Fritz Müller-Partenkirchen
Kramer & Friemann
Fritz Müller-Partenkirchen

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Simon Raff

Einmal sah ich ihn auf einer Apfelsinenschale ausgleiten, fallen – wupp, war er wieder hoch. »Das reinste Stehaufmännchen, dieser Simon Raff«, sagte ich.

»Stehauf heißen sie ihn seit zwanzig Jahren«, sagte Buchhalter Vater, »ich selber nenne ihn den Alsojetzt.«

»Also jetzt, das ist komisch!« sagte meine Lehrlingsweisheit, »warum?«

»Das soll er selber sagen – he, Herr Raff!«

Das kleine Männchen drehte sich mäßig eilig um: »Ah, Herr Vater, was gibt es also jetzt?«

»Unsere Kunden bestellen Zucker über Zucker.«

»Also jetzt das freut mich – guten Abend also jetzt.«

»Rasend komisch!« sagte ich überlegen.

»Ich werde Ihnen was erzählen, was Simon Raffisches – wenn Sie's dann noch komisch finden, zahl' ich einen Taler.«

»Also los!«

»Also jetzt zunächst die Additionen – wie lange brauchten Sie zuletzt dafür?«

»Drei Stunden.«

»Gut, machen Sie 's in zweieinhalb.«

Gesagt, getan. »Also jetzt der Alsojetzt«, lächelte der Buchhalter, »daß er in Zucker macht, seit zwanzig Jahren, wissen Sie. Auch daß er Kommissionär ist. Kommissionär ist –?«

»– derjenige«, rasselte ich herunter, »der in fremdem Auftrag und für fremde Rechnung An- und Verkäufe tätigt.«

»In eigenem Namen, Verehrter, sonst sind's nur Agenten ohne Risiko. Das Risiko entscheidet. Zwei große Gruppen gibt es in der Kaufmannswelt. Solche mit und solche ohne Risiko. Die ›ohne‹ sind die Kärrner. König sind die ›mit‹.«

»Na, König dieses kleine Männchen –?«

»Er trägt seine Krone innen, nach außen ritzen nur die Zacken – sahen Sie die hundert Krähenfüße nicht?«

»Doch. Er muß viel durchgemacht –«

178 »Im Grund nur eines: Risiko.«

»Also ein Spekulant?«

»Ja und nein. Ja, weil bei bewegten Zuckerpreisen das Spekulative sich von selbst ergibt. Nein, weil ihm fehlt, was Spekulantentum so häßlich macht: die Sucht, rasch und ohne Mühe reich zu werden.«

»Was treibt ihn dann zum Risiko?«

»Das Risiko.«

»Das verstehe ich nicht, Herr Vater.«

»Ist keine Schande. Aufgepaßt: Was hielten Sie von einem pensionsberechtigten Dichter?«

»Nichts.«

»Und von einem Bauern, der sein Korn im sicheren Gewächshause zöge?«

»Noch weniger.«

»Der Simon Raff am wenigsten. Er hat was von einem Dichter und von einem Bauern. Sicher ist ihm nur die Saat. Dahinter aber schillern alle Möglichkeiten. Er braucht das Risiko. Unsicherheiten locken ihn. Geschäfte sind ihm nicht Gelegenheiten zu verdienen, sondern so viel Fragen an das Schicksal. Schauer überlaufen ihn vor Lebensfreude: Was wird sein, wenn ich die Karte wende? Was, wenn jene? Es prickelt ihm im Blut –«

»Mir auch, Herr Vater«, ist es mir entfahren.

Er sah mich lange an: »Das kann sich nur erlauben, wer außerm Prickeln auch das Alsojetzt im Blut hat, wie der Simon Raff.«

»Verstehe ich wieder nicht, Herr Vater.«

»Sie werden's, wenn Sie mehr von Simon Raff erfahren.«

»Ach ja, ich bitte drum, Herr Vater.«

»Morgen, wenn Sie wieder eine halbe Stunde eingespart mit fixer Arbeit – alles will verdient sein, junger Mann.«

Andern Tags legte ich mich kräftig in die Riemen. Buchhalter Vater schaltete eine Belohnungspause ein. »Dieser Simon Raff«, begann er, »ist ein Mensch, der –«

Rrrr, das Kassentelephon: »Hier Kassierer Brandmann, ist Konto Simon Raff glatt?« – »Bis auf einen kleinen 179 Provisionsvorschuß, der sich bei der nächsten Abrechnung ausgleicht.« – »Gratuliere, Raff hat umgeschmissen!«

Vater sah mich an: »Raff erzählt sich selber. Wenn Sie's noch komisch finden, zahl' ich meinen Taler.«

Ich schüttelte den Kopf: »Ein Bankrott ist schrecklich, nicht wahr?«

»Nur der erste. Vom dritten ab gewöhnt sich's. Der da ist dem Raff sein sechster oder siebter.«

»Wie kann er's nur ertragen?«

»Wir wollen ihn mal fragen heute abend in der ›Gelben Jacke‹.«

Mit einem leichten Schauer trat ich in das Hinterstübchen der Gelben Jacke. Da wird er sitzen, dachte ich, gebrochen und geschlagen, Tränen und Verzweiflung in den Augen. Und der gute Vater wird versuchen, ihn moralisch aufzufrischen.

Aber das Hinterstübchen war leer. »Dort in der Ecke ist sonst sein Platz«, sagte die Kellnerin. Sonst? Ich mußte an die kalte Isar denken.

Aber da stand er in der Türe, klein, beweglich, unertrunken. Vater streckte ihm die Hand hin: »Ich kondoliere.«

Er riß die Augen auf: »Kondolieren? Ja ja, das war gestern, daß ich den Konkurs erklären mußte. Blöde Sache. Zuckerpreis wie toll gefallen. Ganz gegen meine Berechnung. Sage Ihnen, hatte alles kalkuliert, Ernteaussicht, Börsenpositionen, Vorratsschätzung. Totsicher hätten Preise steigen müssen. Wirft auf einmal Kuba seinen Zucker nach Europa statt nach der Union. Einfach Wahnsinn. Aber nichts zu machen. Wie 'n Kartenhaus klappte die Zuckerbörse zusammen. Toll sag' ich Ihnen, wie die Menschen schrien. Arme Teufel. Können einem Leid tun.«

»Und Sie selbst, Herr Raff –«

»Ich? Gott – man muß es nehmen, wie es ist. Ich täte mir leid, wenn ich mir leid täte. Hab' ich etwa die Preise fallen lassen? Ohne Kuba hätt' ich recht gehabt, blödsinnig recht. Also das ist abgetan. Also jetzt, was halten Sie davon, ob Zucker weiter fällt?«

»Also jetzt«, wiederholte Vater und blickte mich bedeutsam an, »also jetzt halte ich zunächst dafür, daß wir uns setzen.«

180 Im Sitzen entwickelte er uns neue Pläne. Ein jeder fing mit »Also jetzt passen Sie auf« an. Ein jeder schloß mit »Also jetzt habe ich nicht recht?« Nach einer Viertelstunde schwammen wir in lauter Zucker. Die ganze Welt war Zucker für den Simon Raff. Was es etwa sonst noch gab, schlenkerte bedeutungslos herum um seinen Zucker.

»Also jetzt«, schloß er, »ist es unvermeidlich, daß der Zucker wieder hoch geht. Also jetzt könnte man sich, sagen wir fünfhundert Sack Rendement 88, Ultimo Dezember, hereintun, was meinen Sie also jetzt, Herr Vater?«

»Ich meine, daß Sie von Zucker Ihre Finger lassen sollten.«

Das kleine Männchen blickte erstaunt: »Also jetzt, das finde ich sonderbar, wo ich doch seit vierzig Jahren Zucker handle. Als ob ich ohne Zucker leben könnte.«

»Sollen Sie auch nicht. Nur für eigene Rechnung sollen Sie nicht handeln –«

Simon Raff schlug auf den Tisch: »Bin ich ein Dutzendkommis, he! Ich bin ein Zuckermensch, ein freier, und kann kaufen und verkaufen, wie ich –«

»Vorerst haben Sie Konkurs, Herr Raff.«

»Ich werd' mich wieder in die Höhe raffen. Ich werde auf Kramer & Friemann verzichten können und –«

»Verstehen Sie mich recht, Herr Raff, für Ihre alten Tage sollen Sie sich's doch behaglicher –«

»Bin nicht fürs Behagliche.«

»– und sichrer machen können.«

»Bin nicht für fade Sicherheiten.«

»Wofür sind Sie denn?«

»Für Zucker.«

»Nun gut, was haben Sie davon?«

In den grauen Augen des Männchens glomm ein fernes Feuer auf: »Was ich davon habe? Sie haben, scheint es, nie von Raff gehört und seinem großen Zucker Corner, he . . .«

Mit steigender Begeisterung erzählte er von einer Zuckerschwänze, die den Zucker eines Erdteils in ein Lager sperrte, um die Preise zu diktieren. »Zuckerkönig war ich, wissen Sie, was das bedeutet?«

181 Vater nickte ängstlich, suchte abzurücken, aber, warm geworden, umstellte ihn der Alte mit immer glühenderen Schilderungen seiner Zuckerherrlichkeit von damals. Unter einem Vorwand schlüpften wir ins Freie. Er rief uns nach: »Also jetzt, ich gehe in die Hausse, hängen lass' ich mich, wenn ich nicht einen zweiten Zuckerring zustande bringe . . .« Vater zog mich eilig fort. Unter einer spitzig brennenden Laterne hielt er: »Welch ein Jammer!«

»Jammer?« widersprach ich, »einmal war er doch Zuckerkönig.«

»Er? Gott behüte! Ein kleiner Spekulant, nichts weiter!«

»Und der Zuckerkönig Raff?«

»Ein Namensvetter. Solange hat er des Berühmten Zuckerstreich sich vorgeredet, bis er sich mit ihm verwechselt hat. Es ist kein Zweifel, der Bankrott hat ihm den Kopf verwirrt.« Traurig senkte er den Kopf: »Er tut mir leid. Er ist nicht verächtlich. Er war reich. Er hat sich nichts gegönnt. Aermer lebte er als ich und Sie. Stoff zu einem großen Kaufmann war in ihm. Aber der Sinn für Fährlichkeiten hat ihn krankhaft überwuchert. Armer Raff, trotz deines Also jetzt: diesmal wird's das Ende für dich sein . . .«

Es war nicht das Ende. Hamburger Verwandte setzten ihm eine kärgliche Pension aus. Täglich ging er weiter an die Zuckerbörse. Der Türhüter sperrte dem fadenscheinigen Rock den Eingang. Aber ein großer Zuckerherr schaffte ihm ein Plätzchen neben einem Börsenpfeiler in der dunkelsten Ecke. Dort stand er stundenlang und horchte auf das Tosen der steigenden und fallenden Märkte. Wenn eine Pause eintrat, machte seine dürre Hand eine weltumfassende Bewegung, und seine dünne Stimme piepste winzig: »Also jetzt, ich nehme tausend Sack Rendement 88 Ultimo Dezember – ich nehme zweitausend – ich nehme fünftausend – ich nehme zehntausend – ich nehme hunderttausend Ultimo – wer also jetzt, wer . . .?«

Sie ließen ihn gewähren. Sie wußten, warum. Wenn im Gebrüll der Zuckerschlachten einer sich zu weit ins schwanke Land des Ultimos wagen wollte – ein scheuer Blick in jene dunkle Ecke, wo eine alte Zuckerruine krächzend mit sich selber spekulierte, und die Zügel waren wieder fest. 182

 


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