Fritz Müller-Partenkirchen
Kramer & Friemann
Fritz Müller-Partenkirchen

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Theater

Ich merkte bald, der Spreißler vom Zigarrenlager suchte meine Freundschaft. Darauf war ich stolz als Lehrling. Denn ich hatte erst ein Taschengeld, und er verdiente schon ganz hübsch.

Der Spreißler wußte täglich, was »gegeben« wurde. »Heute gibt's den ›Tell‹«, sagte er. – »O je«, sagte ich. Er sah mich strafend an: »Warum ›O je‹!« – »Weil wir ihn ein halbes Jahr lang in der Schule hatten.« – »Sei froh.« – »Ja, daß sich's ausgetellt hat jetzt.« – »Schäm' dich – ich hab' in der Volksschule niemals Tell lesen dürfen.« – »Sei froh, wir haben sieben Tellaufsätze machen müssen.« – »Tellaufsätze? Tell spielt man oder liest man, aber einen Aufsatz kann man doch aus Tell nicht –«

Da verstand ich freilich, daß er sich noch für Tell begeistern konnte. Daß er ihn auswendig lernte, während er im Lager räumte. Daß er ihn aufsagte, während er die Lagerlisten schrieb. Daß er einmal schüchtern fragte, ob ich 123 Sonntagvormittag ins Lager kommen wolle. Wenn niemand da sei, lege sich's am besten los.

Den Teufel auch, wie hat er mit der Geßlerszene losgelegt! Wie alte Geßlerhüte wackelten die Zedernkistchen. Ein halbes Dutzend focht er mit den Armen vom Gestell herab. Sie klatschten mit einem Riesenbeifall auf den Boden. Ich klatschte ehrlich mit: »Spreißler«, sagte ich, wie man so sagt, »du hättest Schauspieler werden sollen.«

»Hättest?« glühte er, »das will ich ja!«

Jetzt kriegte ich die großen Augen: »Aber Spreißler, bei Kramer & Friemann –«

»– wohnt die Freiheit nicht und wird kein Tell gegeben – weiß ich – weiß ich – darum will ich fort!«

»Fort? wohin?«

»Aufs Theater.«

»Aber muß man da nicht mehr –?«

»Ich kann die ›Jungfrau, ich kann die ›Stuart‹, ich kann den ›Egmont‹, den ›Wallenstein‹, den halben ›Faust‹, das Vernünftige von Shakespeare . . .« Er sprach Shakespe-a-re. Ich hatte nicht den Mut zu korrigieren. Darauf kam es schließlich nicht an.

»Willst du mitgehn?« fragte er geradezu.

»Wie, zum Theater?«

»Nein, ich will mich prüfen lassen – da ist ein Zeuge gut, verstehst du?«

Aha: Duell, und ich soll seine Siegerschaft bezeugen.

»Ich bin bestellt«, glänzte er, »heute Nachmittag – schau her – du kennst doch Reimar Schwüloff? – inseriert alle Montag und Donnerstag: ›Aufstrebende, die sich der Bühne widmen wollen, erhalten Rat und Unterweisung‹ – er hat mir geschrieben – denk' doch: Reimar Schwüloff selbst . . .«

Schwüloff wohnte hoch und seltsam schmierig. »Künstlerlaune«, flüsterte Spreißler im Vorzimmer. Da kam Reimar Schwüloff schon hereingetigert. Uebernächtig, versoffen, dachte ich. »Wahnsinnig interessant«, flüsterte Spreißler.

Mit Napoleonsschritten drang Schwüloff ein auf Spreißler: »Weiß schon – schreiben glühend – direkt dramatisch – zweifellos begabt für Bühne – sollten Stunden nehmen – bin bereit, Ihnen ausnahmsweise –«

124 »Zunächst will mein Freund sich prüfen lassen«, fiel ich nüchtern ein.

Er schien mich jetzt erst zu bemerken: »Aha, noch einer – scheinen mir mehr ins sarkastische Fach zu schlagen, während Ihr Freund die Heldenrollen wie Wallenstein, Graf Leicester.«

»Darf ich vielleicht die Leicesterszene mit Elisabeth –?« stammelte Spreißler.

Der Uebernächtige gähnte, schaute auf die Uhr: »Na, man zu!«

Freund Spreißler zitterte. Der Uebernächtige gähnte zum zweitenmal: »Ich sollte eigentlich jetzt Stunden – Zeit kostbar – machen Sie voran!«

Spreißler machte voran. Erst noch befangen, dann mit dem Pathos vom Zigarrenlager. Weit kam er nicht. Der Uebernächtige gähnte zum drittenmal, schrie: »Famos, famos! an mein Herz, mein Künstlerherz – ich hab's gewußt: epochal – direkt epochal!« Er umarmte ihn. Spreißler zitterte vor Freude und stotterte: »Darf ich die Szene nicht zu Ende?«

»Wozu? – die Sache ist entschieden – Sie sind talentiert – riesig talentiert – epochal talentiert – Sie müssen Stunden nehmen – weil Sie's sind, sagen wir zehn Mark – ich nehm' sonst zwanzig – hier ein Formular – unterschreiben Sie mal auf ein halbes Jahr – oder gleich 'n ganzes –«

Es gab mir einen Ruck. »Mein Freund wird das Formular mitnehmen«, sagte ich, »und zu Hause in aller Ruhe seine Entscheidungen treffen.«

Er sah mich ärgerlich an: »Sie haben keinen Schwung – Sie scheinen ein Banause – nicht zwei Pfennig gebe ich für Ihre Eignung zum Theater –«

»Ich auch nicht«, sagte ich »komm Spreißler – du wirst schreiben – wir empfehlen uns, Herr Schwüloff.«

Schweigend gingen wir die Treppe hinab, schweigend die Straße entlang, schweigend durch den Park. Aber am Flußufer packte er mich am Rockknopf: »Wenn du ihn mir nur nicht verbiestert hast«, sagte er bedrückt.

»Wen?« stellte ich mich an.

125 »Den Meister.«

»Welchen Meister?«

»Reimar Schwüloff doch.«

»Der?« sagte ich mit der Klargesichtigkeit des Freundes, »der ist kein Meister.«

»Was denn?« sagte er sauer.

»Ein Schwindler zu zehn Mark die Stunde.«

Er brauste auf. Er schrie mich an: »Du zerstörst mir meine Zukunft, du gönnst mir nicht, daß ich berühmt –!«

»Spreißler«, sagte ich, und sah ihm herzlich in die geröteten Augen, »ich gönn' dir alles, nur nicht, daß du dem versoffenen Kerl in die Klauen kommst, hast du nicht gesehen, Mensch, wie . . .« Eindringlich sprach ich auf ihn ein. Umsonst. Er schrie, er focht mit den Armen in den trüben Herbsttag, er stellte sich an einen kleinen Wasserwirbel des Flusses, er deklamierte: »Ich Unglückseliger, mir bleibt nur noch –«

Theater, dachte ich, Theater. Aber leid tat er mir doch, schrecklich leid.

»Spreißler, schau', ich will's wieder gutmachen.«

»Schlange, mir aus dem Angesicht!« schauspielerte er weiter, daß ein Angler am andern Ufer die Faust ballte: »Spinnete Tröpf', vertreibts mir alle Fisch, damische Komödiedeppen!«

Wieder schweigend wanderten wir parkquer. Der Nebel war so dicht geworden, daß wir den Weg verloren. Spreißler stieß mit der Stiefelspitze an eine Blechbüchse. Sie schepperte. Der Deckel sprang ab. Sie war hohl. Auf dem Deckel stand: »Prima Wallenstein Schuhwichse«.

»Du, Spreißler«, sagte ich, »warum willst du eigentlich aufs Theater?«

»Weil ich muß.«

»Und warum mußt du?«

»Weil ein innerer Drang mich in jene lichten Höhen treibt, wo –«

Ich unterbrach ihn mit einem zweiten Hellgesicht an diesem Tag – was kein Verdienst war, sondern eine Wallung.

»Drang in lichte Höhen, Spreißler?, ist's denn ein dunkles Loch bei Kramer & Friemann?«

126 »Nein, ich weiß, ich habe einen schönen Posten, aber –«, und wie donnerte er sich auf, »ich habe einen verfehlten Beruf und keine Menschenseele, die mir Klarheit schafft in – in –«

»– lichte Höhen, weiß schon. Aber was die Klarheit anlangt, Spreißler, die könnt' ich dir verschaffen.«

»Du – du –?«

»Ich Banause, meinst du, weiß schon. Mein Onkel Cäsar war ein Schulkamerad von Strasser.«

»Strasser? Walter Strasser« sprach er den Namen ehrfürchtig nach.

»Nein, dessen Vater. Mit einer Visitenkarte Onkel Cäsars aber wenn wir ausgerüstet sind, wird's der Sohn dir sagen.«

»Was?«

»Ob du den Beruf verfehlt hast. Und was Walter Strasser sagt, das wirst du wohl doch glauben?«

»Strasser, Walter Strasser . . .« wiederholte er verzückt.

Das war im Herbst am späten Abend. Am nächsten Tage schneite es. Als ich am Zigarrenlager vorüber ging, schmiß er eine Kistchensäule um: »Mensch, komm doch herein – hast du sie?«

»Da hätt' ich ihn um Mitternacht besuchen müssen. Aber nächsten Sonntag kann ich –«

»Ui, eine volle Woche.«

»Dafür darfst du mitkommen, willst du?«

»Ist dein Onkel der Berühmte, von dem die Leute sagen, daß er Anno achtundvierzig bis an die Knöchel im – im Fürstenblut gewatet hat?«

»Waten hatte wollen.«

»Er ist also nicht gewatet? Schade.«

»Warum?«

»Nun, ich denke mir das ungeheuer eindrucksvoll auf der Bühne.«

»Im Leben auch, nur daß da weniger das Publikum als er selbst den Eindruck gekriegt hätte.«

»Wieso, was für einen –?«

»Hinten am Hals, beim Köpfen, mein' ich.« Am nächsten Sonntag standen wir feierlich vor des alten Demokraten Wohnung. Die Haushälterin blinzelte 127 mißtrauisch: »Nix da, der gnä' Herr kriegt kei' Luft!« Damit waren wir wieder an der Luft, die er nicht kriegen konnte.

Dann in vierzehn Tagen: »Nix da, kriegt immer noch kei' Luft!« So ging es noch ein paarmal. Schließlich kriegte auch der Spreißler keine mehr. Heftig schnaufend und die Arme werfend, lief er hochdramatisch durchs Zigarrenlager: »Ich Unglückseliger! wenn dein Onkel vorher stürbe!«

Knapp vor Weihnachten versuchten wir es noch einmal. Die Haushälterin schien milder: »Es geht ihm etwas besser.«

Spreißler drehte seinen Hut: »Es handelt sich um meine Zukunft, bitte«, sagte er flehend. Da ließ sie uns ein. Sie selber müsse etwas holen, sagte sie.

Hochgeschichtet lagen die Kissen. Darauf sein alter Freiheitskopf. »Onkel, wie geht's?« Er antwortete nicht. Pfeifend gingen seine Atemzüge. Aber still und klar im Windsturm lag sein Auge, wie ein tiefgebetteter Bergsee, über den hoch der Wilde Jäger braust. Das Alterskindische der letzten Jahre war verweht, das Kindliche geblieben. So mag er achtundvierzig ausgesehen haben, als die Barrikaden wuchsen.

»Onkel, mein Freund Spreißler will sich prüfen lassen.«

Er sagte wieder nichts. Er lächelte. Vielleicht, daß er gedacht: »Prüfen lassen? Dazu fragt das Leben nicht erst um Erlaubnis.«

»Zum Theater will er nämlich, Onkel.« Er lächelte wieder. Vielleicht hat er gedacht: »Da ist er schon: die ganze Welt ist ein Theater, ich muß das wissen – auf die Seite, Kinder, den eisernen Vorhang lassen sie für mich herunter – ihr könnt noch eine Weile draußen weiterspielen.«

»Und da du den Vater des großen Schauspielers Walter Strasser kanntest –«

»Strasser?«, murmelte er, »Strasser?« – ja ja, der Strasser war es, der – der –« Er kam nicht weiter. Qualvoll pfiff die Luft. Auf einmal wurde es ihm seltsam leicht. Der Wilde Jäger jagte übern letzten Hochgebirgskamm. Auch in der Höhe überm Bergsee ward es still und heiter. Ein Schalk umrandete das alte Freiheitsauge. Sonderbar klar erklang's im dumpfen Raum: »Ja, das war der Strasser, der dem Lateinprofessor das Juckpulver in die Tabaksdose mischte – so so, bei dem will er sich prüfen –«

128 »Nein, Onkel, bei seinem Sohn, der –«

»Sohn? haha, fragt ihn doch mal, ob er auch Juckpulver –?« Ein neuer Wilder Jäger stürmte übern Kamm. Er fiel senkrecht auf den Bergsee. Wirr ward sein Auge. Schrecklich warf es seinen Körper. Unsern jungen Seelen wurde es so ängstlich. Wir küßten seine Hand. Auf den Zehenspitzen schlichen wir hinaus. Unschlüssig standen wir im Gang.

»Du«, sagte Spreißler, »bist du böse, wenn ich's sage?«

»Was denn?«

»Wir – wir haben die Visitenkarte vergessen – es lagen welche auf dem Schreibtisch.«

Ich horchte. Es war ganz still drin geworden. »Ich – traue mich nicht mehr hinein«, sagte ich beklommen.

»Dann – dann gehe ich, wenn – wenn du glaubst, daß er es nicht übelnimmt.«

Er schlüpfte hinein. Er kam bleich heraus. So weiß, wie die Karte in seiner Hand. Er brachte kein Wort hervor.

»Spreißler«, sagte ich mechanisch, »hat er – hat er's übelge–?«

»Ich – ich glaube nicht.«

Einen Tag vor Weihnachten, wieder an einem Schneesonntag war es, da haben sie den alten Freiheitskämpfer begraben. Spreißler war auch dabei. Auf dem Heimweg öffnete er zögernd die Brieftasche. Die weiße Karte klappte auf. »Gehst du mit?« sagte er schüchtern und doch flehentlich. Von einem Fuß trat er verlegen auf den andern, daß die Schuhe schmutzig wurden. Es juckte mich, aufzudonnern: »Schäme dich – am Begräbnistage meines Onkels – einen Tag vor Weihnachten wagst du . . .!« Aber da mußte ich niesen. Und beim Niesen fiel mir ein: »Ja, das war der Strasser, haha, der dem Lateinprofessor das Juckpulver in die Tabaksdose mischte, haha.« Nein, wenn mein Onkel, der Freiheitsheld, beim Sterben nicht mal feierlich-moralisch wurde, brauchte ich, sein Neffe, es nach seinem Tod erst recht nicht.

»Gut, ich gehe mit. Aber wir müssen damit rechnen, Spreißler, daß er uns hinauswirft – denk' doch: heute Abend ist Weihnachtsabend –«

»Jaja, aber wo sich's doch um meine Zukunft handelt –«

129 »Um deine, Spreißler, nicht um seine.«

»Und dann haben wir doch die Karte, komm nur, komm geschwind.«

Dennoch gingen wir in einem Bogen durch den Park in die Wohnung des großen Tragöden. »Wie stellst du ihn dir eigentlich privat vor?« fragte Spreißler.

»Ich weiß nicht. Du?«

»Wie den Mann am Grab deines Onkels, der im Namen des Vereins die Rede hielt. Was der für eine Stimme hatte! Und sahst du, wie er seine Arme warf –«

»Ja ja, epochal, würde Reimar Schwüloff sagen.«

Er hörte gar nicht. »Wie kläglich wenig und wie schwunglos dagegen der Mann im grauen Ueberzieher sprach – wer war der eigentlich?«

»Weiß nicht – bscht, da vor uns geht er – wie komisch – Nummer 47 – geht ins gleiche Haus – er wird doch nicht –«

Der unscheinbare Graue betrachtete uns freundlich: »Nun, wohin?«

»Zu Herrn Strasser, dem berühmten –«

»Na na, berühmt?« meinte er geringschätzig.

»Erlauben Sie«, donnerte Spreißler, »Sie könnten froh sein, wenn Sie so berühmt –«

»Na schön, da will ich also froh sein – und was wollt ihr nun von mir?«

Unsere Antwort mußte wohl nicht gar zu klar gelautet haben. »Schön«, sagte er lächelnd, »das erklärt ihr mir dann nach den Feiertagen –«

Aber da zückten wir die Karte. »Hm«, meinte er ernst, »wenn dieser Tote euch empfiehlt – darf ich bitten.«

Wir stotterten, wir stolperten, wir drehten Phrasen, wir saßen in seinem hohen Arbeitszimmer. »Na, was also?« unterbrach er uns, »den Wallenstein, den Tell, den ?«

»Den Leicester«, sagte Spreißler, »wenn ich bitten dürfte.«

Er durfte. Ich flüsterte ihm zu: »Leise, Spreißler, leise.« Aber er sah mich vernichtend an. Etwa so: »Ha, du willst mich in der Wendestunde meines Lebens hereinlegen – nein, das soll dir nicht gelingen.«

Er legte los, zigarrenlagermäßig legte er los. Einen 130 Leicester legte er hin, mit Tönen: armdick. Und bevor es ihn rollengemäß vor Bewegung umriß, brüllte er wie ein Stier. Und dann schlug er hin. Prachtvoll schlug er hin. Regungslos lag er auf dem Teppich. Regungslos saß auch der berühmte Mime. Auch ich hielt mich für verpflichtet, den Atem anzuhalten.

So saßen wir und lagen wir, und die Zeit verging. Ich höre den Perpendikel heute noch gehen, ganz ruhig, ganz gleichmäßig, derweil Spreißler auf dem roten Teppich lag und wartete.

Worauf er wartete? Ei, auf das Urteil. Nein, zunächst darauf, daß der Berühmte sagen würde: »Darf ich Ihnen helfen, mein Herr?« Denn von selber konnte er nach dieser gewaltigen Szene nicht gut aufstehen. Es wäre nett gewesen, wenn der Berühmte ihm dazu geholfen hätte. Oder doch wenigstens »Stehen Sie auf, mein Herr«, mußte er sagen.

Aber er sagte nichts. Ticktack, ticktack machte das große kühle Pendel. Ganz eisig strömte es von ihm herüber. Ticktack, ticktack, die Zeit verrann.

»Um Gotteswillen«, dachte Spreißler auf dem Teppich, »einmal muß er doch was sagen.«

Ticktack, ticktack, die Zeit verrann.

»Herr im Himmel«, dachte Spreißler, »er wird doch nicht meinen, ich hätte naturwahr gespielt, daß mich der Schlag gerührt hat?«

Ticktack, ticktack, die Zeit verrann.

Der Schweiß brach dem Spreißler aus. »Dann helpt dat nicht«, dachte ich, »ich bin nun einmal sein Freund –«

»Herr Strasser«, sagte ich in die Eiseskälte, »würden Sie vielleicht erlauben, daß mein Freund jetzt aufsteht?«

Er schien aus einem Traum aufzufahren: »Freilich, freilich«, sagte er freundlich, »ich muß rein ein wenig gedöst haben – ich habe über eine Statistik nachdenken müssen, meine Herren, über eine seltsame Statistik – übrigens, was tun Sie auf dem Boden – ist Ihnen etwas zugestoßen, Herr Spreißler?«

Dem armen Spreißler wankten die Knie. Auf ein Haar wäre er wieder hingeschlagen. Diesmal stumm und echt.

Ticktack, ticktack, machte das Pendel. Es wurde wieder furchtbar still.

131 »Statistik, Herr Strasser?« sagte ich mechanisch.

»Ja, denken Sie: In Deutschland wollen jährlich, gering gerechnet, hundertfünfzigtausend Menschen aufs Theater. Tausend davon, hochgerechnet, kommen drauf. Neunhundert davon, gering gerechnet, gehen unter, schlammig, nicht pompös. Von den hundert haben fünfzig Talent. Dreißig von den fünfzig zerbrüllen sich das Talent, ja ja, zerbrüllen. Bleiben zwanzig. Davon sterben fünfzehn, ehe sie sich durch ein Riesental der Arbeit bis zur Quelle durchgekämpft, aus der Genie fließt. Fünf trinken draus – von hundertfünfzigtausend jährlich fünfe, hoch, sehr hoch gerechnet, meine Herren – ja so, was mich betrifft? – ich gehöre nicht zu diesen fünfen – noch nicht –vielleicht mal später – man weiß das nie – es ist eine Gnade . . . ach so, noch eines. Herr Spreißler: Sie haben Ideale – Sie haben entschieden Ideale – das ist schön – und noch schöner ist es, wenn sie einem nicht zertrümmert werden vom Theater – denn das werden sie, Herr Spreißler, unerbittlich – und dann haben Sie auch einen Beruf, einen geachteten Beruf – das ist am schönsten – übrigens, haben Sie schon mal darüber nachgedacht, meine Herren, daß es verfehlte Berufe eigentlich gar nicht gibt, weil – je nun, weil ein tüchtiger Kerl mindestens zu achtundvierzig Berufen tauglich ist – nein, nein, nicht von mir, die Weisheit – die habe ich von meinem Vater – und der hat's von einem andern Achtundvierziger – einem echten Achtundvierziger – ja, den wir heute begraben haben . . . Ja so, noch eines, Herr Spreißler: freute mich, wenn Sie mir mal bestätigen würden, daß – daß Sie heute nicht umsonst auf meinem Teppich lagen, sondern – na ja, wir werden es ja sehen in – in, sagen wir mal, zwanzig Jahren, hoch gegriffen . . .«

Wir haben's noch gesehen. Schon nach gar nicht vielen Jahren. Und bestätigt hat er's ihm auch, der Spreißler, dem Strasser. Denn es ist noch gar nicht lange her, daß ein alter Schauspieler zu seinem Jubiläum eine Zigarrenschachtel kriegte. Und in der Schachtel war das Modell eines reizenden Alpenhäuschens im Gebirge. Und das Original dazu, richtig, ja, von dem hat's in dem Brief geheißen, daß es einer von den fünfen als Altersruheangebinde annehmen möchte 132 von – und das setze ich hier am besten wörtlich her – »von einem unter hundertfünfzigtausend und nebstbei bayerischem Kommerzienrat.«

 


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