Fritz Müller-Partenkirchen
Kramer & Friemann
Fritz Müller-Partenkirchen

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Der Rock

In der Zeitung stand: Kassenbote auf offener Straße beraubt, Schlag vors Hirn, Banknotentasche aus der Hand gerissen, kein Begleiter, der ihm hätte Hilfe bringen können.

Unser alter Kassenbote Fröscheis bekam es mit dem Zittern. Die Firma nahm ihm seine offene Mappe aus der Hand. In die Innenseite seines Rockes wurde ihm eine Spezialtasche hineinkonstruiert. Alle kamen, um die Nase da hineinzustecken. Kassierer Brandmann war für einen elektrischen 46 Kontaktknopf an der Tasche, damit der Diebstahl im Gehirne Fröscheis läutete. Aber Fröscheis sagte, daß es ihm im Hirne überhaupt nicht läute, mit und ohne Diebstahl. Daraus wurde beschlossen, daß ich ihn von zehntausend Mark aufwärts begleiten müsse, um für ihn zu läuten, wenn es nötig würde.

Ich war nicht schlecht stolz. »Mutter«, sagte ich, »mach mir eine Kassentasche rechts im Rock, dreißig Zentimeter tief, zwanzig breit, Lederfutter, Innenknöpfe, außen Monogramm, aber 'n bißchen fix.« – »Wozu denn?« – »Ich muß den alten Fröscheis begleiten.« – »Brauchst du zum Begleiten eine solche Tasche?« – »Das sind kommerzielle Sachen, Mutter, die verstehst du nicht.«

Zweimal, dreimal in der Woche stelzte ich neben Fröscheis zu den Banken. Unbegreiflich, daß sich Fröscheis keine Haltung geben konnte, die den Notenbündeln seiner Innentasche gleichkam. Da hatte meine leere Tasche eine andere Würde. Ich fuhr immer mit der Hand hinein, damit sie sich den Leuten entgegenblähte: »Ha, wenn ihr wüßtet, wieviel Tausender ich halte . . .« Aber die Leute kümmerten sich um keine Blähung. Nur einmal drehten sich zwei Bäckerlehrlinge herum: »Du Kare, dem seinen Bauch treibt's auf von zuviel neuem Brot.«

»Ihr Lehrlingsdeppen!« sagte ich.

»Jee, er aa, der Tintenstift, der luftg'selchte! Mir hab'n unsre Finger immer noch lieber voll Teig als voll Gummi Arabikum, du Drehstuhlkrischperl!«

»Was stehst denn da«, schmunzelte der alte Fröscheis, »hau ihnen eine 'runter!«

»Es ist unter meiner Würde«, sagte ich, »wo wir fünfzigtausend Mark in der Tasche haben. Und außerdem haben sie nicht einmal das Einjährige.«

»Ich auch nicht«, sagte er kurz und trabte weiter. Aber dann riß es ihm doch nochmal die alten dünnen Lippen spöttisch auseinander: »Herrgott, wenn ich denk', wie wir zu meiner Lehrlingszeit einander rumg'haut hab'n, daß d' Fetzen nur so 'rum'flog'n sind!«

»Fröscheis«, sagte ich verweisend, »zu Ihrer Zeit war der Lehrlingsstand noch nicht gehoben.«

47 »Desweg'n hab'n uns d' Leberknödel g'rad so g'schmeckt – jesses, da ist ja der Gebrüder Bramberger – servus, auch auf d' Handelsbank?«

»Ah, der Kramer & Friemann – nein, die Handelsbank hab' ich schon hinter mir – jetzt kassier' ich nur noch g'schwind eine Doppelweißwurscht hint' im Pschorrbräu – was hast denn da für ein Springgingerl bei dir?«

»Der neue Lehrling«, sagte er unbehaglich. Ich fühlte, ohne mich hätte er die Doppelweißwurscht mitgemacht. Mit fünfzigtausend für Kramer & Friemann in der Tasche, es war unerhört.

Noch unerhörter war seine Haltung am Handelsbankschalter. Dort schnupste er erst umständlich – mit fünfzigtausend! – und ließ sich Schwegerle & Kompanie und Althaus Nachfolger zuvorkommen, die doch alle kleiner als unsere Firma waren. Und einem gewöhnlichen Dienstmädchen zwinkerte er zu – mit fünfzigtausend in der Spezialtasche!

Und nach einer Weile fügte er hinzu: »Schaun S', ich bin schon z' alt zum Umlernen. Ich war bei Kramer & Friemann, wie Sie noch als Hemadlenz mit einem Hosenträtra herumgelaufen sind. Ich war schon da, wo Sie noch gar nicht auf der Welt g'wesen sind. Ich war schon da, wo's überhaupt noch kein Einjähriges gegeben hat, mein lieber Bub. Ich war schon da, wo der alte Herr Friemann selber den Hering einzeln hinterm Ladentisch verkauft hat und ich hab' d' Marinad' dazug'schütt't. Mir müssen S' nix mehr beibringen woll'n, mein lieber Bub, mein lieber Bub . . .«

Wackelnd schritt er in dem hellen Sonnenschein dahin auf dem heißen Asphalt und zog mühsam seine Füße nach: »Ja, und den neumodischen Asphalt, wo man drin pappen bleibt bei zwanzig Grad Rehomir, den hat's selbigmal auch noch nicht 'geb'n, Gott sei Dank, den Dreck, den eingebildeten – ich glaub' alleweil, der hat auch schon das Einjährig', weil er einem d' Stiefel auszieh'n möcht' vor lauter Belehrung . . .«

Eine Woche später waren sie ihm für immer ausgezogen, die Stiefel, als er strumpfsockig im Sarg lag. »Ich brauch' keine Stiefel mehr«, soll er kurz vorm Sterben gesagt haben, »ich bin meiner Lebtag g'nug drin 'rumg'laufen. Und den Janker mit der neumodischen innerwendigen Banknotentasch'n 48 möcht' ich auch nicht anhab'n, bitt' ich mir aus. Aber meine alte Ledertasch'n legt mir an die Seit'n, bittschön – man kann nicht wissen, ob sie drüben –« Hier soll er noch gelächelt haben, und die Nase soll es ihm verzogen haben, als wenn er seine letzte Prise Schnupftabak drin hochgezogen hätte. Dann war's aus.

Mit der alten Tasche haben sie ihn begraben. Denn es war schon richtig: Niemand konnte wissen, ob sie sie drüben auch schon abgeschafft hatten. Drüben, wo die Kassenboten kaum mehr überfallen wurden. Drüben, wo seine alten Füße, statt auf pappigem Asphalt, ungezwängt auf federnden Wolkenbalken gehen durften. Drüben, wo es keine einjährig aufgeblasenen Lehrlinge gab, die einem alten Boten zwischen zwei himmlischen Einkassierungen die Doppelweißwurst hint' im Pschorrbräu nicht vergönnten.

Die halbe Firma stand an seinem Grabe. Herr Kramer war im letzten Augenblick verhindert und schickte einen Zettel: »Herr Mathis, bitte, halten Sie die Leichenrede.« Prokurist Mathis war kein Freund vom vielen Reden. Dazu war er viel zu tätig. »Wir stehen hier am Grabe, eines Mannes« fing er freilich auch an, wie die andern »eines Mannes, der – eines Mannes, der –« Aber dann muß es ihm eingefallen sein, daß der Verstorbene niemals einen schönen Relativsatz gedrechselt hat. »Fröscheis«, warf er ihm die Erde nach, »du warst ein treuer Mann. Wir wollen's auch sein. Lebe wohl. Wir sorgen für die Deinen.«

Am andern Tage waren 93 750.– Mark beim Proviantamt abzuheben und auf der Handelsbank einzuzahlen. Es hat seinen Grund, warum ich die genaue Summe noch nach fünfundzwanzig Jahren weiß und wissen werde, wenn es fünfzig Jahre sind.

Der neue Kassenbote war noch nicht ernannt. Suchend gingen des Kassierers Brandmann Augen in die Runde. »Jetzt oder niemals«, klopfte mir das Herz.

»Herr Brandmann«, trat ich vor und lüftete den Rockschoß, »die vorgeschriebene Tasche hätte ich.«

»Das vorgeschriebene Alter wäre mir lieber«, lachte er, »na, aber ausnahmsweise . . .«

Das Proviantamt war weit draußen. Schneller und 49 gehobener hat noch keiner die drei Kilometer abgewickelt. Gemessener noch keiner solche Summe nachgezählt. Nachzählen wollen. »Zählen Sie am Nebentische!« schrie mich der Beamte an, »der nächste bitte!« Es waren fünfzig Mark zu viel. Ich drängte mich in die Reihe zurück. »Was noch?« – »Entschuldigung, Sie haben sich geirrt, denn –« – »Geirrt? Dummes Zeug, die königliche Proviantamtskasse irrt sich nie! Der nächste, bitte!«

Zwiespältig wanderte ich zurück mit meinen fünfzig Mark zu viel, aber immer noch gehoben. Ah, da war ja unsere Wohnung. Wie, wenn ich rasch der Mutter Guten Morgen sagte? Ja, Fröscheis, deine Doppelweißwurst fand ich nicht korrekt. Aber meine Protzerei vor der Mutter –

»Mutter, was ich sagen wollte, ich habe heute über Hunderttausend dis–po–niert.«

»Nein, aber so was. Da wirst du sicher Hunger haben. Darf ich dir –?«

»Hem, ich habe wenig Zeit.«

»Nun, zu einem Spiegelei wird es schon langen. Sieh, da schmort es schon in der Pfanne. So, jetzt noch Salz darauf. Nein, Hunderttausend sagst du? Fritz, wenn die mal dir gehören. Wenn du selbst Kommerzienrat –«

»Wollen sehen, wollen sehen«, schmatzte ich mein Spiegelei so breit, daß –

»Aber Fritz, mit Eigelb auf der Jacke laß ich dich nicht fort. Das fällt auf mich zurück. Komm, schlüpf in diese.«

»Hem, ich habe höchste Zeit – dein Spiegelei war gar nicht übel, Mutter – grüß dich Gott.« Ich gab ihr einen Kuß. Einen gemesseneren als heute Morgen. Denn ich hatte über Hunderttausend dis–po–niert, inzwischen.

So, jetzt zur Handelsbank. Ei, dort drüben in der Allee, rollte da nicht Onkel Cäsar, der Familienheilige? Der Großonkel, der Anno achtundvierzig mit dabei war. Den sie beinahe geköpft hatten, damals. Der uns Jungen immer als ein Riesenziel vor Augen schwebte: Soweit, wenn du's brächtest . . . bis zum Beinah-Köpfen, heißt das.

»Ah, Onkel, freut mich, freut mich –«

Aus alten, verkindeten Augen sah er mich verständnislos an.

50 »Was ich sagen wollte, Onkel: ich habe heute über hunderttausend disponiert.«

»So, so.«

»Dis–po–niert, Onkel!«

»So, so.«

»Du hast auch mal über – über hunderttausend disponiert – Parteigenossen, meine ich.«

»So, so.«

»Aber Onkel, das mußt du doch noch wissen.«

»So, so.«

»Alle Welt hat doch davon geredet.«

»Geredet?« Ueber die verwässerten Augen flog ein kurzes Blitzen: »Geredet? Nein, Bub, wir haben weniger geredet damals, wir haben nur gehandelt und ge–ge–« Gelitten, hat er sagen wollen, ich sah es am verzerrten Antlitz. Die Altersschmerzen hatten ihn gepackt.

Ich kämpfte mit der Lehre. Aber am Schalter der Handelsbank hatte ich schon wieder meine Zuversicht, meine Hunderttausendmarkeinbildung. »Nicht reden?« murmelte ich achselzuckend, »hat sich eben überlegt, der Alte – ich habe für Kramer & Friemann dreiundneunzig –«

»– tausendsiebenhundertundfünfzig Mark einzuzahlen«, ergänzte der Beamte verbindlich die geschmalzene Rede, »ich weiß – sind telephonisch angezeigt – die Quittung habe ich hier vorgeschrieben.«

»Ich danke«, sagte ich trotzig und griff danach.

»Erst die Summe, bitte,« lächelte der Beamte.

Ich langte seelenruhig untern Rock. Teufel auch, wer hatte mir die Tasche zugenäht! Ja so, ich hatte heute meinen andern Rock. Dann waren die Banknotenbündel eben in der Obertasche. Ich griff hinein, ich fuhr leer zurück – nie wieder zwischen zwei Sekundengriffen meines Lebens ist mir so viel durch den Kopf gegangen: Kalt und heiß, und heiß und kalt – Schande, fortgejagt – lebenslange monatliche Abzahlung – es langte knapp, die ungeheure Summe zu verzinsen – zermürbt im Sterbebette und zerbröselt. – »Sie nehmen eine alte Schuld hinüber«, sagte der Pfarrer, »hoffen wir, daß drüben der Allmächtige . . .« – vergeblich' Hoffen: »An Saldovortrag«, schlug am Himmelstor ein Schuldbuch 51 auf, dreiundneunzigtausendsiebenhundertundfünfzig Mark – tut mir leid: himmelslänglich Zwangsarbeit im »Hallelujasingen« – Herrgott, wenn ich damals doch nicht – doch nicht – wo lag nur die Schuld? – ja, wenn ich besser aufgepaßt –nein, wenn ich einen solchen Auftrag gar nicht übernommen – nein, wenn ich nicht so aufgeprotzt vor Mutter und Onkel Cäsar – ja, für die Protzerei war das die himmlische Vergeltung – Gott, ich verspreche dir, ich werde niemals wieder protzen – niemals wieder, wenn du mir die dreihundertneunzigtausend herschaffst – jetzt gleich – du bist doch allmächtig, soviel ich weiß – also durch die Luft, wenn ich bitten darf –

»Nun«, sagte der Beamte. Seine Stimme war gar nicht mehr freundlich. Seine Augen schielten nach dem Telephon. Herrgott, in zwei Minuten waren Kramer & Friemann angerufen, hatten Kramer & Friemann das Hörrohr ausgehängt: »Hier Kramer & Friemann, wer dort? – ah, Handelsbank – was sagen Sie? Lehrling Müller? ohne dreiundneunzigtausend Mark am Schalter? – wie? – will verloren haben – was – schuldbewußtes Aussehen? – wie? Verlust vermutlich nur fingiert, um einem Spießgesellen Zeit zu geben . . . – ja ja, dem Menschen ist ja alles zuzutrauen – da war erst neulich eine Geschichte mit einer blauen Mauritiusmarke, für die er, glaub' ich, seine Seligkeit verpfändet hätte – natürlich übergeben Sie ihn sofort der Polizei – mir tut nur seine Mutter leid –«

»Bitte«, sagte der Beamte messerscharf, »die Frau dahinten scheint Sie dringend sprechen zu –«

Ich fuhr herum. Ich stammelte verzweifelt: »Mutter, Mutter, ich habe –«

»– du hast den Rock vertauscht, Sohn«, sagte die Gütige lächelnd, »sieh, hier ist der Spiegeleierflecken und hier die dreiundneunzigtausend . . .«

So schloß die Rockgeschichte gnädig ab. Sogar recht gnädig. Denn da war ein Ueberschuß von fünfzig Mark. Den wollte der Kassierer Brandmann absolut nicht nehmen. »Wie soll ich ihn denn buchen?« sagte er, »etwa Kassakonto an Kgl. Proviantamtsbockbeinigkeitskonto? Auch ein störrisches Unfehlbarkeitskonto macht sich schlecht in der Bilanz.«

52 »Aber ich kann die fünfzig Mark doch auch nicht behalten!« sagte ich.

»Seien Sie kein Frosch: warum denn nicht. Wie Sie sie buchen werden, danach fragt kein Mensch.«

Also gab ich sie der Mutter. Die nahm sie mit einem Abschlußlächeln. Wenn ich dieses recht verstanden habe: Konto Unverdienter Wertzuwachs an Mutterliebe.

 


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