Fritz Müller-Partenkirchen
Kramer & Friemann
Fritz Müller-Partenkirchen

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Zwei Kollegs

»Nein«, sagte der Arzt zu mir, »heute gehen Sie noch nicht ins Geschäft. Heute erholen Sie sich noch. Kramer & Friemann werden auch mal ohne Lehrling auskommen. Oder 200 glauben Sie, es ginge ohne Sie dort drüber und drunter, he?« Noch ein freundlicher Klapps: »Na, hopp, aufstehn, anziehn, bummeln – Sie wissen doch, was richtig bummeln heißt?«

»Ja, mein Schulkamerad Kaffel, der jetzige Student –«

»Ach was, Kaffel – Sie sollen kaffeln, und er soll mal 'n bißchen müllern. Auch Nerven muß man tauschen dann und wann. Ich kenne Ihren Kaffel nicht. Wette aber, daß die Kaffelnerven aufgeschwemmt sind, während die Ihrigen – na, vergnügten Bummeltag – ich schreibe ins Geschäft, Sie kämen – sagen wir mal, übermorgen.«

Der Herbsttag räkelte sich in den stillen Straßen. Blattgold klingelte leise in den Bäumen. Auf einem freien Platze lag ein Bronzelöwe, ein verschlafner. Aber stählern strammten sich die Muskeln trotzdem. Aus seinen halbgeschlossenen Augen blinzelte: »Ich könnte, wenn ich wollte.« So wie ihm, war mir, dem Auferstandenen: »Oh, ich könnte, wenn ich wollte.« Aber ich sollte ja nicht wollen. Bummeln sollte ich.

Wie macht man das nur, bummeln? Am Ende einer straffen Lehrzeit hat man das vergessen. Ich dachte immer, bummeln lerne sich von selbst. Das ist nicht wahr. Es ist eine Kunst, und keine kleine. »Bummeln will ich, bummeln, bummeln«, plärrte ich halblaut vor mich hin, als ich eilig durch den Stadtpark rannte, »bummeln, bummeln, zum Donnerwetter, bummeln will ich.« Meine Hände in den Hosentaschen ballten sich, zum Bummeln tatbereit. Ich fing langsam an zu schwitzen, vor lauter Bummelei.

»He, der Müller – na, drückste heut' nicht den Kontorstuhl?«

Der Kaffel war es. Der begnadete Kaffel, der weiter hat studieren dürfen. Der an meiner Seite im Einjährigenexamen gesessen. Der, behufs Abschriebs der »verdammten Algebra«, seinen Kopf im Wirbel hatte drehen können, damals, wie ich heute den Kontorstuhl. Der mich jahrelang nachher auf Platz und Straße immer gleich begrüßt hat:

»Mensch, mit deinen Einsern, warum haste eigentlich nicht studiert, he?«

»Weil ich«, setzte ich mit der Wahrheit ein, stockte mit der falschen Scham und fuhr mit der Lüge fort: »Mein Onkel 201 sagt, die Anstellungsaussichten seien schlecht, ein paar Jahre Praxis eingeschaltet, könnten gar nicht schaden, sagt er.«

»Ne, mein Junge«, sagte er dann immer gönnerhaft, »mich hättest du nur halb mit Dütendrehen. Da sitzt sich's anders zu den Füßen hoher Wissenschaften.« Hoch ging seine Nase. Er schnüffelte verächtlich. Ich hatte vorher den Bestand im Heringskeller aufgenommen. Das kam ihm in die Nase. Seine Mienen sagten's. Er platzte grob heraus: »Sag' mal, zum Studieren hat wohl das bei dir gefehlt?« Er rieb den Daumen an den andern Fingern. Ich wurde heißrot. »Dummes Zeug«, sagte ich, »meine Onkel haben Geld wie Heu. Aber der Familienrat hat's mal beschlossen. Später hol' ich das gelehrte Zeug mal alles spielend nach.« – »Na, höre, ganz so einfach sind die Kollegs doch nicht.« – »Nun, was du bewältigst, hol' ich mir im Schlaf. Erinnere dich gefälligst: In der Algebra wärst du ohne mich glatt durchgefallen.« – »Es ist nicht schön von dir, mir das jetzt einzureiben.« – »Reibst du mir das Geld hin, reib' ich dir die Grütze hin.« – »Komm, wir wollen wieder gut sein, ich erzähl' dir auch was feines von unsrer neuen Verbindung Hermandura . . .«

So endete das immer. Diesmal ging es anders. Als er hörte, daß ich heute frei sei, sagte er: »Famos, da gehste mit zu Benz. Wirtschaftslehrer. Was für dich. Wie, nicht eingeschrieben? Macht nichts, wird geschunden, links herum, dann geradeaus, marsch!«

Ich ließ mich schleppen. Ehrfürchtig ging ich durch die hohen Hallen, geduckt und ängstlich, sie könnten es mir ansehn, daß ich nicht hierhergehöre. Er lotste mich in eine Bank. Studenten lärmten, stiegen über Bänke, lachten dröhnend, wirbelten Staub auf. Auf einmal Ruhe. Ein goldbebrillter Mann stand hinterm Pult und redete. Ich war so verwirrt, daß ich den Sinn nicht faßte. Immer dachte ich im Kreise: »Ich säße heute rechtens hier, wenn der Familientag das bißchen Geld bewilligt hätte.« Das Herz krampfte sich. Die harte Lehrlingsarbeit wurde sprunglebendig. Demütigungen hoben die Ringelköpfe. Heringsfässer rollten. Jemand schrie: »Müller, he die Lagerzettel!« – »Bedaure, sitz' zu Füßen hoher Wissenschaften. Ruhe, daß ich Benz verstehe –«

Jetzt erst fand ich Anschluß an den Vortrag. Der war 202 meisterhaft. Glasklar baute sich der Umriß der verschiedenen Wirtschaftslehren. Der Merkantilismus zog vorüber, die Physiokraten, die Smithianer, die Historiker, die Sozialisten. »Aber alle die Systeme«, faßte Benz zusammen, »zeigten irgendwo ein Loch, wo Wasser 'rausrann. Das macht, in ihrer Güterlehre gähnt ein unsichtbarer Spalt. Darinnen klopft die Seele. Die regiert die ökonomischen Gesetze. Nicht das Gut regiert. Das Gut gehorcht. Es ist ein Unfug, toten Säcken Reis und Kaffee, Korn und Zucker unser Weltgeschehen aufzuladen. Den Ausschlag gibt die Geistigkeit, die reine Geistigkeit. Ein System der Seele müßte, fern von allen Heringsfässern, aufgemauert werden. Von ihm betrachtet, lösten sich die Wirtschaftswidersprüche . . .«

Da saß ich in der Bank und glühte. Die alte Lust des Studiums regte sich und schäumte auf wie junger Wein. Jäh brannten mich die Kaufmannsjahre als verloren. Dämon Arbeit drückt mich an hochgetürmte Säcke. Ich hatte das Gefühl, als ginge langsam Sacknaht auf um Sacknaht. Kaffeebohnen rannen, Zucker rieselte und Pfeffer stäubte. Kaffee, Zucker, Pfeffer wuchsen um mich auf zu Kegeln, höher, immer höher. Jetzt ließ mich Dämon Arbeit los. Höhnisch rief er: »Lauf!« Ich wollte laufen. Es ging nicht. Die Warenhügel sperrten mir den Weg. Ueber Kaffee stolperte ich. Zucker stopfte mir den Mund. Pfeffer drang mir in die Nase. Mühsam richtete ich mich auf. Die rinnenden Haufen griffen höher. Sie gingen mir zum Hals. Aus meinem Halse schlug durch den Mund mir eine Flamme: die Geistigkeit, die reine Geistigkeit. Sie leckte noch an Säcken, hinaus, hinaus! Da platzten breitmäulig alle Nähte. Es regnete Kaffee, Pfeffer, Zucker. Prasselnd schlug's die Flamme nieder. Die Geistigkeit erstickte. Ich mit ihr. Schon war der Kopf bedeckt. Nur die Arme griffen noch ein letztes Mal heraus, sehnsüchtig –

»Mensch«, tuschelte es neben mir, »warum streckst du deine Hände gegen das Katheder, du blamierst dich ja.«

»Zusammenfassend kann man sagen«, dozierte es vom Pult ins Läuten auf dem Gange, »daß die reinen Geistigkeiten über alle andern Güter siegen müssen, wenn wir menschenwürdig nicht nur weiter – sondern höherleben wollen.«

Beifallsgetrampel. Staub wirbelte auf. Ich mußte niesen.

203 »Der verdammte Pfeffer!« dachte ich mechanisch. Stumm, in einer Wolke ging ich aus dem Hörsaal.

»Na, was sagst du zu unsrem Benz?«

»Prachtvoll sprach er. Ich wollte – wollte –«

»Das erzählst du mir ein andermal, nicht wahr – ich muß jetzt eilen in die Morgenkneipe – hast leider nicht Couleur, sonst nähme ich dich mit. Was sagst du, noch eine Vorlesung? Hm, dort drüben liest jetzt der alte Rimm. Soll früher gut gelesen haben. Ist jetzt fast erblindet, glaub' ich. Aber immer noch ein rechter Knoten. Man sagt, es fehle ihm die reine Geistigkeit. Wenn du aber Zeit hast – sie strömen schon hinein – geh nur einfach mit . . .«

Wieder saß ich in der Bank und hörte. Ein alter Mann hatte sich mit sanfter Hilfe des Pedells zum Pult hinaufgetappt. Verrunzelt das Gesicht. Seltsam jugendlich durchschnitten von einem strengen Schnauzbart. Richtlinien der Weltgeschichte, hieß sein Kolleg. Der große Hörsaal war überfüllt. Studenten aller Fakultäten drängten sich. Ergraute Köpfe ragten ruhig im Gewimmel, Männer, Frauen. Mancher stahl sich diese Stunde vom Beruf. Es war bekannt, daß viele ohne Karte hörten. Schinden, hieß das die Studentensprache.

Als der Alte auf dem Pult stand, gab es hinten Lärm. Einer der Studenten hatte sich erlaubt, einen Köter ins Kolleg zu nehmen. Professor Rimm erhob die erloschenen Augen: »Was ist dahinten?« – »Der Hund muß hinaus!« – »Ach, lassen Sie, auf einen mehr oder weniger, der meine Kollegien schindet, kommt's nicht an!« Alle lachten, nur Professor Rimm nicht. Er wartete wie einer, der über allen Heiterkeiten und Traurigkeiten dieser Welt stand – »Zur Sache, meine Herren . . .«

Die Sache war eine Kritik der üblichen historischen Betrachtungsweise. Er nahm Bezug auf Stunden vorher. Nur einen weiteren Ausschnitt füge er jetzt an. Von Königen und lauten Schlachten wisse die Geschichte zu erzählen. Nichts von den stillen Schlachten der Kontore, Warenkeller, Wechselstuben. Dort seien der Geschichte Würfel hingerollt, nicht in der Fürsten Marmorzimmer. Die Fürsten und der Fürsten Heere seien nur Vollzugsorgane. Langsam steige heute 204 Kaufmanns Herrschgewalt aus der Versenkung, allmählich sichtbar auch den blöden Augen. Seine eigentliche Bedeutung aber sei noch immer nicht genug erkannt. Noch immer sähe man nicht, wer es ist, der an des Weltgeschehens Tore klopft. Man vernehme nur den Widerhall, wenn die Politik das Klopfen auffängt. Der Kaufmann sei es, der mit Mosesstäben an der Erde Felsen schlage, daß es silbern anfängt, überall zu rieseln. Danach kämen erst die Geistigen, um die Becher hinzuhalten und sich einzureden, sie seien die Erschließer. Die reine Geistigkeit erschließe niemals, sie sammle nur und netze. Führer, Felsensprenger seien immer jene Wagemutigen gewesen, die den Sprung ins Ungewisse wagten. Das nämlich sei des Kaufmanns innerste Essenz: Alle Arten Ungewißheit an den Hörnern anzupacken und sie zur Gewißheit zu gestalten und zu zähmen. Freilich sei es tragisch anzusehn, wie der und jener im erreichten Ziel erstarre, im zufriedenen Genuß zum Pfeffersack aufschwelle. Aber neue Jungmannscharen stießen nach, und alle erschauerten vom Rieseln unerschlossener Möglichkeiten: Drauf und dran, wir wollen's wagen!

So sprach Professor Rimm. Wie anders drang dies Zeichen auf mich ein. Ungläubig erst lauschte ich dem hohen Lied des Kaufmanns: Das hab' ich nicht gewußt, daß man's auch so betrachten kann.

Weiter strömte es vom Pult: Hüten aber sollten wir uns vor der Lockung reiner Geistigkeit. Inzucht sei das. Geist mit Geist ergäbe auf die Dauer Krüppelkinder. Wenn die überschürften Nerven locker ließen, wenn es dumpfig rieche in Gelehrtenstuben, heraus in die Kontore und Hammerstätten. Hart auf hart müsse man die Dinge dieser Erde aufeinanderprallen sehen, um die ermüdeten Gehirnatome neuzuschmieden.

Und mit erhöhter Stimme schloß er: »Alle Gefilde der Erde und der Seele haben Dichter schon durchmessen. Das Reich des Kaufmanns und Gewerblers haben sie noch kaum gestreift. So künftige Dichter unter euch sind, in die Kontore, Märkte taucht die Feder, taucht sie in die heißen Schmiedeöfen, Erzquadern ungehobner Schätze glühen auf – greift zu, greift zu! Greift nach dem Mönche, der vor Hunderten von Jahren in der Zelle erfaßt ward vom Wunder der Doppelbuchführung. Nach diesem Instrument, das 205 Handelsflotten um die Erde ziehen ließ und den stampfenden Zug von Aktiengesellschaften. Greift nach dem Wechselinstrument, das die ersten Breschen in die starren Staatengrenzen schlug! Greift nach dem Stämpfel, der am Hochofen den Lehmpfropfen im Stichloch wegstößt, daß der flüssige Eisenstrom herausschießt, diese heiße Funkelquelle allen Fortschritts und so vielen Kummers dieser Welt . . .«

Die Glocke hatte geläutet. Der Vortrag war zu Ende. Der Saal war leer. Die Studenten gingen heim. Ich saß noch immer da zu Füßen eines stillen Pultes, von welchem ein Gewaltiger gepredigt hatte.

Mir war, als sei ich mit dem Kopfe durch Kaffee, Zucker, Pfeffer, wieder in die freie Luft gestoßen. Als setzten sich die Waren wieder rückwärts in Bewegung. Kaffee, Zucker, Pfeffer rieselten nach oben, schlüpften durch die Nähte in die Säcke. Die Nähte schlossen sich, die Säcke wurden wieder prall. Sie schauten unverwandt auf mich, als sagten sie: »Kommandiere!« – »Links um!« kommandierte ich. Sie drehten sich in Reihen stramm nach links. – »Gerade aus, marsch!« Sie marschierten. – »Halt!« Sie machten Halt. – »Aufgepaßt, jetzt wollen wir –«

»Ja, unser Herr Professor Rimm, das ist halt einer«, rappelte der Pedell mir mit dem Schlüsselbunde um die Ohren, »aus dem machen 's anderswo ein Dutzend, und es fall'n noch anderthalbe ab als Knochenbeiwag' – so jetzt muß ich zusperr'n – schad, daß er blind ist, schad' . . .«

Gesenkten Kopfes ging ich heim: Schad, daß er blind ist – blind? es wäre nicht zum erstenmal gewesen, daß ein Blinder einen andern Blinden sehend machte . . .

Professor Rimm, du bist schon lange tot. Neulich habe ich dein Grab gefunden. Es war ganz bescheiden. Daneben war ein imposantes. Seine Inschrift sprach vom »größten Augenarzt der Stadt«. Der Inschriftmeißler muß sich wohl im Stein vergriffen haben: Der die meisten Stare stach, der lag daneben unterm kleinen Steine. Ich selbst war sein Patient. Wenn auch nur ein eingeschmuggelter, ein schwarzer, wie ein anderer armer Teufel hinten, der wie Pontius in das Credo kam: »Lassen Sie, auf einen mehr oder weniger kommt's nicht an . . .« 206

 


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