Fritz Müller-Partenkirchen
Kramer & Friemann
Fritz Müller-Partenkirchen

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Im Keller

Als ich bei Kramer & Friemann in die Lehre trat, war ich siebzehn Jahre alt und frisch aus der Handelsschule entlassen worden. Mit einem Zeugnis, »das sich gewaschen hatte«, wie mein Vormund sagte, als er mich bei der Firma unterbrachte. Montag früh um acht Uhr trat ich an. Ein wenig bänglich stand ich vor der Türe. Den Jungenfilzhut hatte ich schon abgenommen, drehte ihn in meinen Händen und wiederholte mir noch geschwind im Geiste die Regeln der indirekten Wechselarbitrage. Die indirekte Wechselarbitrage war das Schwierigste, was wir in der Schule gelernt hatten, und ich hatte einen »Einser« darin. Wer weiß, so dachte ich, wer weiß, vielleicht, daß dich der Herr Kramer gleich in der ersten Stunde danach fragt.

Als ich auf die Klinke drückte, fielen mir noch blitzartig die 14 sämtlichen Schwefelverbindungen ein. Die sämtlichen Schwefelverbindungen hatte ich in der mündlichen Abgangsprüfung aufsagen müssen. Der Herr Friemann von Kramer & Friemann konnte mir ruhig in den Schwefelverbindungen auf den Zahn fühlen, dachte ich noch – ich hatte ein gutes Gewissen.

Und dann ging die Klinke nieder, und ich stand im Kassaraum von Kramer & Friemann. Menschen rannten hin und her. Türen knallten zu. Geld erklirrte auf den Marmorbänken von den Schaltern. Laute, leise Stimmen kreuzten in einem Knäuel. Ich selber war im Nu hineingewickelt in dies Knäuel und hatte keine Ahnung von dem Lauf und Sinne der gekreuzten Fäden.

»Es tut mir leid«, ertönte eine Stimme, »bei Zucker und bei Anguillotti können wir unmöglich mehr als ein Prozent Skonto geben.«

»Wenn Sie meiner Konkurrenz auch liefern«, klang es von einem andern Schalter, »kann ich nichts mehr von Ihnen beziehen.«

»Wallner!« rief eine tiefe Stimme, »rasch in die Buchhaltung mit dieser Aufstellung – nachsehen, ob vorher etwas offensteht!«

»Rrrrr . . .!« das Telephon.

»Benner, sehen Sie nach, ob die Sultaninen mit Begleitschein 1 oder 2 reisen!«

»Nein, sie sind schon im Dreimonats-Zollager . . .« Anguillotti? Offenstehen? Begleitschein 2? Dreimonats-Zollager? Ich machte große Augen. Die Wörter drangen auf mich ein wie Feinde. Die Wörter hatten wir ja noch gar nicht in der Schule gehabt! Wie soll ich da bestehen?

Ja, wenn von Schwefelverbindungen die Rede gewesen wäre oder von dem Konjunktiv nach Verben, »qui expriment un mouvement de l'âme« oder meinetwegen von den Atomgewichten oder den Ausdehnungskoeffizienten nach dem Gay-Lussac-Mariotteschen Gesetz, oder am liebsten von der indirekten Wechselarbitrage, in der ich einen Einser hatte . . .

»Was wollen Sie?« sagte die dünne Stimme eines dicken Menschen mit einem Federhalter hinterm Ohr.

15 Ich sah ihn ganz erschrocken an.

»Ich?« sagte ich unsicher.

»Natürlich, wer denn sonst, wenn ich mit Ihnen spreche?«

»Ich – ich will Herrn Kramer sprechen«, stotterte ich.

»Herr Kramer ist verreist.«

»Dann Herrn Friemann, bitte.«

»Herr Friemann ist seit fünfzehn Jahren tot.«

Mein Filzhut war in meinen Händen in eine rasende Drehbewegung gekommen. Jetzt fiel er zu Boden.

»Tot?« sagte ich verlegen und machte runde Augen.

»Gewiß«, ging es spöttisch weiter, »aber deswegen brauchen Sie nicht mehr zu trauern. Ich nehme an, daß Sie nicht wegen eines Kondolenzbesuches hier –«

»Herr Dessauer«, mengte sich hier eine tiefe Stimme ein, »jagen Sie dem jungen Menschen keine unnötige Angst ein. Sie können doch ungefähr erraten haben, daß dies der neue Lehrling ist, der heute eintritt, – nicht wahr, Herr, nicht wahr, Müller?«

»Ja ja, ja freilich«, sagte ich und atmete auf.

»Also schön, ich bin der Prokurist. Ist recht, daß Sie da sind. Denke, wir kommen gut aus –«

»Gewiß, gewiß«, sagte mechanisch und eifrig mein Kopf. Der Prokurist lächelte.

»Ist gut. Hoffentlich bringen Sie bessere Vorkenntnisse mit, als Lehrlinge so gemeinhin haben –«

Als ich wieder nickte, fielen mir zwangsweise wieder alle Schwefelverbindungen ein, und die indirekte Wechselarbitrage leuchtete fern am Horizonte auf. Aber ich sagte nichts. Er sollte nur fragen, dann würde er schon sehen.

»Als jüngster Lehrling kommen Sie zunächst zur praktischen Arbeit in den Keller zu Herrn Bichlsberger – kommen Sie mit!«

Er war schon an der Türe. Ich mußte laufen, so schnell ging er. Mit einem Aufzug fuhren wir in die Tiefe. Das Herz klopfte mir. Es war so dunkel. Wenn ich da an die hellen Schulsäle dachte . . .

Unter einer Gasflamme stand ein dicker kleiner Mann.

»Bichlsberger, warum zischt das Gas so? Kleiner drehen, kleiner drehen – so, hier ist der neue Lehrling – nehmen 16 Sie ihn tüchtig ran – Nacken steif, junger Mann, und Augen auf – adieu.«

Er fuhr wieder mit dem Aufzug in die Höhe.

»Wie hoassen S'?« fragte der Herr Bichlsberger.

»Mein Name ist Müller«, sagte ich etwas gemessen.

»Da herunten brauchen S' net a so hochdeutsch z'red'n, Miller – so, und jetzt können S' glei' anfanga mit die Ultramarinstranizen.«

Ultramarinstranizen? Was war das nur? Davon hatten wir nie etwas in der Schule –

»Aber halten S', mit dem Gwaanderl, mit dem feinen, können S' net arbeit'n da herunten. Ziag'n S' 'n Rock aus – so, jetzt die grüne Schürzen – na na, mei Liaber, die alte – die neue g'hört vorderhand noch mir, wenn S' es derlaub'n – so, und jetzt tuan S' in alle die Stranizen da immer fünf Pfund Ultramarinblau hinein, ham S' verstand'n, Numera Null Null – das Auswieg'n können S' doch hoffentlich?«

Ich sah angestrengt auf die Wage.

»Nein, das haben wir nicht in der Schule durchgenommen«, sagte ich gepreßt.

»Ja, was ham S' denn nacha g'lernt in Ihrer Schul'?« sagte der Kellermeister Bichlsberger respektlos. Ich sah ihm gerade ins gutmütige Gesicht.

Sollte ich dem das von den Atomgewichten erzählen und von den Ausdehnungskoeffizienten der Gase?

Aber da fing er schon an, mir das rasche und genaue Wiegen zu erklären. Einen Papiersack nach dem anderen füllte ich. Der fünfte riß – blau puffte es mit dumpfem Knall auf den Boden – blau stäubte es nach allen Seiten – blau wurde mir vor meinen Augen –

»Dappete Händ ham S' halt noch a bissel«, sagte der Kellermeister und zeigte mir, wie ich zusammenfegen mußte. Mitten unterm Fegen fiel mir ein:

»Dazu also hast du dein Einjähriges gemacht – dazu bist du der Zweitbeste im Examen geworden – dazu . . .«

»A bissel g'schwind, Miller, hopplahopp, a bissel g'schwind – bei uns herunten wird fei net' träumt.«

17 Und mein Besen fegte, daß es eine Freude war. Nein, daß es eine Trauer war.

»Bimbim!« Es war das Kellertelephon.

»Hier Bichlsberger – was ist denn scho' wieder? Was ham S' g'sagt? Ob die Ultramarinstranizen no' net fertig san? Ja mei', da müss'n S' no' a wenig warten – der neue Lehrling stellt sich no' a bisserl – no a bisserl tramhappert an . . .«

Das war kein schöner Vormittag. Wenn das so weiterging in meiner Lehre? In so und so viel Stunden so und so viele Tüten mit Ultramarinblau füllen. Dann, als ich endlich fertig war, kam das Ultramaringrün an die Reihe. Und die letzte Stunde vor dem Mittagessen mußte ich Pakete schnüren. Es waren lauter Geheimnisse für mich. Ich schwitzte.

»Auf die höheren Schulen heitzutag krieg'n die jungen Leit lauter damische Finger«, begleitete der Bichlsberger meine vertrackten Paketverknotungen. Dann schlug es endlich zwölf Uhr.

»Bringen S' heit nachmittag ein ordentliches Arbeitsgwaandl mit«, sagte der Kellermeister. Und ich wünschte ihm noch, wie es sich gehört für einen gebildeten jungen Mann:

»Herr Kellermeister, guten Appetit!«

»Hier wird nix verschitt',« sagte er und ging.

Aus dem Flur traf ich einen andern Lehrling. Der war durch meinen Eintritt vom jüngsten Stift eine Stufe aufgerückt. Jetzt war ich der jüngste Stift. Herablassend kam er auf mich zu und kniff ein Auge zu:

»Gestatten – Adolf Sturmbrenner – habe ich die Ehre, mit Herrn Müller, dem neuen – dem neuen Volontär – äh?« Wie nobel klang dies »Volontär«, und wie gewöhnlich hörte sich »der Lehrling« an. Und dieser Adolf Sturmbrenner – endlich ein gebildeter Mensch. Er ging den gleichen Weg mit mir. Er legte hinterm Marienplatz die Hand auf meine Schulter:

»Na, Sie werden sich eingewöhnen, Herr Kollege«, sagte er leutselig, »in welcher Abteilung stecken Sie eigentlich?«

»Beim Kellermeister«, sagte ich kleinlaut.

»Aha, Bichlsberger – dicker Prolet – kondoliere, Herr Kollege.«

18 Und dann wurde er vertraulicher. Er teilte mir mit, daß er bei Kramer & Friemann nur auf dringendes Verlangen der Firma eingetreten sei, daß er aber das eine schon heraus habe: in dem Hause sei nicht alles wie es sein sollte. Oder ob das etwa bei einer bedeutenden Firma richtig sei, daß der verstorbene Inhaber Friemann ein halber Idiot gewesen wäre –?

»Halber Idiot?« sagte ich, »woher wissen Sie –?«

»Na, man weiß so manches – übrigens der andere, der Kramer – unter uns – auch nicht viel los –«

»Aber wie kommt es, daß die Firma doch so einen großen Ruf hat? Da sind wohl die Prokuristen sehr –?«

»Die Prokuristen? Lassen Sie mich aus, Herr Kollege. Der erste Prokurist, der Sie heute morgen führte – Mathis heißt er – ich sage Ihnen – doller Schwachkopf – weiter nichts als doller Schwachkopf . . .«

Und dann machte er so nach und nach das ganze Haus herunter. Ich wußte nicht recht, was ich denken sollte. Bis es mir einfiel, daß da eigentlich nur mehr der Volontär Adolf Sturmbrenner übrig bliebe, der was taugte, auf dem die ganze Last des Hauses ruhte. Halb zweifelnd, halb bewundernd sah ich ihn von der Seite an.

Schneidig war er, das war wahr. Eine große Krawatte hatte er mit grünen und roten Tupfen drauf, und einen pickfeinen Spazierstock mit einem silbernen feudalen Griff schwang er immerfort im Gehen.

Ich fühlte mich arg im Hintertreffen ihm gegenüber. Und um nicht ganz hinter seiner überragenden Bedeutung zu verschwinden, schaltete ich ein:

»Haben Sie auch mit indirekten Wechselarbitragen zu tun, Herr Sturmbrenner?«

»Massenhaft«, sagte er, »massenhaft, sage ich Ihnen, seitdem das Schaf von einem Hauptbuchhalter immer diese Böcke mit den Effektenzinsen geschossen hat.«

»Effektenzinsen?« sagte ich erstaunt, »Effektenzinsen kommen doch in indirekten Wechselarbitragen gar nicht vor, Herr Sturmbrenner?«

»Nicht vor?« Einen Augenblick schien er verlegen zu werden. Aber er hatte sich schnell gefaßt.

19 »Sehen Sie, das ist es ja gerade, daß das diesem Menschen nicht einmal bekannt war.«

Nachmittags mußte ich im Keller die Brutto- und Nettogewichte der Sesamölfässer auf einer Liste aufschreiben. Als dies vorbei war, sagte Herr Bichlsberger:

»So, Miller, jetzt müssen S' lernen, wie man die Hering' von die Tonnen in die kleinen Fässerln umpackt.«

»Was?« sagte ich empört, »Heringe soll ich packen?«

»Ja, Miller, das ist eine von de allerschwersten Arbeiten, und eigentlich sollten Sie erst in ein paar Wochen drankommen.«

Er sah ganz ehrlich und gutmütig aus. Wahrhaftig, der Mensch glaubte gar noch, daß er mir einen Gefallen täte.

»Geben Sie sich keine Mühe, Bichlsberger«, sagte ich eisig, »Heringe packe ich nicht. Hat vielleicht je der Herr Sturmbrenner Heringe packen müssen?!«

»Der Sturmbrenner? Nein, der hat nie Heringe gepackt.«

»So – und warum soll ich das tun, und der nicht?«

»Den hat man überhaupt zu nix brauchen können, weil er a – a Windhund ist.«

»Bim – bim«, kam das Telephon.

»Hier Bichlsberger – was ist scho' wieder los? So, zum Herrn Mathis soll ich kommen? Ja ja, sofort.«

Rasch hatte er die grüne Schürze abgelegt, den guten Rock aus seinem Kellerschrank genommen und war hinaufgefahren.

«Miller!« rief er noch zurück, »Miller, wenn a Bestellung kommt, sag'n S', gleich bin ich wieder da.«

Und dann saß ich neben den Tonnen mit einem zerknitterten Herzen. Nein, alles was recht war: vor sechs Wochen hatte ich noch mit Logarithmen gerechnet, vor sechs Wochen hatte ich noch ein Conto terzo mit Pfund und Sterling, Schilling und Pence glänzend gelöst – und jetzt sollte ich Heringe . . .? Wenn das meine ehemaligen Professoren wüßten! Fast hätte ich geweint vor Zorn und Schmerz. Aber ich biß die Zähne zusammen.

Da klirrte der Aufzug. Der Bichlsberger kam wieder. Aber noch ein zweiter Mann stieg aus. War das nicht Herr Mathis?

20 Ja, das war er. Er grüßte freundlich aber stumm. Stumm ging er in die hintere Kellerecke, wo die Garderobe war. Stumm kam er mit abgelegtem Rock und einer Lederschürze wieder in die Helle. Stumm kniete er sich nieder an den Tonnen, und stumm packte er, zusammen mit dem Bichlsberger, die Fische kunstgerecht von einem Faß ins andere.

Ich weiß nicht, ob es eine Viertelstunde dauerte, ob eine ganze Stunde, ob noch länger. Ich weiß nur, daß ich auch stumm dabeistand, und daß langsam eine weißbrennende Scham in mir aufstieg und eine neue Erkenntnis von der Tüchtigkeit handwerklicher Arbeit und der Windhundigkeit allerlei Einbildungen.

Und dann hatte der Herr Mathis aufgehört und zu dem Kellermeister gesagt:

»So, Herr Bichlsberger, das war eine wahre Wohltat nach der vielen Kopfarbeit.« Und während er sich die Hände wusch, nickte er mir noch einmal freundlich zu, der Herr Mathis und stieg mit dem Aufzug geschwind in die Höhe.

An diesem Nachmittage habe ich das Heringpacken kunstgerecht gelernt. Und sogar gepfiffen habe ich dabei. Einen Marsch haben wir zusammen gepfiffen, der Herr Bichlsberger und ich.

Und als es Abend war, und das Geschäft geschlossen wurde, habe ich noch einmal gepfiffen. Das war, als der Herr Adolf Sturmbrenner wieder neben mir hergehen wollte und sagte:

»Na, Herr Kollege, habe gehört, Sie hätten Krach gehabt mit dem Mathis – machen Sie sich nichts daraus, wenn der dolle Schwachkopf –«

»Nein«, sagte ich geschwind und scharf, »nein, ich mache mir nichts daraus. Am allerwenigsten aber mache ich mir aus Ihnen, Herr Sturmbrenner. Auf Sie pfeife ich, Sie – Sie Windhund und Sie – Sie Ignorant in der indirekten Wechselarbitrage . . .!«

 


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