Fritz Müller-Partenkirchen
Kramer & Friemann
Fritz Müller-Partenkirchen

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Der Schrei

In jede Lehrzeit fällt ein Schatten aus der Welt der schwülen Flüsterstraße.

Einmal hatte mich Adolf Sturmbrenner, der Volontär, doch in seinen Klub »Kopierpresse« geschleppt. Es sei ihm eine Ehre, hatte er gesagt. Da kann man nicht so sein. Ein Lehrling ist des andern wert.

Es war sehr fidel. Sturmbrenner war dort »alter Herr«. Verkehrte Welt: Bei Kramer & Friemann war er noch nicht »junger Mann«. Der Vorsitzende der »Kopierpresse«, ein bemooster Lehrling, kommandierte Salamander. Ein Lehrling besaß ein Monokel. Er wurde verdonnert, eine Lehrlingsbierrede steigen zu lassen.

»Verehrte Mitlehrlinge und Kopierpressanten«, sagte er, »Lehrjahre sind keine Herrenjahre, hat so ein blödes Huhn gegackert und ein Ei gelegt. Dieses Ei ist ein Windei. Hinten und vorn erstunken und erlogen. Warum sollten wir keine Herren sein? Niemand hindert uns daran, als dann und wann ein Prinzipal. Hochachtbare Mitlehrlinge, ich mache es kurz: Unsere Prinzipale sind aufgeblasene Despoten. Ein Verachtungsschluck ist noch zu gut für sie. Man muß sie anstechen wie Windeier. Dann kommt heraus, was in ihnen steckt: Wind vorne und Wind hinten. Ich beantrage eine Demonstration, welche dartut, daß wir freie Lehrlinge sind, und bitte um durchgreifende Vorschläge. Ich habe gesprochen. Hughi!«

Darauf wurde der mit dem Monokel zum Obervolontär mit dem Prädikat Exzellenz ernannt. Als Demonstration schlug jemand vor, sämtliche Prinzipale mit dem Bann zu 53 belegen. Aber das gab Schwierigkeiten mangels korrekter Bannstrahlausführungsbestimmungen durch einen Lehrlingspapst.

Dann wurde vorgeschlagen, die Lehrzeit abzuschaffen und die Lehrlingsbriefe zu zerreißen. Das sei, hieß es, viel zu negativ. Man müsse etwas Positives unternehmen.

Sturmbrenner sah nach der Uhr. »Nach Mitternacht was Positives?« kreischte er, vom Alkohol bespornt, »da sei er also für die Wiesenstraße!«

»Bravo!« hieß es, »bravo, Wiesenstraße!«

Manche aber schwiegen und verschwanden. Ein blutjunges Mitglied, das sie heute aufgenommen hatten, wandte sich an mich: »Entschuldigung, was ist denn diese Wiesenstraße?«

»Soviel ich weiß, nichts gutes –«

Aber Sturmbrenner hatte die Frage aufgeschnappt: »Haha, unser Jüngster weiß nicht, was die Wiesenstraße ist – hurra, ich bin für seine Wiesenstraßentaufe!«

Ich gab mir einen Ruck: »Wenn das die verrufene Straße ist, so wär' es Sünd' und Schande –«

»Ui, ui, ui, der Herr Moral!«

»– ihn dorthinzuschleifen und –«

»Ei, gehen Sie doch mit, daß Ihrem Schützling nichts geschehe«, höhnte einer.

»Ich gehe heim«, rief ich, »und er begleitet mich!«

Der Blutjunge schwankte. »Na, Muttersöhnchen«, spottete Sturmbrenner, »geh doch mit deiner Großmama!«

Es schoß ihm falsche Scham ins feuchte Jungenhirn: »Ich – ich gehe in die – in die – wie heißt sie doch –«

»Wiesenstraße – hurra, in die Wiesenstraße! – nu, Großmutter, schließen Sie sich an – Gott, machen Sie kein solches Prinzipalsgesicht – es soll ja nur ein Gänsemarsch hindurch sein – und es geschieht ihm wirklich nichts, Ihrem flüggen Pflegesöhnchen – überzeugen Sie sich, bitte . . .«

»Nein, ich brauch ihn nicht!« bemühte sich der Blutjunge männlich zu gröhlen.

Das entschied es. Ich ging mit.

Das ist jetzt einviertelhundert Jahr her. Aber es ist noch wie gestern. Jeder Schritt an diesem Abend ist mir gegenwärtig. Jede trübe flackernde Laterne unterwegs. Jedes Kneiplied, das sie in den menschenstillen Straßen mit 54 verhaltenem Uebermute sangen. Auch der Vorstadtschutzmann, der uns anhauchte: »Was wollt ihr da heraußen, marsch, ins Bett nach Hause!«

Der Zwischenfall war in der »Kopierpresse« ein für allemal vorgesehen. »Divide et impera!« schrie der mit dem Monokel, »getrennt marschieren, vereint schlagen!« Sie flatterten auseinander. Der Blutjunge flatterte mit . . . man traf sich wieder in der totenstillen Straße.

Nein, nicht still. Es flüsterte. Gestalten huschten. Licht schimmerte durch die Jalousien. Bemalte Mädchen standen in den Türen. Mechanisch öffneten und schlossen sich die dünnen Lippen: »Komm mit – komm mit . . .«

Unser Gänsemarsch jedoch ging mitten durch. Ich sah mich um. Der Blutjunge hinter mir hatte flackernde Augen. Ah, dort unten war die Straße endlich –

Holla, der mit dem Monokel war in einen offenen Hof gebogen und kommandierte mit gedämpfter Stimme einen Salamander. Aus allen Türen huschten die Bemalten, lachten, schäkerten und zogen – auf einmal saßen wir in einem schwülen Saal. Wieder öffneten sich Türen. Zutunlich kam's heran. Da – ein Schrei –

Ein Mädchen war auf meinen Schützling zugestürzt: »Willi – Bruder – du!«

Er sah sie zitternd an. Er kannte sie nicht. Eine sonderbare Aehnlichkeit hatte aus dem Himmel, durch die Nacht herunter, in die scheue Flüsterstraße hergelangt.

Der Schrei war alles. Es war genug. Er ging uns jungen Menschen durch und durch. Auch dem Sturmbrenner. Auch dem mit dem Monokel. Er hatte mehr vermocht, als alle Tugendpredigten gegen alle Flüsterstraßen der Welt. Er hat den glitzernden Nesselschleier weggezogen. Eine Welt des Jammers von im Schmutz verkrampften armen Menschen lag uns plötzlich offen. Es hat uns eisig angehaucht. Uns war, als gingen andre Lippen stille auf und zu, Mütterlippen: »Kommt – kommt . . .«

Wir kamen. Wir gingen still nach Hause.

Und hinter uns der Schrei: »Willi – Bruder – du!« Gesegnet sei der Schrei. Wir haben ihm viel zu verdanken, der Blutjunge und ich. 55

 


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