Fritz Müller-Partenkirchen
Kramer & Friemann
Fritz Müller-Partenkirchen

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Die Rede

Im letzten Jahre meiner Lehre bei Kramer & Friemann erhielt ich einen Fragebogen: Die höhere Handelsschule bittet ihre ehemaligen Schüler, aus ihren Kaufmannserfahrungen mitzuteilen, a) ob die auf der Schule vermittelten Kenntnisse den praktischen Anforderungen entsprachen, b) wenn nicht, b) 1. warum? b) 2. welche etwaigen Aenderungsvorschläge Angefragter zu machen hätte, b) 2. alpha) mit Rücksicht auf das allgemeine Unterrichtsgefüge, b) 2. beta) mit Rücksicht auf die handelstechnischen Fächer, b) 2. gamma . . . delta . . . Ja ja, es war ein langer Fragebogen.

Und er war mehr als lang, er war vom alten Rektor gut gemeint. Er war mehr als gut gemeint, er war unerhört. Daß eine unfehlbare Schulbehörde Rat bei alten Schülern suche, wie man's besser machen könne, bei Schülern, die man – wenn sie jetzt auch Prokuristen oder Prinzipale waren – seinerzeit in den Karzer hätte sperren können, wenn sie sich unterfangen hätten, etwas besser als die Lehrerschaft zu wissen, das war, das war – nun kurz und gut, der alte Rektor wurde von der Oberschulbehörde abgesägt. Grund a) offiziell: Amtsmüdigkeit, b) unter uns: Der Fragebogen. Und als ich eben dran war, diesen Fragebogen gewissenhaft zu füllen, kam vom neuen Rektor seine erste Amtsverfügung: »Werter Herr! Den Ihnen zugegangenen Fragebogen wollen Sie als ungeschrieben ansehn. Achtungsvoll: der Rektor. Bumm.«

Wenn ein Rektor Bumm heißt, schlägt schon sein Name jede Antwort tot. Gar wenn die Antwort kritisch wäre. Aber dann kam noch etwas Gedrucktes: »Zur Schulentlassungsfeier der Absolventen wird Euer Wohlgeboren Erscheinen anheimgestellt. Achtungsvoll: Der Rektor. Bumm.«

Anheimgestellt ist ein kurioses Wort. Wenn man's ehrlich auseinanderfaltet, heißt es: Sie haben zu erscheinen und im übrigen das Maul zu halten. Wenn man über vierzig ist, wie heute ich, so weiß man das. Damals aber war ich noch nicht zwanzig. Also überlegte ich: »Anheimgestellt? Famos, vielleicht bietet sich dann mündliche Gelegenheit, den ausgefallenen Fragebogen auszufüllen. Denn ich hatte 168 manches auf dem Herzen, a) und b) und c) und alpha, beta, gamma, und ich hielt's für meine Pflicht zu – nun ja, was ein junger Mensch im Weltverbesserungsalter eben für seine Pflicht hält.

Der Tag war da. Die alte Aula umfing mich wieder mit dem alten strengen Zauber. Die beiden grünen Säulen vor dem Rednerpulte präsentierten das Gewehr. Alpha stand golden auf der einen, auf der andern Omega. Zwischen Alpha und Omega sprach der neue Rektor und hörte nicht mehr auf. Nach jedem Absatz dachten wir aufschnaufend: Gott sei Dank bumm. Er aber, Bumm, begann den nächsten Absatz. Eine ausgedörrte Bartflechte von verschiedenen Geisten, in denen er die Anstalt zu leiten gedachte, hing nach einer Stunde vom Katheder. Und noch immer neue Geiste kamen.

Ein Schüler war ohnmächtig geworden. Man führte ihn hinaus. Der Rektor redete.

Der Schönschreiblehrer war ohnmächtig geworden. Man führte ihn hinaus. Der Rektor redete.

Der Primus der Oberklasse war ohnmächtig geworden. Man führte ihn hinaus. Der Rektor schaltete in seine Rede, das ginge nicht, der Primus habe ja nach ihm die Schülerrede –

»Ruhig Blut«, hörte ich neben mir den Sprachlehrer zum Zeichenlehrer sagen, »ruhig Blut, bis unser Rektor oben fertig ist, erwacht der Primus pumperlg'sund aus seiner dritten Ohnmacht.«

Der andere seufzte: »Da war unser alter Rektor doch ein andrer. ›Ja ja, nein nein, was darüber ist, ist vom Uebel‹, pflegte er zu sagen und ›Ja, und wenn schon reden‹, sagte er ›nicht vergessen, daß man mit zehn Sätzen tiefste Weisheit ausschöpft, mit dreißig eine Sache von Bedeutung, mit fünfzig eine Alltäglichkeit, und von hundert Sätzen ab begännen Nichtigkeiten‹.«

»Bscht, wenn's ein Schüler hörte – ah Sie sind es, Müller – na wie geht's? – schon Prokurist geworden?«

»Auf dem Weg dazu. Meine Lehre wird in diesem Sommer aus.«

»Na, da haben Sie wohl manches anders vorgefunden, 169 wie die Schule lehrte – was gibt's da vorne – ist er noch nicht fert –«

»Doch, soeben. Er wütet, weil die Schülerrede ausfällt – he Müller: und wenn Sie einsprängen?«

Möglich, daß er Scherz gemeint hat. Ich meinte Ernst und nickte. Der andere lief zum Rektor. Der nickte gleichfalls und verkündete: »An Stelle des erkrankten wird ein alter Schüler ein paar Worte . . .«

Ich schlängelte mich wie im Traume durch die Reihen. Jetzt war noch der Weg von einer grünen Säule zu der anderen zu machen, von Alpha bis nach Omega, und mir war das Herz so voll, so eifrig voll . . .

». . . und weil ich als alter Schüler dieser Anstalt weiß, wie viele brave Reden von diesem Platz gehalten wurden, Reden nach doppelt korrigiertem Konzept, kann's nicht schaden, wenn man ausnahmsweise eine Stegreifrede . . .«

Erstaunte Gesichter. Tuscheln. Hochgezogene Augenbraunen. Mich aber stieß das junge Herz fast übermütig an die Innenbrust:

». . . nicht als liebte ich die Anstalt nicht. O nein, sie hat mir viel gegeben, viel. Aber wen man liebt, dem muß man auch die Wahrheit sagen. Lieber hätte ich sie geschrieben, ich und viele andre, denen Fragebögen zugekommen sind. Die Fragebögen unsres lieben alten Rektors, dem sie ohne Sang und Klang den Laufpaß gegeben haben. Den sie ersetzen durch den neuen Rektor, unsern vielgehaßten Rechenlehrer Bumm . . .«

Wellen gingen durch den Saal und brandeten ans Pult. Ich aber war im Zug und steuerte mein Pultschiff durch die Brandung.

». . . Ja, vielgehaßt. Einmal muß es doch heraus. Wann erführen sonst die Lehrer, ob man sie haßte oder liebte! Die Lehrerwahrheit regnete das ganze Jahr auf unsre Köpfe. Am Schluß des Jahres bittet auch einmal die Schülerwahrheit um das Wort. Das lange liebe Jahr sind wir zensiert worden. Jetzt teilen wir ein Zeugnis aus. Ich bin kein Schüler mehr. Mich hat des Lebens Ernst in meiner Lehre schon mit manchem Flügelschlag gestreift. Offen darf ich reden. Denn ich liebe meine alte Schule. Den alten Rektor liebe ich von 170 ganzer Seele. Sein gütig-offenes Gesicht hat weit in meine Lehrzeit nachgeleuchtet. Viel haben wir bei ihm gelernt von Dingen, die im Lehrplan stehen. Und noch mehr von Dingen, welche nicht drin stehn. Hoch unser alter lieber Rektor . . .«

Brausen in der Aula. Hochgehobene Hände. Eingeflochtene Zischer.

». . . den neuen aber lieb' ich nicht. Keiner, der ihn liebte, wenn er parteiisch seine Noten in das Büchlein malte. Wenn er hämisch immer wieder zu beweisen suchte, daß wir Ochsen wären, statt uns den Mut zu heben in der verflixten Wechselarbitrage. Ueberhaupt die Arbitrage! Ich hab' herumgehorcht bei Banken. Ausgelacht hat mich ein alter Bankmann: Arbitragen würden, wenn es hochkommt, von sechs auserwählten Köpfen durchgeführt im Reich. Von sechs, derweil im Jahre zweimalhunderttausend Handelsschüler hoffnungslos die Köpfe dran zermartern müßten. Ist das nicht ein Unfug? Dinge aber, die wir draußen nötig haben, wie das liebe Brot, bekamen wir nicht zu sehen. Oder hätte je Professor Bumm ein Wechselformular, eine Aktie, eine Schuldverschreibung in der Klasse zirkulieren lassen! Wie hat der Erdkundenlehrer alle Bergspitzenhöhen, alle See- und Ozeantiefen hundertfach uns schwitzen lassen, und von modernen Handelswegen, von der Erde überhaupt als hämmernde, dampfende Arbeitsstätte haben wir so viel wie nichts erfahren. Die Atomgewichte des Bariums und des Strontiums und der Hallogene haben wir herunterschnurren müssen, Dinge, deretwegen nie das Leben oder Prinzipale uns verhören werden. Dinge aber, die uns Jungkaufleuten zwischen Haut und Knochen zu liegen kommen sollten, wurden kaum gestreift. Oder hätten wir vom Gang der Weizenernte um die Erde etwas vernommen? Je vom ersten Zink- und Zuckerland der Erde was gehört? Woll- und Baumwoll-, Leinen-, Seidenfasern jemals griffig mit den Fingerspitzen unterscheiden lernen oder Chinatee von Ceylontee? Freilich hat man uns dafür mit Brechungsformeln bikonvexer Linsen regaliert und den Pythagoras in Grund und Boden hinein beweisen lassen, auf dreizehn Arten, eine mehr als der Professor selber konnte. Und wie ist es in den Sprachen erst gewesen? Sprache kommt von sprechen. Hatten wir gesprochen? Regeln übern 171 Konjunktiv und über die Veränderung des Participe passé hatten wir auswendig gelernt, Schlachtensätze hatten wir gedrechselt und die Heldentaten der Jungfrau von Orleans hatten wir auf englisch und französisch abgeleiert. Nein, ich dürfte doch nicht ungerecht sein, eines Satzes aus dem praktischen Leben erinnerte ich mich doch noch. Im Plötz auf Seite 93 stünde er und laute: Das junge Huhn des alten Kapitäns ist im Hafen von Genua gestorben. In meinen drei Lehrjahren bei Kramer & Friemann habe ich manchen Auslandsbrief gelesen. In keinem einzigen sei vom jungen Huhn des alten Kapitäns auch nur die Spur gewesen. Aber vielleicht käme das daher, weil es im Hafen von Genua gestorben sei? Wollte Gott, es wäre so. Aber es wird jedes Jahr im Unterricht neu ausgegraben und verdickt weiter die Grammatikluft . . .«

Im Saale ein beklemmend Schweigen. Blitzartig fiel mir ein: »Von hundert Sätzen ab beginnen Nichtigkeiten.« Ich mußte eilen.

». . . die Grammatikluft sei nicht das einzige. Es gäbe Lehrer an der Schule, die hätten uns das geistige Gerüst spröde gemacht mit Paragraphenrippen statt elastisch für den Kampf des Lebens. Wenn das Leben draußen manchem seine Rippen bräche, statt zu formen, müßte mancher quälerisch verdorrte Lehrer an die seinen schlagen: Meine Schuld! Gott sei Dank, an dieser Anstalt sei die große Mehrzahl der Lehrer anders. Seien so, daß wir sie hätten lieben und verehren können. Seien so, daß ihre Worte und ihr Beispiel uns ein Stab gewesen seien in der rauhen Lehrzeit draußen. Ihnen schlagen unsre Herzen zu, wie auch unsre Lebenskähne draußen schaukeln müßten. Ihre Tüchtigkeit und ihre Güte wollen wir mit treuer Arbeit draußen lohnen. Und wären wir auf Grund derselben was geworden draußen – manchmal trotz der Schulzensuren und öfter noch nach manchem Strauß und Straucheln – so vergäßen wir die Lehrer nimmermehr und die anderen – auch nicht! – hoch die Schule!«

War das ein Schreien und ein Rufen. Hände winkten. Fäuste ballten sich zum Pult hinauf. Der Rektor schrie nach dem Pedell, er solle mich herunterreißen, zwei, nein, drei 172 Tage in den Karzer werfen. Gelächter auf der andern Seite. Handgemenge. Knäuelweise wälzten sich Versammlungsteile auf die Straße. Schutzmannshelme blitzten auf. –

Sonderbar, wie dick der Schutzmann war. Fast so dick wie eine Säule. Und die Uniform war grünlich marmoriert. Und das Blitzende darüber war kein Helm, sondern ein Goldbuchstabe. Ja, jetzt ward es deutlich, das – Omega auf der zweiten grünen Säule, die ich auf dem Wege zum Katheder zu umwandern hatte. Und erst auf der letzten Treppenstufe ward es mir bewußt, daß ich die ganze große Rede, die mir zwischen beiden grünen Alpha- und Omegasäulen durch den jungen Brausekopf geschossen, noch nicht gehalten hatte, jetzt erst halten mußte. Jetzt, da ich verschüchtert vor den vielen Leuten, die rundum auf mich starrten, meinen Lehrlingsmund langsam auftat und ein wenig zitternd sagte:

»Verehrte Lehrer, liebe Eltern und Schüler! Als ehemaliger Schüler dieser Schule bitte ich Sie, mit mir einzustimmen in den Ruf: Die Schule, die geliebte Schule, die uns in treuer Arbeit so viel auf den Weg gab, lebe hoch!«


Benommenen Kopfes ließ ich mich von der abziehenden Menge die ausgetretene vertraute Treppe hinunterspülen. Eine Hand legte sich mir von hinten auf die Schulter. Es war der Zeichenlehrer: »Bravo, Müller, schon unser alter Rektor sagte, ein Satz sei besser als zwei, zehn besser als zwanzig, von hundert nicht zu reden. Wenn man den langen – bscht – den langen Sums von vorher gegenhält, so war Ihre Rede – wollte sagen, Ihr Satz, so übel nicht, machen Sie so weiter, junger Mann . . .«

 


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