Fritz Müller-Partenkirchen
Kramer & Friemann
Fritz Müller-Partenkirchen

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Fünf und sieben

Das Wort Bilanz ist magisch. Schon unser Handelslehrer in der Schule hat's mit einem leisen Schauer ausgesprochen. Dabei wackelte sein Zwicker, seine Augen kriegten einen strengen Glanz, und seine rechte Hand klopfte dampfhammerartig aufs Katheder. Seitdem kann ich »Bilanz« weder hören noch lesen, ohne Zwicker wackeln, Augen glänzen und Hände hämmern zu sehen. Und es gibt mir immer wieder einen Ruck, wie in der Schulbank damals »Müller, ziehen Sie Bilanz!«

81 In den Zeitungsangeboten wimmelte es von bilanzfähigen, bilanzkundigen, bilanzperfekten Leuten, die ihre Dienste anboten. »Jeder Windhund nennt sich jetzt Bilanzmensch«, sagte Buchhalter Vater, »wir haben keinen im Kontor, der im Bewerbungsbrief nicht mit Bilanzen 'rumgeworfen hätte. Wenn's hochkommt, ist von tausend einer ein Bilanzler«.

»Woher kommt das?« fragten meine Lehrlingsaugen.

»Kann man auf Dichter lernen, einen Maler sich erschwitzen? Warum nicht? Weil es Kunst ist. Einen Trambahnzusammenstoß berichten, einen Engel durch Schablonen auf die Decke pinseln, kann man lernen. Lernen kann man Soll und Haben und die Zinsenkontorechnung. Bilanzen aber lernt man nicht. Die kann man oder kann man nicht. Die Bilanz ist eine Kunst. Nur wenige sind auserwählt, junger Mann.« Wahrhaftig, auch ihm wackelte der Zwicker, glänzte streng das Aug' und hämmerte aufs Pult die Hand: »Müller, ziehen Sie Bilanz!«

Ich hielt's für eine Ohrentäuschung von der Schule her. »Müller, ziehen Sie Bilanz – natürlich nicht die große«, lächelte Buchhalter Vater, »vorerst tut's für Sie die Monatszusammenstellung der Debitoren M–P. Auch eine Art Bilanz, weil die Summe aller Kontensalden gleich sein muß dem Debitorensaldo im Hauptbuch – Sie verstehen?«

Ja, das verstand ich.

»Also hopp. Hier sind die Unterlagen. Wär' mir recht, wenn Sie's bis morgen fertig hätten.«

Ich strahlte. Ich ging mit bilanzgespreizten Beinen mir die Hände waschen. Chirurgenartig muß man das beginnen. Auch Bilanzen dulden keine Infektion. Herausfordernd warf ich die Blicke durchs Kontor: »Menschen, seht Ihr nicht, ich ziehe jetzt Bilanz.« Wahrhaftig, mir hämmerte die Hand, ein unsichtbarer Zwicker wackelte auf meiner Nase.

Ich rumorte feierlich auf meinem Pult. Schwarze Tinte, rote Tinte, Federhalter, Bleistifte, Lineal in Reih und Glied, die Kontenblätter im rechten Winkel sauber aufgeschichtet – die Instrumente sind in Ordnung, beginnen kann die sichere Hand des berühmten Operateurs. –

»Hühneraugen sind empfindlich, Müller«, sagte der alte Buchhalter milde, »würden Sie von den meinigen 82 heruntersteigen wollen – heißt das, wenn Ihre Beschäftigung das zuläßt –? Was machen Sie denn übrigens für komische Vorbereitungen, junger Mann?«

»Ich ziehe doch Bilanz.«

»Ach so. Na ja. Uebrigens, je weniger man Aufhebens macht, desto sicherer vermeidet man den Bilanzteufel.«

»Bilanzteufel? Was ist denn das?«

»Erklären hilft da nichts. Sie werden ihn schon kennenlernen. Es kommt ihm auf die Dauer keiner aus. Die Klügsten sind gut Freund mit ihm. Je mehr sich einer mit ihm balgt, je mehr verfitzt er sich in seine Garne. Gelassenheit ist das einzige, was er nicht vertragen kann. Da verzieht er sich. Das steigt ihm in die Nase – die Ihrige brauchen Sie also, wie gesagt, nicht höher bilanzieren – oder heißt es balanzieren?«

Ich sah es schon, auch der Weg zu den Bilanzen war mit guten Lehren gepflastert.

»Und was ich sagen wollte, Sie addieren sonst nicht schlecht, feuchten nicht den Bleistift an, wie alte Weiber tun, haddeln nicht, wie die Spitaler, hupfen nicht von einem Bein aufs andere, wie die kleinen Kinder, aber hüten Sie sich vor der Additionsgenickstarre.«

»Additionsgenickstarre?«

»Erklären hilft da nichts. Sie werden sie schon kennenlernen. Es kommt ihr auf die Dauer keiner aus. Und nun: Kopfsprung, junger Mann.«

Ich schnaufte tief. Ich stürzte mich auf –

»Halt!« er hielt mir seine Dose hin, »erst schnupfen, junger Mann.«

»Schnupfen?«

»Ich schnupfe immer vor einer Bilanzarbeit, das reinigt das Gehirn.«

»Aber ich schnupfe nie, Herr Vater.«

»Na, dann nicht. Wenn das nur gut geht. Und jetzt stören Sie mich nicht mehr.«

Ich störte ihn nicht mehr. Ich machte Kopfsprung in die Monatsziffern. Ich schwamm mit raschen Stößen. Ich zerteilte Ziffernheere. Ich faßte Ziffernbataillone zusammen. Ich kommandierte, wie Bilanzengenerale 83 kommandieren. Ich ordnete alles auf die große Endschlacht hin. Auf den Augenblick, wo Saldensumme gegen Saldo stimmen mußte.

Die Zeit versank. Wie bei jeder ernsten Arbeit ward sie wesenslos. Es schlug sieben, ich wußte nichts. Die Räume leerten sich, ich wußte nichts. Der Hausverwalter Vogel klapperte mit Schlüsseln, ich wußte nichts. Erst bei seinem Abzug hörte ich ihn brummen: »Streber!«

»Nein, Vogel, Streber bin ich nicht, ich bin Bilanzler.«

»Streber!« beharrte er.

»Bilanzler!«

»Streber!«

»Nehmen Sie's sofort zurück!«

»Ja, wenn S' fortgehn, damit ich auch zu mei'm Tarock komm.«

»Ich geh' nicht eher, bis ich die Bilanz da –«

»Bilanzstreber!«

»Meinetwegen. Geben Sie den Schlüssel. Gehn Sie zum Tarock.«

»Ich nehm' den Streber zurück.«

»Und ich behalte die Bilanz – gut' Nacht.«

»Wern's S' nicht narrisch«, wünschte er.

»Keine Sorge, Vogel.«

»Mit den Zahlen ist schon mehr als einer narrisch worden. Alles lassen sich die Zahlen doch nicht g'fall'n.«

»Gefallen?«

»No ja, wie Ihr oft umgeht mit den Zahl'n – grad umeinanderschmeißen tut Ihr den ganzen Tag mit ihnen – jetzt gar auch in der Nacht – kein Wunder, daß sie narrisch werd'n, die Zahlen –«

»Die Zahlen dürfen's meinetwegen –«

»Sag'n S' das nicht – wenn erst die Zahlen narrisch sind, so werd'n 's die Menschen doppelt – Sie sind noch jung – Sie können viel erleb'n – hab'n S' schon z' Abend 'gessen?«

»Nein, erst die Bilanz –«

»Da hab'n wir's ja: schon halbert narrisch – gut' Nacht.«

Rechnen, rechnen, rechnen. Immer hab' ich gern 84 gerechnet, auch heute noch. Es grause ihnen vor den Zahlen, sagen sie. Ich lass' sie reden. Es rollt ein unterirdisch Blut in Zahlen. Verborgene Herzen ticken drin. Manchmal meint man eines solchen Herzens Schlag zu hören, wie nächtlich durch die Wand der Liebsten Herz, von der uns Tür und Riegel trennt. Werden wir ihm nahe kommen, einmal ganz nahe, werden wir mit ihm die Hochzeit –?

Ha, die Kontensalden waren aufgereiht. Wenn jetzt die Summe mit dem Hauptbuch stimmte, mochte Hochzeit sein. Hurra, es stimmte – nein, bis auf eine Mark! Lächerlich, die eine Mark bei den Millionenziffern! Man konnte sie ja stillverschwiegen ändern – Gott, eine Mark, die leg' ich ja aus meiner Tasche drauf – und morgen früh kann ich Herrn Vater: »Stimmt, Herr Vater!« ruhig sagen.

Ruhig? Nein, die zugedeckte Mark wird sich nicht begraben lassen. Wird bei der nächsten Monatsbilanz an die Mauer klopfen: »Heda, ich lebe!« Gewiß, man kann einen zweiten dämpfenden Bewurf auftragen – hilft nichts, es klopft durch die dritte Bilanz: »Heda, ich lebe noch – hüte dich, ich kann nicht sterben – ich werde bei der Jahresbilanz mit dem Kopfe durch die Mauer rennen, den Zeigefinger auf dich hingestreckt: »Der da war es, der!« Gewiß, man kann auch für die Jahresbilanz noch eine extrafalsche Mauer ziehen, daß es stimmt. Eines Tages aber wird man seinen Posten wechseln. Auch wenn man bis ans Ende sich verbissen hat in seinen Platz, einmal mußt du selber hinter jene Mauer, durch die du's dann von draußen in dein Grab wirst reden hören: »Bei seinem Nachfolger ist es aufgekommen.« »Er hat betrogen –« – »Gott, um eine Mark!« – »Betrogen ist betrogen. Schreibt's auf den Personalakt: Hat um eine Mark betrogen, weil er die Gelegenheit zu mehr nicht fand –«

Schon gut, ich habe die Bilanz nicht stimmend abgeändert. Ich werde morgen zu Herrn Vater sagen: »Stimmt um eine Mark nicht, nur um eine Mark.« – »Nur?« wird er seine alten Augenbrauen heben, »nur, junger Mann? Ob eine Bilanz um eine Mark nicht stimmt oder um eine Million, ist gleich, mein Sohn. Sie stimmt nicht, damit ist sie falsch und faul!«

85 Gut, so will ich selber doch nicht faul sein, nicht die Waffen strecken. Und müßt' ich mir die Nacht auch um die Ohren schlagen. Wohlan, wohlauf, wo steckst du, Fehler, wo? Ich rechnete, ich glühte. Mir saß auf den Schultern etwas, das da grinste. Vaters Worte tönten nach: »Erklären hilft da nichts. Sie werden ihn schon selber kennenlernen, den Bilanzteufel. Es kommt ihm auf die Dauer keiner aus. Gelassenheit ist das einzige, was er nicht vertragen kann . . .«

Hm, Gelassenheit. Ruhe also, Ruhe. Addiert hinauf, hinab. Hinab, hinauf. Ruhe, Ruhe. Komisch, wie die Zahlen schauen. Die Fünfer und die Siebener waren mir doch sonst vertraut. Hat die späte Stunde sie verwandelt? Fremd sehen sie mich an, so fremd. Sind das wirklich Fünfer, echte Siebener? Hat sie mir einer nicht unter der Hand vertauscht? Und dann, was ist das eigentlich, eine Fünf? Und woher weiß man denn im Grunde, daß Fünf und Sieben zusammen Zwölf ergeben? Wer hat es denn gesagt? Der Lehrer in der Schule? Gut, und wer denn dem? Und dem und dem? Wenn die ganze Kette eine falsche Reihe wäre, bis hinab zu Adam Riese? Wenn Fünf und Sieben gar nicht Zwölfe, sondern Dreizehn wären? Wer kann im letzten Grund das Gegenteil behaupten? Mathematik? Lächerlich, auch sie ist aufgebaut auf diese Welt. Wie nun, wenn in einer andern Welt Sieben und Fünf doch Dreizehn . . . nein, Zwölf . . . nein . . . Dreizehn . . . Zwölf, sag' ich, Zwölf! . . . hähähä doch Dreizehn, Dreizehn, Dreizehn, hähähä . . . gebt jetzt endlich Ruhe, ihr Gelichter: Zahlen haben zu gehorchen, Zahlen sind des Menschen Diener – heute mehr als je, das weiß doch jedes Kind . . . aber wir haben doch in der Schule gelernt, daß . . . haha, Schule! Der Vogel ohne Schule wußte das schon besser vorhin: Die Menschen müssen schließlich werden wie die Zahlen – hab'n Sie schon zu Abend 'gessen, übrigens? . . . nein, nein, ich esse nicht, ich zwäng' euch denn zuvor . . . O armes Menschlein, kannst uns leid tun. Wir haben tausend Mittel, um dich irrezuführen . . . Zahlen, liebe Zahlen, habt ein wenig Mitleid, es ist ja meine erste Bilanz . . . hm, seine erste Bilanz – Bilanz aha, der Zwicker wackelt schon, der eingebildete – aber immerhin: 86 seine erste Bilanz – na ja, für diesmal wollen wir es gnädig mit dir machen: Wische über dein Genick!

Ich wischte über mein Genick. Ich wurde freier. Ich fragte schüchtern: Was hatt' ich denn dahinten?

Die Additionsgenickstarre – zähle noch einmal die ganze Reihe hinauf.

Tat ich doch schon fünfmal.

Tu's ein sechstes Mal.

Aber es kommt doch nur dasselbe 'raus, jammerte ich.

Tu, was wir sagen, oder –

Nein, nein, ich will ja, will ja.

Ich addierte. Die Zahlen sahen mich nicht mehr fremd an. Die Zahlen fügten sich. Die Zahlen nickten mir zu. Gutmütig nickten sie. Ha, was war das? Eine Mark weniger! Kann nicht sein. Hatte ja schon fünfmal voraddiert. Aber wenn's nun doch so – Gott, dann stimmte die Bilanz, oh oh, stimmte, stimmte . . .

Ich addierte vorsichtig. Ganz behutsam, auf Filzsohlen addierte ich. An einer Stelle hielt ich: Fünf und Sieben ist – Fünf und Sieben ist – ist Zwölf – ja freilich, Zwölf – was denn sonst? – aber hatte ich nicht vorhin Dreizehn – Gott, wie kann man nur so dumm – so hirnverbrannt – so – so – so . . . Fluche nicht, du bist der erste nicht, den wir Fünf und Sieben ist Dreizehn zählen ließen, wenn wir's wollten. Hurra, hurra, ist Zwölf, ist Zwölf, die Bilanz stimmt, stimmt, stimmt . . .1

Wie ein Verrückter tanzte ich im nächtlichen Kontor herum.

Der Vogel, vom Tarock daheim, schaute durchs Gangfenster und nickte: »Narrisch, narrisch, ganz und gar –«

»Oh Herr Vogel, ich bin –«

»– narrisch, weiß schon.«

»Nein, glücklich bin ich.«

»Ja ja, ist oft dasselbe. Jetzt gehn S' aber heim und machen sich ein' kalten Umschlag.«

»Es stimmt, Herr Vogel, stimmt.«

»Ist nur gut, daß Sie's jetzt selber einsehn. Also ganz kalt und alle fünf Minuten erneuern. Hab'n Sie jemand z' Haus, der –«

»Es stimmt, wie wird sich meine Mutter freuen –«

87 »Mutter? Dann schadt's weiter nichts, daß S' narrisch word'n sind. Dann wird schon alles wieder gut. Jetzt aber heim. Was ich noch sag'n wollt': eine Mark hab' ich g'wonnen im Tarock –«

»Ha, das ist die eine Mark, um die es nicht gestimmt hat – es stimmt – es stimmt!«

»Und hab'n Sie schon zu Abend 'gessen?«

»Es stimmt, hurra, es stimmt – Vogel, stimmen tut's – stimmen!« Ich tanze über die Steintreppe von Kramer & Friemann ins Freie, in die nächtlich stillen Straßen. Ich ging bilanzerhoben über das vertraute Pflaster, vorbei an den vertrauten Häusern, den vertrauten Türmen. Und Pflaster, Häuser, Türme nickten freundlich: Seht – da kommt er, der Bilanzler, seht, da kommt er, dem die erste Bilanz gestimmt hat . . .

Mutter war noch auf. Mutter wärmte mir das Abendessen auf. Mutter strich mir ohne Vorwurf über die Schläfe, die der Nachtwind nicht ganz kühlen hatte können –

»Mutter denk' dir, sie stimmt – meine Bilanz stimmt!«

»Ja, Bub, ja.«

»Mutter, denk' dir, fünfmal hintereinander habe ich gezählt: Fünf und Sieben ist Dreizehn – haha, Dreizehn!«

»Ja, Bub, ja.«

»Mutter, denk' dir, erst das sechstemal hab' ich's gefunden.«

»Was, Bub, was?«

»Daß es Zwölf ist, und nicht Dreizehn, Mutter.«

Sie sah mir fest ins Auge: »Wie ich dich kenne, Bub, wirst du noch oftmals Dreizehn zählen müssen, bis du Zwölf herausbekommst.«

»Wie meinst das, Mutter? Ich spreche doch von Bilanzen, von Bi–lan–zen, Mutter.«

»Ich auch, mein Sohn.«

 


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