mutter«, sagte ich, »ich bin ein Esel. Anstatt mich zu freuen, daß ich heute freigesprochen werde –«

»Hast du nicht vergessen, dir den Hals zu waschen?« sagte Mutter sachlich und legte die Betten an die Morgensonne.

237 »Man kann nicht an alles denken«, brummte ich, »wenn man – wenn man –«

»Junge, Junge, ob man hundert Mark im Monat kriegt oder seinen Doktor macht, der Hals muß doch gewaschen werden, darin sind wir alle gleich, nicht wahr?«

Ich schruppte zornig aber folgsam den vergessenen Hals. Dabei wurde Mutter wieder weich: »Ja ja, studieren wenn du hättest können, Junge . . . Ja, hätte Onkel Frank das Geld Onkel Adams gehabt –«

»Meinst du, Mutter, Onkel Frank hat nur gescherzt damit, daß ich ihn beerben –?«

»Ach Gott, sein Nachlaß wird wohl kaum die Leichenkosten decken – hat ja nie ein Bild verkauft, so viel ich weiß.«

»Da irrst du, Mutter, er selbst hat mir gesagt, sie hätten ihn am Ende doch entdeckt und ihm die Bilder aus der Hand gerissen.«

Mutter staunte. Sie stand still und breitete die Schürze als müsse sie einen plötzlichen Wolkenbruch in Gold drin auffangen. »Junge«, sagte sie selig glänzend, »denk' mal, wenn du doch studieren könntest – du, mein lieber später Student . . .« Sie halste mich und küßte mich.

Mit blankem Hals und zwiespältigen Gefühlen ging ich ins Geschäft.

Alles war im Grund wie immer. Nur mir erschien es anders heute. Das Firmenschild am Tor erglänzte heller. Im Hof hatten angeschirrte Wagenpferde ein Schleifchen in der Mähne. Ich fühlte mich versucht, den Fuhrknecht auf die breite Schulter zu klopfen: »Na, wäre meinetwegen eigentlich nicht nötig gewesen.« Aber da fiel mir ein, das Schleifchen hatten diese Pferde, seit der Knecht auf Freiersfüßen ging.

Aber daß im Treppenhaus die Tritte heute feierlicher klangen, fast wie in der Kirche, das war keine Täuschung. Auch daß das Gesicht der großen Wanduhr sonntäglich dreinsah, konnte jeder sehen, der Sinn für einen Lehrlingsfreispruch hatte. Ob die Papiere auf den Pulten gemessener raschelten als sonst, lasse ich dahingestellt. Aber daß der Morgengruß der anderen bedeutungsvoller klang, als seit drei Jahren, lass' ich mir nicht nehmen. Den alten Buchhalter Vater ausgenommen, der mich noch nie in meiner Lehrzeit so gleichgültig, 238 ja, fast mürrisch angesehen hatte. Das tat mir fast weh. Stand doch meiner Lehrzeit größter Teil gerade unter seinen Fittichen. Aber da war keine Zeit zu spintisieren. Der Pendelschlag der Tagesarbeit setzte eines Lehrlings wegen nicht aus. Gar an einem Samstag, wo die Botenfuhren drängten und die Wochenreste aufgearbeitet werden mußten.

Der Schritt der Arbeit riß mich mit im Fluge. Auf einmal war es zehn vor eins. Ich erschrak. Die Uhr mit mir: Sie hatten es vergessen. In zehn Minuten schloß die Woche. Klanglos sank ein Lehrlingsabschied in Vergessenheit. Es war bitter. Drei Jahre sind drei Jahre. Millionen Schläge meines Herzens hatten drin gezittert, im Takt und außer Takt, aber immer pflichtgemäß. Ich verlangte nichts Besonderes. Ein gutes Wort nur, keinen Trommelwirbel, keinen Trompetenstoß. Wort, Stoß und Wirbel blieben aus, so begann das zugeschnürte Lehrlingsherz selbst zu trommeln, tief vergrub ich meinen Kummer in den Büchern, da fuhr ich auf –

Das Wort erklang, das gute Wort. Unversehens, auf geheimen Wink hatten sie sich um mein Pult geschart. Des Prokuristen Stimme hob und senkte sich schon eine ganze Weile, ehe ich begann den Sinn zu fassen. Nur Blöcke davon stehen heute noch in meinem Kopf, Findlinge der heißen Lehrzeit, nicht der Eiszeit: ». . . die Lehrzeit des Kaufmanns Verlobungszeit, also seine schönste . . . selten löst die Ehe die Verlobungswechsel ein . . . häufig wird die Kaufmannsehe knöchern, ärmlich und verbissen . . . meine eigne Lehrzeit längst versunken . . . aber wenn's mich kalt anweht im harten Kampf der Konkurrenzgewalten, wenn ich müde werde, wenn die herbe Frage aus den Büchern ihr Gorgonenhaupt erhebt: »Wozu, wozu das alles?« flüchte ich mich in die sonnigen Bezirke der vergangenen Lehrzeit, neue Kraft daraus zu saugen . . . machen Sie es auch so, junger Mann . . . Sie sind nicht der erste, der's vermag, jedoch in unserm Haus der letzte . . . wissen Sie, was das heißt: der Großbetrieb stampft auf den alten kleingeteilten Fluren und verwalzt so manche Blüte . . . die schönste ist die Lehrzeit . . . was kommen wird, wenn ein paar Riesentruste der Erde Handlungshäuser aufgesogen haben werden, weiß kein Mensch 239 . . . vielleicht schießt eine neue Welt mit neuen Blumen aus zerwalzten Reichen . . . hoffen wir's . . . vielleicht erleben's unsre jungen Pioniere noch . . . dann werden Sie, der noch die alte Lehrlingswelt erlebt hat als der letzten einer, begnadet sein, eine Brücke zwischen zwei grünenden Ufern über den grauen Geröllstrom hastenden Erwerbs zu schlagen . . . werden den Künftigen erzählen können, wie es war und wie's geworden ist . . .«

»Ja«, bestätigte mit einem Schlag die alte Kontoruhr.

»Ein Uhr«, sagte der Prokurist, »vorbei die Lehre, die Gehilfenzeit beginnt. Hier ist Ihr Lehrzeugnis. Da der Vertragsentwurf für einen Buchhalterposten, wenn Sie übern ersten Probemonat bleiben wollen . . . nein, noch kein Ja . . . reiflich überlegen . . . auch den Kaufmann bindet kein Vertrag, es wäre denn darin der Herzschlag von Treu und Glauben spürbar . . . Ihre Hand, Herr Müller: Ich begrüße Sie als freien Mitarbeiter meiner Firma!«

Zaghaft schlug ich in die dargebotene Rechte. Alle drückten mir die Hand: »Viel Glück auch, Herr Kollege!« Buchhalter Vater war der letzte. Wieder zwang er sich zur Brummigkeit. Es gelang ihm nicht. Es hing feucht in seinen Wimpern. Mit beiden Händen nahm er plötzlich meine Jungenhand: »Bleiben Sie ein ordentlicher Kerl, Donnerwetter . . .«

»Auch Herr Kramer will Sie sprechen.«

Ich stand im Allerheiligsten des Prinzipals. Ein durchfurchtes Arbeitsantlitz sah mich an, lang und gütig. Er war nie ein Freund von vielen Worten. Seine Blicke sagten mehr. Goldsichre Wechselunterschriften waren seine Blicke. Er sah in der Salärliste nach und griff rechts in eine Geldkassette: »Herr Buchhalter Müller«, sagte er ruhig, »Ihr erstes Monatsgehalt zum voraus fällig, darf ich bitten.«

Hundert Mark in fünf Goldstücken lagen auf dem grünen Tisch. Sie glitzerten und gleißten. Sie haben viele Jahre überglitzert. Noch heute, wenn ich abends vor dem Einschlafen die Augen kurze Zeit zusammenpresse, glitzert es manchmal stolz herüber, das erste Gehalt . . .

Auf einmal hielt ich auch Frau Kramers Hand in meiner. Ein aufgeschlagenes Geschenkalbum glitt mir in die Hände. Ich las in ihrer Handschrift: 240

Wohl, es rechne der Kaufmann
Und mehre die Fülle der Habe,
Die ihm der freundliche Gott
Beut mit dem Flügel am Fuß.
Doch nimmer ins Herz ihm
Krieche die Zahl und der Zinsfuß!
Mittel sei ihm das Geld,
Dienend dem besseren Zweck,
Sonst, fürwahr, ergibt das Konto
Des Lebens ein Manko,
Und bei dem ganzen Geschäft
Deckt er die Spesen sich kaum.


Als ich, trunken wie vom jungen Weine, heimkam, stand Mutter unter der Türe. In der Hand ein langes Amtspapier. Ich las von hinten: »Testamentsabschrift des verstorbenen Kunstmalers Frank . . .«

»Junge!« rief Mutter und schwang das Papier, »Junge, jetzt kannst du studieren – denke doch: studieren!«

Da sagte ich – ja, was sagte ich da wohl, ihr jungen Freunde vom Kontorstuhl . . .?

 


 


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